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BFH 22.09.2023 - IX R 29/22
BFH 22.09.2023 - IX R 29/22 - Keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Normen
§ 56 FGO, § 17 Abs 2 EStG 2009, § 9 Abs 1 S 1 EStG 2009, § 11 Abs 2 EStG 2009, EStG VZ 2015
Vorinstanz
vorgehend FG Nürnberg, 20. Oktober 2022, Az: 4 K 1287/20, Urteil
Leitsatz
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1. NV: Wird nach § 56 der Finanzgerichtsordnung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen eines entschuldbaren Büroversehens bei der Einhaltung einer Frist begehrt, muss substantiiert und in sich schlüssig vorgetragen werden, wie die Fristen im Büro des Prozessbevollmächtigten überwacht werden.
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2. NV: Der Prozessbevollmächtigte ist bei der Prüfung der Revisionsbegründungsfrist und der in diesem Zusammenhang erforderlichen Überwachung des Personals zu besonderer Sorgfalt verpflichtet.
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3. NV: Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann nicht gewährt werden, wenn ein Organisationsverschulden als Ursache der Fristversäumnis nicht auszuschließen ist.
Tenor
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Die Revision der Kläger gegen das Urteil des Finanzgerichts Nürnberg vom 20.10.2022 - 4 K 1287/20 wird als unzulässig verworfen.
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Die Kosten des Revisionsverfahrens haben die Kläger zu tragen.
Tatbestand
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I.
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Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute und wurden für das Streitjahr 2015 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Beide erzielten Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Streitig ist, ob die Klägerin durch ihre Haftungsinanspruchnahme für Umsatzsteuerschulden der B GmbH, deren Gesellschafterin (30 %) und Geschäftsführerin sie war, dem Veranlagungszeitraum 2015 zuzurechnende, den Gesamtbetrag der Einkünfte mindernde Ausgaben getätigt hat.
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Die Klage hatte insoweit keinen Erfolg. Der im Jahr 2016 geleistete Haftungsbetrag in Höhe von 162.400 € könne mangels Abflusses im Streitjahr 2015 weder als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit berücksichtigt werden noch mangels Zurechnung zu den Einkünften aus § 17 des Einkommensteuergesetzes (EStG) den Veräußerungsverlust aus der Veräußerung der Beteiligung der Klägerin an der B GmbH im Streitjahr erhöhen. Das erstinstanzliche Urteil, in dem das Finanzgericht (FG) die Revision zugelassen hatte, wurde den Prozessbevollmächtigten der Kläger am 29.11.2022 zugestellt.
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Die Prozessbevollmächtigten der Kläger legten hiergegen fristgerecht unter dem 21.12.2022 Revision ein; eine Begründung der Revision ging bis zum Ablauf der Revisionsbegründungsfrist (30.01.2023) nicht ein. Mit Schreiben vom 07.02.2023, den Prozessbevollmächtigten übermittelt am 09.02.2023, hat der Senatsvorsitzende auf die Versäumung der Frist sowie auf die Vorschrift des § 56 der Finanzgerichtsordnung (FGO) hingewiesen. Mit Schreiben vom 07.03.2023, per besonderem elektronischen Anwaltspostfach am selben Tag beim Bundesfinanzhof (BFH) eingegangen, haben die Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und zur Begründung vorgetragen, die verspätete Einreichung der Revisionsbegründung beruhe auf einem entschuldbaren Büroversehen in der Kanzlei ihrer Prozessbevollmächtigten.
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Die seit über einem halben Jahr bei den Prozessbevollmächtigten beschäftigte Mitarbeitern Frau Z sei für die Erfassung der Fristen zuständig. Sie sei mit der Postbearbeitung und der Fristen- und Terminverwaltung schon in anderer Funktion beschäftigt gewesen. Nach umfassender Einweisung in die Kanzleiabläufe durch ihre Kollegin, Frau Fachwirtin Y, betreue sie die Ein- und Ausgangspost sowie die Fristen- und Terminverwaltung bisher ohne jegliche Beanstandungen. Frau Z habe es versäumt, die Frist zur Begründung der Revision in den Fristenkalender der Prozessbevollmächtigten einzutragen. Abgesehen von der allgemeinen Kanzleiregelung habe sie hierzu auch eine anwaltliche Einzelweisung erhalten. Sie sei eine ausreichend qualifizierte Bürokraft, die auch im erforderlichen Maße kontrolliert worden sei. Das Versäumnis sei bei den Prozessbevollmächtigten der Kläger bei einer Stichprobenkontrolle am 07.02.2023 aufgefallen.
