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BSG 24.06.2020 - B 4 AS 10/20 R
BSG 24.06.2020 - B 4 AS 10/20 R - Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren - Rücknahme von Verwaltungsakten - Grundsicherung für Arbeitsuchende - Einkommensberücksichtigung - Erlass eines endgültigen Bescheides trotz prognostisch schwankenden Einkommens - Prüfung der Bösgläubigkeit - sozialgerichtliches Verfahren - Berufung - Bestimmung des Beschwerdewertes - Bedarfsgemeinschaft
Normen
§ 45 Abs 1 S 1 SGB 10, § 45 Abs 2 S 1 SGB 10, § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB 10, § 48 SGB 10, § 328 Abs 1 SGB 3, § 11 Abs 1 S 1 SGB 2, § 144 Abs 1 S 1 Nr 1 SGG, § 202 S 1 SGG, § 5 ZPO
Vorinstanz
vorgehend SG Hamburg, 8. September 2017, Az: S 29 AS 255/16, Urteil
vorgehend Landessozialgericht Hamburg, 30. September 2019, Az: L 4 AS 26/18, Urteil
Leitsatz
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In Fällen prognostisch schwankenden Einkommens erstreckt sich bei einer endgültigen Bewilligung die Prüfung der Bösgläubigkeit auch darauf, ob die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis des Bescheidempfängers von der Erwartung unterlegt war, dass das später zufließende Einkommen auch höher sein kann als der prognostisch berücksichtigte Betrag.
Tenor
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Auf die Revisionen der Kläger wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 30. September 2019 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
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Die Kläger wenden sich gegen die teilweise Rücknahme der Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende, die ihnen der Beklagte für Februar bis Mai 2014 erbracht hatte, und gegen deren Rückforderung.
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Die 1978 bzw 2002 geborenen Kläger sind Mutter und Sohn. Die im streitgegenständlichen Zeitraum erwerbsfähige Klägerin zu 1 ist seit Februar 2011 als Abrufarbeitnehmerin mit einer Arbeitszeit von mindestens drei Stunden pro Woche beschäftigt. Aus dieser Tätigkeit erzielte sie ein monatlich schwankendes Einkommen, wobei das Gehalt jeweils im Folgemonat ausgezahlt wurde.
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Der Beklagte bewilligte unter anderem Leistungen für Februar bis Mai 2014 in Höhe von 272,62 Euro an die Klägerin zu 1 und in Höhe von 148,30 Euro an den Kläger zu 2 (Bescheid vom 27.11.2013). Dabei wurde Krankengeld in Höhe von monatlich 801 Euro als Einkommen der Klägerin zu 1 sowie Kindergeld in Höhe von monatlich 184 Euro als Einkommen des Klägers zu 2 berücksichtigt. Später bewilligte der Beklagte unter anderem Leistungen für Februar bis Mai 2014 in Höhe von monatlich 431,44 Euro an die Klägerin zu 1 und in Höhe von 235,28 Euro an den Kläger zu 2 (Änderungsbescheid vom 3.2.2014). Es wurde nun (neben dem Kindergeld) statt des Krankengeldes Einkommen aus Erwerbstätigkeit der Klägerin zu 1 in Höhe von 1100 Euro brutto (850 Euro netto) berücksichtigt.
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Nachdem die Klägerin zu 1 Verdienstbescheinigungen für Januar und Februar 2014 vorgelegt hatte, bewilligte der Beklagte für Februar 2014 der Klägerin zu 1 Leistungen in Höhe von 333,12 Euro und dem Kläger zu 2 in Höhe von 181,66 Euro (Änderungsbescheid vom 17.3.2014).
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In der Folgezeit gab der Beklagte mit Schreiben vom 17.3.2014, 23.4.2014 und 28.5.2014 der Klägerin zu 1 unter Hinweis auf § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 bzw Nr 3 SGB X Gelegenheit zur Stellungnahme zur beabsichtigten Geltendmachung von Erstattungsforderungen für Februar bis Mai 2014.
