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BVerfG 14.11.2018 - 1 BvR 433/16
BVerfG 14.11.2018 - 1 BvR 433/16 - Nichtannahmebeschluss: Zum Anspruch einer Prozesspartei auf ein faires Verfahren (Art 2 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 3 GG) bzw zum Willkürverbot (Art 3 Abs 1 GG) im Falle der Wiedereinsetzung der Gegenpartei in den vorigen Stand nach Versäumung einer Rechtsmitteleinlegungsfrist im sozialgerichtlichen Verfahren - Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten nicht hinreichend dargelegt
Normen
Art 2 Abs 1 GG, Art 3 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 92 BVerfGG, § 67 Abs 2 S 4 SGG, § 151 Abs 1 SGG
Vorinstanz
vorgehend BSG, 7. Januar 2016, Az: B 2 U 187/15 B, Beschluss
vorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, 18. März 2015, Az: L 3 U 231/10, Urteil
Tenor
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Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe
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I.
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Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Anerkennung von Unfallfolgen in der gesetzlichen Unfallversicherung.
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1. Der Beschwerdeführer zog sich am 10. Mai 2006 im Rahmen einer versicherten Tätigkeit Verletzungen an beiden Radien zu. Sechs Wochen später, am 20. Juni 2006, stürzte er im privaten Umfeld erneut mit gravierenden Folgen für den rechten Arm und die rechte Hand, nämlich einer verschobenen distalen Radiusfraktur mit Gelenkflächenbeteiligung.
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Die im Ausgangsverfahren beklagte Berufsgenossenschaft H. (im Folgenden: Beklagte) erkannte das Geschehen vom 10. Mai 2006 als Arbeitsunfall an, lehnte jedoch - ärztlich beraten - die Anerkennung der durch den erneuten Sturz am 20. Juni 2006 verursachten Schädigungen an der rechten Hand als Unfallfolgen ab. Demgegenüber ging das Sozialgericht im nachfolgenden Klageverfahren nach Einholung eines Gutachtens davon aus, dass der Arbeitsunfall mittelbar auch für die Auswirkungen des zweiten Sturzes ursächlich geworden sei und verurteilte die Beklagte entsprechend.
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Gegen das am 29. September 2010 zugestellte Urteil des Sozialgerichts legte die Beklagte mit Eingang am 11. Oktober 2010 Berufung ein, wobei das entsprechende Schreiben nicht unterschrieben, sondern nur mit einem Stempel "gez. [Name]" versehen war. Unter dem 23. November 2010 begründete sie die Berufung mit einem unterschriebenen und auf die Berufungsschrift ausdrücklich Bezug nehmenden Schriftsatz. Im Berufungsverfahren holte das Landessozialgericht sodann ein weiteres Gutachten ein, wobei der Sachverständige zu dem Ergebnis gelangte, die Folgen des zweiten Sturzes seien als vom ersten Sturz unabhängig zu bewerten. Dem folgte das Landessozialgericht und wies die Klage unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils ab. Hinsichtlich der versäumten Berufungsfrist sei der Beklagten von Amts wegen auf der Grundlage von § 67 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, da das Gericht es versäumt habe, rechtzeitig auf die fehlende Unterschrift hinzuweisen. Dabei sah das Landessozialgericht den Schriftsatz zur Berufungsbegründung als konkludente Nachholung einer formwirksamen Berufung an.
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Die vom Beschwerdeführer eingelegte Beschwerde wegen der vom Landessozialgericht nicht zugelassenen Revision verwarf das Bundessozialgericht als unzulässig.
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2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer wegen der Entscheidung des Landessozialgerichts durch Sachurteil zu Gunsten der Beklagten - statt durch Prozessurteil zu seinen Gunsten auf Grund der nach seiner Auffassung versäumten Berufungsfrist - einen Verstoß gegen das Willkürverbot und das Recht auf ein faires Verfahren geltend. Das Bundessozialgericht und das Landessozialgericht hätten sich über jedwede Tatbestandsvoraussetzung für einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinweggesetzt, denn es sei weder ein Antrag auf Wiedereinsetzung durch die Beklagte gestellt noch die versäumte Verfahrenshandlung nachgeholt noch glaubhaft gemacht worden, dass das Versäumnis nicht verschuldet gewesen sei. Die Entscheidungen des Bundessozialgerichts und des Landessozialgerichts seien daher greifbar gesetzeswidrig und benachteiligten ihn einseitig.