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In der Sache vertreten die Kläger die Auffassung, dass der Haftungsbetrag zu nachträglichen Anschaffungskosten auf die Beteiligung an der B GmbH geführt habe. Hierzu verweisen sie auf das Urteil des BFH vom 21.01.2004 - VIII R 8/02 (BFH/NV 2004, 947). Selbst wenn man eine Zuordnung zu den Werbungskosten aus nichtselbständiger Tätigkeit vornehme, sei der geleistete Haftungsbetrag zu Gunsten der Klägerin noch im Jahr 2015 zu berücksichtigen, weil die Beschlagnahme des Bankschließfaches der Klägerin (Inhalt 232.350 €) am 02.10.2015 erfolgt sei.
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Die Kläger beantragen,
ihnen wegen Versäumung der Revisionsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren
sowie
das Urteil des FG Nürnberg vom 20.10.2022 - 4 K 1287/20 dahingehend abzuändern, dass die bislang für das Jahr 2015 auf 2.952 € festgesetzte Einkommensteuer unter Berücksichtigung der Inanspruchnahme der Klägerin zu 2. als GmbH-Geschäftsführerin für Umsatzsteuerhaftung in Höhe von 170.684,30 € als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbstständiger Tätigkeit, hilfsweise als nachträgliche Anschaffungskosten für die Anteile an der B GmbH im Rahmen der Ermittlung des Gewinns gemäß § 17 Abs. 2 und § 3c Abs. 2 EStG herabgesetzt wird.
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Der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt) beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
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II.
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Die Revision ist mangels fristgerechter Begründung unzulässig (§ 124 Abs. 1 Satz 1 und 2 FGO) und deshalb durch Beschluss zu verwerfen (§ 126 Abs. 1 FGO).
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1. Die von den Klägern begehrte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 56 FGO wegen der Versäumung der Revisionsbegründungsfrist kann nicht gewährt werden.
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a) Wiedereinsetzung ist zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden an der Einhaltung einer gesetzlichen Frist gehindert war (§ 56 Abs. 1 FGO). Dies setzt in formeller Hinsicht voraus, dass innerhalb einer Frist von einem Monat (§ 56 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 FGO) nach Wegfall des Hindernisses die versäumte Rechtshandlung nachgeholt und diejenigen Tatsachen vorgetragen und im Verfahren über den Antrag glaubhaft gemacht werden, aus denen sich die schuldlose Verhinderung ergeben soll. Die Tatsachen, die eine Wiedereinsetzung rechtfertigen können, sind innerhalb dieser Frist vollständig, substantiiert und in sich schlüssig darzulegen (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Beschluss vom 25.06.2003 - XI B 186/02, BFH/NV 2003, 1589, m.w.N.). Hiernach schließt jedes Verschulden --also auch einfache Fahrlässigkeit-- die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aus. Der Beteiligte muss sich ein Verschulden seines Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen (§ 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 85 Abs. 2 der Zivilprozessordnung).
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b) Im Streitfall haben die Prozessbevollmächtigten der Kläger die Wiedereinsetzungsgründe schon nicht hinreichend dargelegt und glaubhaft gemacht.
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Wird --wie im Streitfall-- Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen eines entschuldbaren Büroversehens bei der Einhaltung einer Frist begehrt, muss substantiiert und in sich schlüssig vorgetragen werden, wie die Fristen im Büro des Prozessbevollmächtigten überwacht werden. Der Prozessbevollmächtigte, der zur Rechtfertigung seines Wiedereinsetzungsantrags vorbringt, er habe die Notierung und Kontrolle der maßgeblichen Frist für die Einlegung beziehungsweise Begründung eines Rechtsmittels einer zuverlässigen und erfahrenen Bürokraft überlassen, muss hiernach vortragen, durch welche Maßnahmen er gewährleistet hat, dass in seinem Büro die Fristen entsprechend seinen Anordnungen notiert und kontrolliert werden (Senatsbeschluss vom 03.09.2019 - IX R 17/18). Dazu gehört nicht nur der Vortrag, wann und wie er seine Bürokräfte entsprechend belehrt, sondern auch, wie er die Einhaltung dieser Belehrungen überwacht hat (BFH-Beschluss vom 08.02.2008 - X B 95/07, BFH/NV 2008, 969, m.w.N.).
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Dabei ist zu beachten, dass die Begründungsfrist für die Revision nicht zu den üblichen, häufig vorkommenden und einfach zu berechnenden Fristen gehört Der Prozessbevollmächtigte ist daher bei der Prüfung der Revisionsbegründungsfrist und der in diesem Zusammenhang erforderlichen Überwachung des Personals zu besonderer Sorgfalt verpflichtet (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Beschlüsse vom 23.08.2016 - IX R 15/16; vom 20.07.2016 - I R 6/16; vom 03.04.2013 - V R 24/12; vom 06.11.2012 - VIII R 40/10; vom 18.01.2007 - III R 65/05, BFH/NV 2007, 945 und vom 24.01.2005 - III R 43/03, BFH/NV 2005, 1312, jeweils m.w.N.).