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Sodann hob der Beklagte die Bewilligungsbescheide vom 27.11.2013, 3.2.2014 und 17.3.2014 für Februar bis Mai 2014 unter Hinweis auf § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB X teilweise auf und forderte - aufgeschlüsselt nach Monaten und individualisiert nach den beiden Klägern - eine Erstattung von Leistungen für den genannten Zeitraum in Höhe von insgesamt 864,02 Euro (Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 12.6.2014). Die Klägerin zu 1 habe während des genannten Zeitraums ein höheres Einkommen aus ihrer Beschäftigung erzielt. Mit dem nachgewiesenen Einkommen seien die Kläger nicht im bisherigen Umfang hilfebedürftig. Die Klägerin zu 1 sei ihrer Pflicht zur Mitteilung von Veränderungen zumindest grob fahrlässig nicht nachgekommen.
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Der Beklagte gab den Widersprüchen der Kläger gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 12.6.2014 teilweise statt und änderte ihn dahingehend ab, dass von der Klägerin zu 1 nur noch ein Betrag von 492,96 Euro und vom Kläger zu 2 von 268,85 Euro erstattet verlangt wurde (Widerspruchsbescheid vom 30.12.2015). Der Widerspruch sei insofern begründet, als der monatlich gezahlte Arbeitgeberanteil für vermögenswirksame Leistungen nicht als Einkommen zu berücksichtigen sei. Im Übrigen sei der Widerspruch aber unbegründet. Die Aufhebung beruhe auf § 45 Abs 2 Satz 1 bis 3 SGB X. Die Bewilligungsentscheidungen seien bereits bei ihrem Erlass rechtswidrig gewesen, weil den Klägern Leistungen ohne Berücksichtigung des tatsächlich erzielten Einkommens bewilligt worden seien. Diese Rechtswidrigkeit habe die Klägerin zu 1 erkennen können bzw habe sie infolge grober Fahrlässigkeit nicht erkannt.
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Das SG hat die Klage(n) abgewiesen (Urteil vom 8.9.2017).
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Mit Schreiben vom 26.3.2019 hat der Beklagte den Klägern Gelegenheit zur Äußerung zum Vorwurf der Kenntnis von der Rechtswidrigkeit der ursprünglichen Bescheide gegeben. In der mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 30.9.2019 hat der Beklagte den Bescheid vom 12.6.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.12.2015 durch Erklärung zu Protokoll insoweit aufgehoben, als damit der Änderungsbescheid vom 17.3.2014 aufgehoben und von der Klägerin zu 1 mehr als 460,54 Euro sowie von dem Kläger zu 2 mehr als 251,16 Euro erstattet verlangt werden.
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Das LSG hat die Berufung(en) zurückgewiesen (Urteil vom 30.9.2019). Die ursprünglichen Bewilligungsbescheide seien bereits bei ihrem Erlass rechtswidrig gewesen, weil hiermit Leistungen endgültig bewilligt worden seien, obwohl aufgrund des schwankenden Einkommens der Klägerin zu 1 nur eine vorläufige Bewilligung habe erfolgen dürfen. Die Klägerin zu 1 könne sich nicht auf schutzwürdiges Vertrauen berufen. Sie habe die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes gekannt bzw habe sie infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt. Der Kläger zu 2 müsse sich die Kenntnis bzw grob fahrlässige Unkenntnis der Klägerin zu 1 als seiner gesetzlichen Vertreterin zurechnen lassen. Bezugspunkt der Kenntnis bzw der grob fahrlässigen Unkenntnis sei nicht die Überzahlung als solche. Sie müsse sich vielmehr auf die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, also das Ergebnis der Tatsachenfeststellung und Rechtsanwendung durch die Behörde beziehen. Die Klägerin zu 1 habe nicht zuletzt aufgrund der Bewilligungsentscheidungen und deren Änderungen im vorangegangenen Bewilligungszeitraum gewusst, dass die Leistungen an die tatsächlichen Einkommensverhältnisse angepasst werden würden. Auch wenn sie die Unterscheidung zwischen vorläufiger und endgültiger Bewilligung nicht habe kennen müssen, so sei ihr infolgedessen doch klar bzw hätte ihr klar sein müssen, dass die dauerhaft angelegte Zugrundelegung eines festen, jeden Monat gleichen Einkommens in den ursprünglichen Bewilligungsbescheiden nicht richtig gewesen sei bzw nicht auf Dauer werde Bestand haben können.