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Darüber hinaus rügt er insbesondere die Nichtzulassung der Revision und die Ablehnung weiterer Sachaufklärung sowie vermeintliche Gehörsverstöße durch das Landessozialgericht als verfassungswidrig.
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II.
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Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Annahmegründe im Sinne des § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, weil der Beschwerdeführer nicht den Anforderungen aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG entsprechend substantiiert und schlüssig die Möglichkeit einer Verletzung in Grund- oder grundrechtsgleichen Rechten aufzeigt.
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1. Das gilt zunächst mit Blick auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts über die Nichtzulassungsbeschwerde: Der Beschwerdeführer beanstandet diese weitgehend mit den gleichen Argumenten, die er gegenüber der Entscheidung des Landessozialgerichts geltend macht, und übersieht dabei, dass das Bundessozialgericht keine Entscheidung in der Sache getroffen hat. Er rügt daneben zwar auch eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter und des Rechts auf effektiven Rechtsschutz, weil das Bundessozialgericht die Anforderungen an die Zulassung der Revision überspannt habe. Die Anwendung der vom Bundesverfassungsgericht hinsichtlich des Zugangs zur nächsten Instanz entwickelten Grundsätze (vgl. für viele BVerfGE 125, 104 136 f.>; 134, 106 117 f. Rn. 34>) auf den konkreten Einzelfall erfolgt aber wenig konkret. Eine über Behauptungen hinausgehende Begründung dafür, dass die Anwendung der maßgeblichen Grundsätze durch das Bundessozialgericht sich als willkürlich darstellen und das Gericht somit die Anforderungen an den Zugang zur Revisionsinstanz überspannt haben könnte, ist nicht hinreichend dargetan; ein verfassungsrechtlich relevanter Fehler bei der Anwendung der §§ 160, 160a SGG durch das Bundessozialgericht wird nicht erkennbar.
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2. Auch ein möglicher Verfassungsverstoß durch die der Beklagten gewährte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist nicht substantiiert dargelegt.
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a) Das gilt zunächst für die Rüge des Rechts auf ein faires Verfahren. Dieses ist (nur) verletzt, wenn sich unter Berücksichtigung aller Umstände und nicht zuletzt der im Rechtsstaatsprinzip selbst angelegten Gegenläufigkeiten ergibt, dass das Fachgericht rechtsstaatlich unverzichtbare (Verfahrens-)Erfordernisse nicht gewahrt hat (vgl. BVerfGE 57, 250 276>). Ein zentraler Gehalt des Rechts auf ein faires Verfahren ist dabei, dass es den Gerichten verwehrt, aus eigenen oder ihnen zurechenbaren Fehlern oder Versäumnissen Nachteile für den von diesen betroffenen Beteiligten herzuleiten (vgl. BVerfGE 78, 123 126>).
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Das Landessozialgericht hat der Beklagten Wiedereinsetzung mit Blick darauf gewährt, dass es seinerseits versäumt hatte, auf die fehlende Unterschrift unter der Berufungsschrift unverzüglich hinzuweisen. Insofern hat es durch die Gewährung von Wiedereinsetzung gerade die in dem Recht auf ein faires Verfahren angelegten Grundsätze zu verwirklichen gesucht. Wieso diese dennoch das umgekehrte Ergebnis, also die Ablehnung der Wiedereinsetzung und die Verwerfung der Berufung als unzulässig, verfassungsrechtlich hätten erzwingen können und müssen, hat der Beschwerdeführer nicht nachvollziehbar dargetan.
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b) Weiter ist auch die behauptete Verletzung des Willkürverbots durch die gewährte Wiedereinsetzung nicht hinreichend dargelegt, so dass offenbleiben kann, ob es dieser, nachdem das Schriftformerfordernis aus § 151 Abs. 1 SGG eine eigenhändige Unterschrift möglicherweise gar nicht unter allen Umständen erzwingt (vgl. Leitherer, in: Meyer-Ladewig u.a., SGG, 12. Aufl. 2017, § 151 Rn. 3a m.w.N.), überhaupt bedurfte.
