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BFH 22.07.2014 - XI B 103/13
BFH 22.07.2014 - XI B 103/13 - Voraussetzungen einer Überraschungsentscheidung
Normen
Art 103 Abs 1 GG, § 96 Abs 2 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO
Vorinstanz
vorgehend FG Köln, 5. September 2013, Az: 11 K 1270/11, Urteil
Leitsatz
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NV: Eine unzulässige Überraschungsentscheidung liegt nicht vor, wenn das FG das angefochtene Urteil auf einen rechtlichen Gesichtspunkt gestützt hat, der im bisherigen Verfahren zumindest am Rande angesprochen worden ist.
Tatbestand
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I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) beantragte für ihre im März 1989 geborene Tochter bei der vormals zuständigen Familienkasse Kindergeld für die Monate Januar bis Dezember 2010 (Streitzeiträume). Sie reichte im April 2010 eine Ausbildungsbescheinigung sowie eine Erklärung zu den Werbungskosten ihrer Tochter für das Kalenderjahr 2010 ein, mit der u.a. Fahrten zur Akademie in X geltend gemacht wurden. Auf dem Vordruck wurde die Zeile "Fahrten erfolgten an insgesamt ... Tagen im Kalenderjahr bzw. im o. g. Zeitraum" handschriftlich um die Zahl "6" ergänzt; in der Zeile "Hin- und Rückfahrt betragen pro Fahrt insgesamt: ... km" war handschriftlich "1.692" eingetragen, wobei auf dem in der Kindergeldakte abgehefteten Original die Worte "pro Fahrt insgesamt" gestrichen sind, in der von der Klägerin dem Finanzgericht (FG) vorgelegten Kopie hingegen lediglich die Worte "pro Fahrt".
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Die Familienkasse setzte für Fahrten nach X 6 x 1 692 km x 0,30 € = 3.045,60 € an, ermittelte die Einkünfte und Bezüge der Tochter der Klägerin in einer Prognoseberechnung mit … € und setzte mit Bescheid vom 16. April 2010 Kindergeld ab Januar 2010 fest. Nachdem die Klägerin im Januar 2011 eine Erklärung zu den Werbungskosten der Tochter für das Jahr 2011 abgegeben hatte, in der für eine Hin- und Rückfahrt nach X 564 km angegeben waren, stellte die Familienkasse eine erneute Berechnung der Einkünfte und Bezüge für das Kalenderjahr 2010 an und kam zu dem Ergebnis, dass der Grenzbetrag von 8.004 € (§ 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes in der bis zum 31. Dezember 2011 geltenden Fassung --EStG a.F.--) überschritten sei, und hob mit Bescheid vom 4. Februar 2011, bestätigt durch Einspruchsentscheidung vom 5. April 2011, die Kindergeldfestsetzung vom 16. April 2010 auf und forderte Kindergeld in Höhe von 2.208 € zurück.
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Während des finanzgerichtlichen Verfahrens hat ein gesetzlicher Beteiligtenwechsel stattgefunden; Beklagte und nunmehr Beschwerdegegnerin ist die Bundesagentur für Arbeit - Familienkasse Z.
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Das FG wies die Klage ab. Es entschied, die Familienkasse habe zu Recht die Kindergeldfestsetzung nach § 70 Abs. 4 EStG a.F. aufgehoben und das zuviel gezahlte Kindergeld nach § 37 Abs. 2 der Abgabenordnung zurückgefordert. Die tatsächlichen Einkünfte und Bezüge der Tochter der Klägerin überschritten unstreitig den maßgebenden Grenzbetrag von 8.004 €. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs --BFH-- (zuletzt Urteil vom 16. Oktober 2012 XI R 46/10, BFH/NV 2013, 555), der sich das FG anschließe, rechtfertige § 70 Abs. 4 EStG a.F. eine Aufhebung oder Änderung des Kindergeldbescheides nur, wenn nachträglich bekannt werde, dass sich die Einkünfte und Bezüge entgegen der Prognose im laufenden Jahr tatsächlich erhöht oder vermindert haben. Dies sei vorliegend der Fall.
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Mit ihrer Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision macht die Klägerin die Erforderlichkeit einer Entscheidung des BFH zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) sowie einen Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) geltend.
Entscheidungsgründe
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II. Die Beschwerde ist unbegründet.
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1. Soweit die Klägerin die Erforderlichkeit einer Entscheidung des BFH zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO) i.S. des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO hinreichend dargetan hat, liegt dieser Zulassungsgrund jedenfalls nicht vor.
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a) Zur Darlegung einer Divergenz ist erforderlich, dass sich aus der Beschwerdebegründung ergibt, in welcher konkreten Rechtsfrage das FG in der angefochtenen Entscheidung nach Ansicht des Beschwerdeführers von der Rechtsprechung anderer Gerichte abgewichen ist. Er hat rechtserhebliche abstrakte Rechtssätze im angefochtenen Urteil und in den von ihm angeführten Divergenzentscheidungen so genau zu bezeichnen, dass die Abweichung erkennbar wird (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 4. Dezember 2000 V B 15/00, BFH/NV 2001, 819; vom 18. November 2010 XI B 56/10, BFH/NV 2011, 199; vom 5. Juni 2013 XI B 116/12, BFH/NV 2013, 1640, jeweils m.w.N.).