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Hiergegen wenden sich die Kläger mit den vom LSG zugelassenen Revisionen. Sie sind der Ansicht, dass sich die Rechtswidrigkeit der Bewilligungsentscheidungen nicht daraus ergebe, dass nicht das tatsächliche Einkommen zugrunde gelegt worden sei. Die Rechtswidrigkeit beruhe vielmehr darauf, dass es sich nicht um vorläufige Bewilligungsbescheide gehandelt habe. Sie beriefen sich nicht auf Vertrauensschutz, sondern rügten die fehlende Ermessensausübung. Die Klägerin zu 1 habe bereits aus früheren Bewilligungsabschnitten die Praxis gekannt, dass nach Vorlage von Verdienstabrechnungen Änderungsbescheide ergehen und dass es zu Nachzahlungen oder Rückforderungen komme. Sie hätte aber nicht wissen müssen, dass eine vorläufige Bewilligung hätte erfolgen müssen. Daher hätte der Beklagte Ermessen ausüben müssen.
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Die Kläger beantragen (sachgerecht gefasst),
die Urteile des Landessozialgerichts Hamburg vom 30. September 2019 und des Sozialgerichts Hamburg vom 8. September 2017 sowie den Bescheid vom 12. Juni 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Dezember 2015 und in der Fassung des zu Protokoll gegebenen Verwaltungsaktes vom 30. September 2019 aufzuheben.
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Der Beklagte beantragt,
die Revisionen zurückzuweisen.
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Der Beklagte verteidigt die Entscheidung des LSG.
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Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
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Die Revisionen der Kläger, über die der Senat gemäß § 124 Abs 2 SGG mit Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte, haben im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht Erfolg (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Auf Grundlage der bisherigen Feststellungen des LSG kann der Senat nicht abschließend entscheiden, ob der Beklagte zu Recht die Bewilligung von Leistungen für Februar bis Mai 2014 teilweise aufgehoben hat und insoweit Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen von den Klägern verlangt.
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1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Änderungsbescheid vom 12.6.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.12.2015 und in der Fassung des zu Protokoll gegebenen (zur Formfreiheit von Verwaltungsakten § 33 Abs 2 Satz 1 SGB X) Verwaltungsaktes vom 30.9.2019, gegen die sich die Kläger mit der (isolierten) Anfechtungsklage wenden (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG), wobei der Verwaltungsakt vom 30.9.2019 für die Kläger lediglich begünstigend ist. Dies entspricht dem schon im Berufungsverfahren gestellten Antrag, den die Kläger insofern im Revisionsverfahren wiederholt haben. Mit den genannten Verwaltungsakten hat der Beklagte die mit Bescheiden vom 27.11.2013, 3.2.2014 und 17.3.2014 verfügte Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II für Februar bis Mai 2014 teilweise zurückgenommen und die Erstattung überzahlter Beträge verlangt.
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2. Die im Revisionsverfahren von Amts wegen zu prüfenden Sachentscheidungsvoraussetzungen liegen vor. Insbesondere bedurften die Berufungen der Kläger gemäß § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG nicht der Zulassung. Gegenstand der Berufung waren bei ihrer Einlegung Rücknahme- und Erstattungsentscheidungen in Höhe von 492,96 Euro gegenüber der Klägerin zu 1 und in Höhe von 268,85 Euro gegenüber dem Kläger zu 2 (insgesamt also in Höhe von 761,81 Euro). Bei subjektiver Klagehäufung sind die geltend gemachten Ansprüche jedenfalls dann gemäß § 202 Satz 1 SGG iVm § 5 ZPO zu addieren (vgl BSG vom 10.8.2016 - B 14 AS 51/15 R - SozR 4-4200 § 12 Nr 26 RdNr 10; Wehrhahn in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2017, § 144 RdNr 21), wenn - wie hier - Rücknahme- und Erstattungsentscheidungen gegenüber mehreren Personen in einem einheitlichen Bescheid erlassen werden. Da es für die Frage der Zulassungsbedürftigkeit der Berufung auf den Beschwerdewert im Zeitpunkt der Berufungseinlegung ankommt (BSG vom 8.10.1981 - 7 RAr 72/80 - SozR 1500 § 144 Nr 18, juris RdNr 16 mwN; BSG vom 23.2.2011 - B 11 AL 15/10 R - SozR 4-3250 § 51 Nr 2 RdNr 13; BSG vom 19.3.2020 - B 4 AS 4/20 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen), ist es unerheblich, dass der (addierte) Beschwerdewert durch den zu Protokoll gegebenen Verwaltungsakt des Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG auf unter 750 Euro gesunken ist.