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Ungeachtet der in Teilen unzureichenden Auseinandersetzung des Beschwerdeführers mit dem Argumentationsgang des Landessozialgerichts stellt sich dessen Entscheidung in der Sache nicht als willkürlich dar: So erscheint es zunächst als durchaus nachvollziehbar, der Berufungsbegründung, die als solche dem Schriftformerfordernis unproblematisch genügte und auf die Berufungsschrift Bezug nahm, die konkludente Erklärung der Beklagten zu entnehmen, Berufung einlegen zu wollen. Soweit der Beschwerdeführer einwendet, die Übermittlung der Berufungsbegründung könne nicht als Nachholung der versäumten Rechtshandlung angesehen werden, weil dieses Schreiben nicht innerhalb der Berufungsfrist aus § 151 Abs. 1 SGG eingegangen sei, geht seine Argumentation fehl: Wäre dies nämlich der Fall gewesen, hätte es - ausgehend von der zumindest vertretbaren Auslegung der Berufungsbegründungsschrift als konkludenter Berufungseinlegung - einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gar nicht bedurft.
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Hat der Beteiligte die versäumte Rechtshandlung nachgeholt, kann das Gericht nach § 67 Abs. 2 Satz 4 SGG Wiedereinsetzung auch ohne darauf gerichteten Antrag bewilligen. Eines Wiedereinsetzungsantrags bedurfte es daher, wenn man wie das Landessozialgericht von einer wenn auch verspäteten Nachholung der versäumten Handlung mit dem Eingang der Berufungsbegründungsschrift ausgeht, kraft ausdrücklicher gesetzlicher Regelung nicht zwingend, so dass auch dessen Fehlen nicht zur Willkürlichkeit der Wiedereinsetzungsentscheidung führen kann. Dies gilt umso mehr, als das Wort "kann" in § 67 Abs. 2 Satz 4 SGG überwiegend als sogenanntes Ermächtigungs-Kann gelesen und also davon ausgegangen wird, dass das Gericht beim Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen ohne Ermessen Wiedereinsetzung auch ohne Antrag zu bewilligen habe (vgl. in diesem Sinne etwa Keller, in: Meyer-Ladewig u.a., SGG, 12. Aufl. 2017, § 67 Rn. 10 m.w.N.). Auch das Fehlen von Ermessenserwägungen in der Entscheidung des Landessozialgerichts deutet daher nicht auf Willkür oder eine verfassungsrechtlich bedenkliche Bevorzugung eines Beteiligten hin.
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Schließlich ist eine mögliche Willkürlichkeit der Wiedereinsetzung durch den Verweis darauf, die Beklagte habe nicht glaubhaft gemacht, dass das Fristversäumnis unverschuldet gewesen sei, nicht ausreichend dargelegt. Das Landessozialgericht ging davon aus, ein Wiedereinsetzungsgrund ergebe sich aus dem Versäumnis des Senats, auf das Fehlen der Unterschrift rechtzeitig hingewiesen zu haben. Die dieser Annahme des Landessozialgerichts zugrundeliegende Wertung, das Fristversäumnis könne der Beklagten schon deswegen nicht entgegenhalten werden, weil die Unterschrift bei fehlerfreiem Verhalten des Gerichts noch hätte nachgeholt werden können - wofür im konkreten Fall auch noch ausreichend Zeit gewesen wäre -, lässt sich gerade auf die vom Beschwerdeführer wiederholt angeführten Grundsätze des fairen Verfahrens - wenn auch zu Gunsten der Beklagten - stützen. Überdies sieht § 106 Abs. 1 SGG (i.V.m. § 153 Abs. 1 SGG) ausdrücklich vor, dass der Vorsitzende des Senats auf die Beseitigung von Formfehlern hinzuwirken hat. Wenn das Landessozialgericht dem die Pflicht entnimmt, seinerseits auch professionelle Beteiligte auf eine fehlende Unterschrift unter einem bestimmenden Schriftsatz hinweisen zu müssen, und Versäumnisse in diesem Zusammenhang als Grund für eine Wiedereinsetzung ansieht, so ist dies jedenfalls nicht willkürlich. Die insoweit maßgeblichen Tatsachen bedurften der Glaubhaftmachung durch die Beklagte nicht, weil sie in der Sphäre des Gerichts lagen.
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3. Hinsichtlich der weiter geltend gemachten Grundrechtsrügen argumentiert der Beschwerdeführer im Kern einfachrechtlich und setzt seine Auffassung zu den Verursachungszusammenhängen und dem Umfang der Ermittlungspflichten im gerichtlichen Verfahren denen des Landessozialgerichts entgegen. Die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts wird nicht erkennbar. Insoweit sieht die Kammer auf der Grundlage von § 93d Abs. 1 Satz 1 BVerfGG von einer weitergehenden Begründung ab.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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