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b) aa) Soweit die Klägerin geltend macht, das FG habe zu Unrecht entschieden, dass eine nicht auf einem reinen Rechtsfehler, sondern auf fehlerhaften Annahmen tatsächlicher Art beruhende Entscheidung der Familienkasse nach § 70 Abs. 4 EStG a.F. durch diese aufgehoben oder geändert werden könne, wohingegen nach ihrer Auffassung die Vorschrift nicht danach unterscheide, ob die ursprünglichen Annahmen der Familienkasse auf Rechtsfehlern oder falschen Tatsachenbeurteilungen beruhten, macht sie lediglich eine ihrer Auffassung nach unzutreffende Rechtsanwendung durch das FG geltend. Dies vermag die Zulassung der Revision grundsätzlich nicht zu rechtfertigen (z.B. BFH-Beschlüsse vom 1. April 2011 XI B 75/10, BFH/NV 2011, 1372; vom 16. August 2013 III B 144/12, BFH/NV 2013, 1816).
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bb) Wenn die Klägerin den Rechtssatz des FG, "die tatsächlichen Verhältnisse [seien] insofern von den rechtlichen Verhältnissen zu unterscheiden", dem BFH-Urteil in BFH/NV 2013, 555 gegenüberstellt, in dem --so die Klägerin-- klargestellt werde, "dass nur Tatsachen, die der Familienkasse nachträglich bekannt werden, nach § 70 Abs. 4 EStG alte Fassung eine Abänderung rechtfertigen können", liegt insoweit keine Abweichung vor, auf der die Vorentscheidung beruhen könnte. Die Klägerin verkennt, dass nach den Feststellungen und der tatsächlichen Würdigung des FG, an die der erkennende Senat in einem Revisionsverfahren gebunden wäre (vgl. § 118 Abs. 2 FGO), sich der Sachverhalt für die Familienkasse nach den Angaben in der Erklärung zu den Werbungskosten so dargestellt habe, dass das Kind sechsmal nach X gefahren sei, wohingegen es tatsächlich nur drei Fahrten gegeben habe; die Erklärung der Werbungskosten sei in sich nicht eindeutig gewesen, die Anforderungen an die Pflichten der Familienkasse dürften nicht überspannt werden.
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cc) Danach bedarf es keiner Erörterung mehr, ob vorliegend die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung bereits deshalb keine Entscheidung des BFH erfordert, da die vom FG entschiedene Rechtsfrage ausgelaufenes Recht betrifft (vgl. BFH-Beschluss vom 29. Mai 2007 III B 201/06, BFH/NV 2007, 1866).
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2. Auch liegt ein Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO jedenfalls nicht vor.
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a) Nach Auffassung der Klägerin hat das FG das Klageverfahren --auf eigene Anregung-- im Hinblick auf das Revisionsverfahren XI R 46/10 (vormals III R 7/10) ausgesetzt, dann aber das BFH-Urteil in BFH/NV 2013, 555 nicht umgesetzt, weshalb die Vorentscheidung als Überraschungsentscheidung angesehen werden müsse, auch wenn "die überraschende Entscheidung in der kurzen Erörterung im Verhandlungstermin von der Vorsitzenden Richterin angedeutet wurde"; das FG hätte nicht nur vor Terminsbestimmung einen entsprechenden Hinweisbeschluss erlassen, sondern ihr --der Klägerin-- auch die Möglichkeit einräumen müssen, dafür Beweis anzutreten, dass der Familienkasse mit den Erklärungen für 2010 ebenso wie in den anderen Jahren auch eine detaillierte Aufstellung zu den Fahrtkosten 2010 überreicht worden sei.
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b) Eine Überraschungsentscheidung liegt allerdings nur vor, wenn das FG sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Auffassungen nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlung nicht rechnen musste (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 21. September 2011 XI B 24/11, BFH/NV 2012, 277; vom 1. Februar 2012 VI B 71/11, BFH/NV 2012, 767).
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Eine unzulässige Überraschungsentscheidung ist allerdings dann nicht gegeben, wenn das FG das angefochtene Urteil auf einen rechtlichen Gesichtspunkt gestützt hat, der im bisherigen Verfahren zumindest am Rande angesprochen worden ist (BFH-Urteil vom 23. September 1999 VI R 106/98, BFH/NV 2000, 448, m.w.N.; ferner BFH-Beschlüsse vom 3. Februar 2003 I B 49/02, BFH/NV 2003, 1058, unter II.1.; vom 11. Januar 2012 IV B 142/10, BFH/NV 2012, 784, Rz 9).
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Danach kann unerörtert bleiben, dass die Klägerin mit ihrer Beschwerde nicht ausgeführt hat, welche Beweise sie angetreten hätte, wenn ihr nach ihrer Auffassung ausreichend rechtliches Gehör gewährt worden wäre.
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3. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 116 Abs. 5 Satz 2 FGO).
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.
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