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3. Über die Rechtmäßigkeit der teilweisen Rücknahmen der vorangegangenen Bewilligungsbescheide und der hierauf beruhenden Erstattungsforderungen kann der Senat nicht abschließend entscheiden, weil die Feststellungen des LSG zu den subjektiven Voraussetzungen der Bewilligungsrücknahmen nicht ausreichend sind.
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a) Zu Recht ist das LSG allerdings davon ausgegangen, dass die streitgegenständlichen Bescheide an § 40 Abs 2 Nr 3 SGB II, § 330 Abs 2 SGB III iVm § 45 Abs 1, Abs 2 bis 4 SGB X zu messen sind, sofern durch die ursprünglichen Bewilligungsbescheide zu hohe Leistungen bewilligt worden wären.
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aa) Die Bescheide vom 27.11.2013, vom 3.2.2014 und vom 17.3.2014, die durch die streitgegenständlichen Bescheide teilweise aufgehoben worden sind, waren mangels Vorläufigkeitsvorbehalt endgültige Bewilligungen. Es lässt sich den Formulierungen in den Bescheiden weder ausdrücklich noch konkludent entnehmen, dass die Bewilligungen unter dem Vorbehalt ihrer Vorläufigkeit stehen sollten (vgl zur Prüfung des Charakters eines Verwaltungsaktes als endgültig oder vorläufig durch das Revisionsgericht BSG vom 29.11.2012 - B 14 AS 6/12 R - BSGE 112, 221 = SozR 4-1300 § 45 Nr 12, RdNr 19 mwN; BSG vom 23.10.2018 - B 11 AL 20/17 R - SozR 4-6065 Art 61 Nr 1 RdNr 15 mwN). Ihre Änderung kann daher nur nach Maßgabe der vertrauensschützenden Regelungen der §§ 45 ff SGB X erfolgen, die hier nach § 40 Abs 2 Nr 3 SGB II iVm § 330 Abs 2 SGB III anzuwenden sind.
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bb) Das BSG hat bereits entschieden, dass dann, wenn eine Behörde einen endgültigen Bescheid auf Grundlage eines nicht endgültig aufgeklärten Sachverhalts erlässt und sich herausstellt, dass der Bescheid bereits im Zeitpunkt des Erlasses objektiv rechtswidrig war, ein Fall des § 45 SGB X gegeben ist (BSG vom 21.6.2011 - B 4 AS 21/10 R - BSGE 108, 258 = SozR 4-4200 § 11 Nr 39, RdNr 16; BSG vom 29.11.2012 - B 14 AS 6/12 R - BSGE 112, 221 = SozR 4-1300 § 45 Nr 12, RdNr 17). Der Erlass eines endgültigen Bescheides ist regelmäßig kein taugliches Instrumentarium in Fällen, in denen objektiv nur die Möglichkeit einer prospektiven Schätzung insbesondere der Einkommenssituation besteht (BSG vom 21.6.2011 - B 4 AS 21/10 R - BSGE 108, 258 = SozR 4-4200 § 11 Nr 39, RdNr 16; BSG vom 29.11.2012 - B 14 AS 6/12 R - BSGE 112, 221 = SozR 4-1300 § 45 Nr 12, RdNr 18; BSG vom 29.4.2015 - B 14 AS 31/14 R - SozR 4-4200 § 40 Nr 9 RdNr 19). Dies ist etwa dann der Fall, wenn - wie hier - aufgrund einer Tätigkeit als Abrufarbeitnehmerin schwankendes Einkommen erzielt wird. Der Erlass eines endgültigen Bescheides statt eines vorläufigen Bescheides ist dann von Anfang an rechtswidrig und § 45 SGB X die für seine Rücknahme einschlägige Ermächtigungsgrundlage. § 48 SGB X wäre demgegenüber nur dann anwendbar, soweit sich hinsichtlich der anderen Voraussetzungen eine wesentliche Änderung ergibt (BSG vom 29.11.2012 - B 14 AS 6/12 R - BSGE 112, 221 = SozR 4-1300 § 45 Nr 12, RdNr 18 mwN; BSG vom 28.3.2013 - B 4 AS 59/12 R - BSGE 113, 184 = SozR 4-1300 § 45 Nr 13, RdNr 26).