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Die in diesem Zusammenhang vorzutragenden Tatsachen müssen durch präsente Beweismittel, wie zum Beispiel eidesstattliche Versicherungen oder Ablichtungen der entsprechenden Seiten des Fristenkontrollbuchs, glaubhaft gemacht werden (BFH-Beschluss vom 08.02.2008 - X B 95/07, BFH/NV 2008, 969, m.w.N.).
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c) Der Vortrag der Prozessbevollmächtigten der Kläger genügt diesen Anforderungen nicht.
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Es ist bereits nicht hinreichend dargelegt, dass es sich bei Frau Z um eine erfahrene und zuverlässige Mitarbeiterin gehandelt hat. Es fehlen konkrete Angaben zur Ausbildung der Mitarbeiterin und zu ihrem Erfahrungsstand. Allein der Hinweis, sie sei mit der Postbearbeitung und der Fristen- und Terminverwaltung schon in anderer Funktion beschäftigt gewesen, reicht --auch vor dem Hintergrund ihres Alters von 25 Jahren (vgl. Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 110 AO Rz 325)-- nicht aus. Weder wird deutlich, wo und in welcher Funktion sie konkret tätig war, noch, wie lange sie diese Funktion ausgeübt hat.
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Auch die Maßnahmen der Fristeneintragung und -kontrolle sind nicht hinreichend dargetan. Zwar gab die Mitarbeiterin an, von Rechtsanwalt … am 21.12.2022 die Anweisung erhalten zu haben, die ordnungsgemäße Erfassung und zutreffende Eintragung der Revisionsbegründungsfrist im elektronischen Kalender zu überprüfen beziehungsweise sicherzustellen. Es ist jedoch weder bekannt, wie die Erfüllung dieser Anweisung überwacht wurde noch welchen Inhalt die erwähnte allgemeine Kanzleiregelung zur Fristeneintragung hat. Im Übrigen haben die Kläger nicht vorgetragen, in welcher Weise Rechtsanwalt … die Notierung der Revisionsbegründungsfrist verfügte, ob schriftlich, etwa durch Anweisung in der Handakte, auf einem losen Zettel oder Ähnliches oder mündlich. Diese Unklarheit geht im Rahmen des Wiedereinsetzungsgesuchs zu ihren Lasten. Wird aber ein so wichtiger Vorgang wie die Notierung einer Rechtsmittelbegründungsfrist nur durch mündliche Anweisung veranlasst, müssen in der Kanzlei ausreichende organisatorische Vorkehrungen dagegen getroffen sein, dass die Anweisung in Vergessenheit gerät und die konkrete Fristeintragung unterbleibt (vgl. Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 10.01.2003 - 1 AZR 70/02, Neue Juristische Wochenschrift, unter II.3.b).
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Die Kläger haben nicht vorgetragen, wie die Prozessbevollmächtigten allgemein gewährleistet haben, dass Fristen entsprechend den Anordnungen notiert und durch sie kontrolliert werden. Die von der Mitarbeiterin in ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 03.03.2023 erwähnte "Zweitkontrolle" scheint nicht durch die Berufsträger der Prozessbevollmächtigten, sondern durch die fachlichen Mitarbeiter ausgeführt zu werden, wobei unbekannt ist, um wen es sich handelt. Soweit eine Stichprobenkontrolle durch Rechtsanwalt … am 07.02.2023 erwähnt wird, fehlen Aussagen dazu gänzlich, nach welchen Regeln und in welchem zeitlichen Abstand eine solche Stichprobenkontrolle stattfindet. Dass der fehlende Eintrag der Begründungsfrist über einen längeren Zeitraum --hier zwischen Einlegung der Revision und entsprechender Anweisung am 21.12.2022 und Stichprobenkontrolle am 07.02.2023-- völlig unbemerkt geblieben ist, spricht gegen eine insoweit wirksame Kontrolle.
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Im Übrigen hätte es nahegelegen, eine Kopie der Aktenausfertigung des erstinstanzlichen Urteils einzureichen, denn die Mitarbeiterin gab an, darauf die Fristen und Vorfristen eingetragen zu haben.
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Bei der dargestellten Sachlage ist ein Organisationsverschulden als Ursache der Fristversäumnis nicht auszuschließen.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.
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