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b) Der formellen Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Bescheide steht nicht entgegen, dass die Kläger zu den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 45 SGB X, auf den der Beklagte seine Entscheidung zuletzt (im Widerspruchsbescheid vom 30.12.2015) gestützt hat, nicht gemäß § 24 Abs 1 SGB X ordnungsgemäß angehört worden wären. Diese Anhörung ist jedenfalls im Laufe des Berufungsverfahrens erfolgt. Der Beklagte ist gemäß § 41 Abs 1 Nr 3, Abs 2 SGB X befugt, die fehlende Anhörung bis zur letzten Tatsacheninstanz eines sozialgerichtlichen Verfahrens nachzuholen (vgl zu den Anforderungen etwa BSG vom 9.11.2010 - B 4 AS 37/09 R - SozR 4-1300 § 41 Nr 2 RdNr 14 ff; BSG vom 26.7.2016 - B 4 AS 47/15 R - BSGE 122, 25 = SozR 4-1500 § 114 Nr 2, RdNr 18 ff). Dies ist hier durch das Schreiben des Beklagten vom 26.3.2019 geschehen, in dem der Beklagte nach den Feststellungen des LSG den Klägern den für seine Entscheidung relevanten Vorwurf der Kenntnis von der Rechtswidrigkeit der ursprünglichen Bewilligungsbescheide mitgeteilt und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat.
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c) Ob die angegriffenen Rücknahmeverfügungen materiell rechtmäßig sind, kann der Senat aufgrund fehlender tatsächlicher Feststellungen nicht abschließend entscheiden.
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aa) Allerdings führt der Umstand, dass der Beklagte seine Rücknahmeverfügungen zunächst fehlerhaft auf § 48 SGB X gestützt hat, nicht zur Rechtswidrigkeit der streitgegenständlichen Bescheide. Stützt die Behörde ihre Entscheidung auf eine falsche Rechtsgrundlage, sind aber für den Erlass des Verwaltungsaktes die Voraussetzungen der zutreffenden Rechtsgrundlage erfüllt, handelt es sich bei gebundenen Verwaltungsakten lediglich um eine unzutreffende Begründung des Verwaltungsaktes (BSG vom 29.6.2000 - B 11 AL 85/99 R - BSGE 87, 8, 12 = SozR 3-4100 § 152 Nr 9 S 30 f = juris RdNr 23 mwN). Weil die §§ 45, 48 SGB X auf dasselbe Ziel, nämlich die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, gerichtet sind, ist das "Auswechseln" dieser Rechtsgrundlagen durch das Gericht grundsätzlich zulässig (BSG vom 21.6.2011 - B 4 AS 21/10 R - BSGE 108, 258 = SozR 4-4200 § 11 Nr 39, RdNr 34 mwN; BSG vom 29.11.2012 - B 14 AS 6/12 R - BSGE 112, 221 = SozR 4-1300 § 45 Nr 12, RdNr 23). Dies gilt erst Recht, wenn die Behörde - wie hier - bereits im Widerspruchsverfahren die Begründung korrigiert hat. Auf die Frage, ob eine reformatio in peius im Widerspruchsverfahren zulässig ist (vgl Claus in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2017, § 85 RdNr 31), kommt es dabei nicht an, da der Austausch der Begründung den Regelungsgehalt nicht berührt. Auch die Frage einer Umdeutung nach § 43 SGB X stellt sich bei dieser Sachlage nicht (vgl BSG vom 28.3.2013 - B 4 AS 59/12 R - BSGE 113, 184 = SozR 4-1300 § 45 Nr 13, juris RdNr 17 mwN).
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bb) Die angefochtenen Rücknahmeverfügungen im Bescheid vom 12.6.2014 und im Widerspruchsbescheid vom 30.12.2015 sind inhaltlich hinreichend bestimmt (§ 40 Abs 1 Satz 1 SGB II aF iVm § 33 Abs 1 SGB X).
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Nach § 33 Abs 1 SGB X muss ein Verwaltungsakt inhaltlich hinreichend bestimmt sein. Dieses Erfordernis bezieht sich sowohl auf den Verfügungssatz der Entscheidung als auch auf den Adressaten eines Verwaltungsaktes (BSG vom 29.11.2012 - B 14 AS 6/12 R - BSGE 112, 221 = SozR 4-1300 § 45 Nr 12, RdNr 25 mwN). Insofern verlangt das Bestimmtheitserfordernis, dass der Verfügungssatz eines Verwaltungsaktes nach seinem Regelungsgehalt in sich widerspruchsfrei ist und - den unzweifelhaft erkennbaren - Betroffenen bei Zugrundelegung der Erkenntnismöglichkeiten eines verständigen Empfängers in die Lage versetzen muss, sein Verhalten daran auszurichten (BSG vom 17.12.2009 - B 4 AS 20/09 R - BSGE 105, 194 = SozR 4-4200 § 31 Nr 2, RdNr 13 mwN; BSG vom 29.11.2012 - B 14 AS 6/12 R - BSGE 112, 221 = SozR 4-1300 § 45 Nr 12, RdNr 26). Nur der inhaltlich hinreichend bestimmte Verwaltungsakt kann seine Individualisierungs- und Klarstellungsfunktion erfüllen und - soweit erforderlich - als Grundlage für seine zwangsweise Durchsetzung dienen. Aus dem Verfügungssatz muss für die Beteiligten vollständig, klar und unzweideutig erkennbar sein, was die Behörde will und von wem sie es will (BSG vom 29.11.2012 - B 14 AS 6/12 R - BSGE 112, 221 = SozR 4-1300 § 45 Nr 12, RdNr 25). Dabei genügt es, wenn aus dem gesamten Inhalt des Bescheides einschließlich der von der Behörde gegebenen Begründung hinreichende Klarheit über die Regelung gewonnen werden kann (BSG vom 29.11.2012 - B 14 AS 6/12 R - BSGE 112, 221 = SozR 4-1300 § 45 Nr 12, RdNr 26). Ausreichende Klarheit besteht auch dann, wenn zur Auslegung des Verfügungssatzes auf die Begründung des Verwaltungsaktes, auf früher zwischen den Beteiligten ergangene Verwaltungsakte oder auf allgemein zugängliche Unterlagen zurückgegriffen werden muss (BSG vom 29.11.2012 - B 14 AS 6/12 R - BSGE 112, 221 = SozR 4-1300 § 45 Nr 12, RdNr 26).
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Ausgehend von diesen Grundsätzen bestehen keine Bedenken gegen die Bestimmtheit des Aufhebungs- und Erstattungsbescheides vom 12.6.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.12.2015. Im Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 12.6.2014 sind die Erstattungsbeträge nach Monaten und individualisiert nach den beiden Klägern aufgeführt; aus diesen Beträgen ergibt sich zugleich die Höhe der jeweiligen Aufhebungsentscheidungen. Aus den im Tenor des Widerspruchsbescheides getrennt für die Klägerin zu 1 und den Kläger zu 2 genannten Erstattungsbeträgen ergibt sich zugleich die Höhe der jeweiligen Aufhebungsentscheidungen.
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cc) Der Senat konnte auf der Grundlage der bisher getroffenen Feststellungen nicht entscheiden, ob eine Ermessensausübung infolge der Bösgläubigkeit der Kläger unterbleiben konnte.
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Zu Recht hat das LSG für die Frage der Kenntnis bzw des Kennenmüssens der Rechtswidrigkeit der ursprünglichen Bewilligungsbescheide seitens der Klägerin zu 1 nicht darauf abgestellt, ob die Klägerin zu 1 wusste oder hätten wissen müssen, dass der Bescheid nicht hätte endgültig ergehen dürfen. Dabei kann offenbleiben, ob bereits die Endgültigkeit der ursprünglichen Bewilligung diese rechtswidrig macht oder ob die Rechtswidrigkeit voraussetzt, dass die ursprüngliche Bewilligung der Höhe nach nicht dem materiellen Recht entspricht. In jedem Fall ist es für die Bösgläubigkeit im Sinne des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X ausreichend, wenn der Leistungsempfänger im Rahmen einer sog Parallelwertung in der Laiensphäre wusste oder wissen musste, dass ihm die zuerkannte Leistung so nicht zusteht (Schütze in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, § 45 RdNr 55; vgl zur Maßgeblichkeit der Laiensicht auch BSG vom 6.5.2009 - B 11 AL 10/08 R - SozR 4-4300 § 144 Nr 19 RdNr 30; BSG vom 18.2.2010 - B 14 AS 76/08 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 27 RdNr 20; BSG vom 28.3.2013 - B 4 AS 59/12 R - BSGE 113, 184 = SozR 4-1300 § 45 Nr 13, RdNr 25). Es reicht daher grundsätzlich aus, wenn sich die Kenntnis bzw grob fahrlässige Unkenntnis darauf bezieht, dass bei der Bewilligungsentscheidung das tatsächlich zugeflossene Einkommen noch nicht (vollständig) berücksichtigt worden ist; allein hierauf beziehen sich die Feststellungen des LSG.
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In den Fällen prognostisch schwankenden Einkommens wie dem vorliegenden muss überdies aber auch geprüft werden, ob die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis des Bescheidempfängers von der Erwartung unterlegt war, dass das später zufließende Einkommen auch höher sein kann als der prognostisch berücksichtigte Betrag. Die Bösgläubigkeit darf sich also nicht in der Kenntnis bzw grob fahrlässigen Unkenntnis des Zusammenhangs von Einkommenserzielung und Leistungsanspruch erschöpfen, sondern muss sich auf die konkrete Möglichkeit beziehen, dass der Bewilligungsbescheid noch zulasten des Betroffenen verändert werden wird. Zu diesem Teilaspekt wird das LSG noch Feststellungen zu treffen haben und dabei auch zu berücksichtigen haben, auf welcher Grundlage der prognostisch zugrunde gelegte Betrag ermittelt worden ist.
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Das LSG ist im Übrigen zu Recht davon ausgegangen, dass eine Bösgläubigkeit der Klägerin zu 1 dem Kläger zu 2 zuzurechnen wäre. Jedenfalls bei gesetzlicher Vertretung - wie hier durch die Klägerin zu 1 als Mutter des Klägers zu 2 - ist die Kenntnis bzw das Kennenmüssen des gesetzlichen Vertreters dem Begünstigten zuzurechnen (vgl § 166 Abs 1, § 1629 BGB; BSG vom 31.8.1976 - 7 RAr 112/74 - BSGE 42, 184, 186 = SozR 4100 § 152 Nr 3 S 3 = juris RdNr 18; Aubel in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl 2020, § 38 RdNr 36; Padé in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl 2017, § 45 RdNr 97; Schütze in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, § 45 RdNr 59; Udsching/Link, SGb 2007, 513, 517). Allerdings wird das LSG im wiedereröffneten Berufungsverfahren die Rechtsprechung des 14. Senats des BSG zur Beschränkung der Minderjährigenhaftung nach § 1629a Abs 1 BGB (BSG vom 28.11.2018 - B 14 AS 34/17 R - SozR 4-4200 § 38 Nr 5 RdNr 17 ff) zu berücksichtigen haben.
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dd) Darauf, ob der Widerspruchsbescheid vom 30.12.2015 nach Ablauf der Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X erlassen worden ist, kommt es nicht an; für die Wahrung der Jahresfrist ist die erstmalige Aufhebungs- bzw Rücknahmeentscheidung maßgeblich, nicht der Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides. Es kann daher dahinstehen, ob der Lauf der Jahresfrist erst mit Ablauf der Stellungnahmefrist im während des Berufungsverfahrens nachgeholten Anhörungsverfahren begonnen hat (vgl zum grundsätzlichen Fristbeginn mit Abschluss des Anhörungsverfahrens BSG vom 27.7.2000 - B 7 AL 88/99 R - SozR 3-1300 § 45 Nr 42 S 140 = juris RdNr 24 mwN; Padé in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl 2017, § 45 RdNr 112).
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ee) Vor diesem Hintergrund kann der Senat auch nicht entscheiden, ob die auf die Ermächtigungsgrundlage des § 40 Abs 1 Satz 1 SGB II iVm § 50 Abs 1 Satz 1 SGB X gestützte Erstattungsverfügung materiell rechtmäßig ist. Wenn, wie vorliegend, die Rücknahmeverfügungen noch nicht bestandskräftig und mitangefochten sind, kann nur Erstattung verlangt werden, soweit sich die Rücknahmen im Ergebnis der Prüfung des LSG als rechtmäßig erweisen.
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Das LSG wird im wiedereröffneten Berufungsverfahren ferner zu prüfen haben, ob dem Klagebegehren durch den zu Protokoll gegebenen Verwaltungsakt vom 30.9.2019 in materieller Hinsicht und damit auch hinsichtlich seiner Bestimmtheit hinreichend entsprochen worden ist. Denn durch den zu Protokoll gegebenen Verwaltungsakt vom 30.9.2019 sind zwar individualisiert nach den beiden Klägern, aber ohne Differenzierung hinsichtlich der einzelnen Monate lediglich die Gesamtrückforderungsbeträge reduziert worden.
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Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
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