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BSG 27.06.2019 - B 5 R 101/18 B
BSG 27.06.2019 - B 5 R 101/18 B - (Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verstoß gegen § 123 SGG)
Normen
§ 62 SGG, § 96 Abs 1 SGG, § 106 Abs 1 SGG, § 112 Abs 2 S 2 SGG, § 123 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 133 BGB, Art 103 Abs 1 GG
Vorinstanz
vorgehend SG Düsseldorf, 1. September 2015, Az: S 15 R 2221/11, Urteil
vorgehend Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 12. Dezember 2017, Az: L 18 R 1140/15, Urteil
Tenor
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Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 12. Dezember 2017 aufgehoben.
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Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen zurückverwiesen.
Gründe
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I. Der Kläger begehrt von der Beklagten eine höhere Regelaltersrente.
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Dem 1930 geborenen Kläger bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 6.10.2009 Regelaltersrente ab dem 1.7.2003 in Höhe von 270,31 Euro monatlich (dynamisiert zuletzt 284,33 Euro). Dabei berücksichtigte sie die Zeit vom 1.9.1941 bis zum 27.9.1943 als Ghettobeitragszeiten iS des § 1 Abs 1 S 1 des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) und die Zeiten vom 14.9.1944 bis zum 31.12.1946 und vom 1.2.1947 bis zum 31.12.1949 als Ersatzzeiten iS des § 250 Abs 1 Nr 4 SGB VI. Im Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X lehnte die Beklagte eine Änderung dieses Bescheides ab (Bescheid vom 17.11.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.5.2011). Die Arbeitszeiten vom 1.9.1941 bis 27.9.1943 im Ghetto Wilna seien anerkannt worden. Eine (rentensteigernde) Berücksichtigung weiterer Zeiten bis August 1944 komme nicht in Betracht. Die anschließenden Beschäftigungen seien nicht in einem Ghetto ausgeübt worden. Soweit der Kläger 1944 zeitweilig eine Schule besucht habe, könne dies keine Berücksichtigung finden, weil diese Zeiten vor Vollendung des 17. Lebensjahres lägen.
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Mit Urteil vom 1.9.2015 hat das SG die Klage mit der Begründung abgewiesen, diese sei bis auf die Anträge zur Berücksichtigung weiterer Ghetto-Beitragszeiten und zu Schulzeiten als Anrechnungszeiten unzulässig und im Übrigen unbegründet. Mit Bescheid vom 20.10.2014 stellte die Beklagte - auf Antrag des Klägers - dessen Regelaltersrente auf der Grundlage des 1. ZRBG-Änderungsgesetzes vom 15.7.2014 (BGBl I 952) neu fest. Auch hiergegen hat sich der Kläger gewandt. Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Das Berufungsbegehren hat das LSG dahingehend ausgelegt, dass sich der Kläger nur noch gegen die Neuberechnung im Bescheid vom 20.10.2014 wende. Da dieser Bescheid nicht Gegenstand des Verfahrens geworden sei, habe das SG die Klage insoweit zu Recht abgewiesen. Im Übrigen sei die im Bescheid ausgewiesene Berechnung nicht zu beanstanden (Urteil vom 12.12.2017).
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Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger Beschwerde beim BSG eingelegt und einen Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG gerügt.
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II. Die Beschwerde des Klägers ist zulässig und begründet. Das LSG hat nicht über den Streitgegenstand des Berufungsverfahrens entschieden und damit gegen § 123 SGG verstoßen.
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Der Vortrag des Klägers genügt den Anforderungen des § 160a Abs 2 S 3 SGG. Indem der Kläger eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) durch eine Fehlinterpretation des Berufungsbegehrens rügt, macht er sinngemäß eine Verletzung des § 123 SGG geltend.
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Die Beschwerdebegründung legt eine Verletzung von § 123 SGG und damit einen Verfahrensmangel nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG hinreichend dar. Der Kläger schildert ausführlich den Verfahrensablauf vom Verwaltungsverfahren bis zum Abschluss des Berufungsverfahrens. Mit seinem Vorbringen, das LSG sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass er nur noch die Berechnung der Rente angreife, obwohl er mit Schreiben vom 7.3.2016 deutlich gemacht habe, dass er weiterhin die Feststellung zusätzlicher Versicherungszeiten begehre, rügt der Kläger eine von seinem Klagebegehren abweichende Entscheidung des LSG. Damit sind die Tatsachen, aus denen sich der Mangel ergeben soll, substantiiert dargetan und auch ausreichend vorgetragen, dass das angefochtene Urteil auf dem Mangel beruhen kann (vgl zu den generellen Anforderungen Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 160a RdNr 16 und 16c mwN).
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Die Beschwerde ist insofern auch begründet. Das LSG hat gegen den Grundsatz des § 123 SGG verstoßen.
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Nach § 123 SGG entscheidet das Gericht über die vom Kläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Bei unklaren Anträgen muss das Gericht mit den Beteiligten klären, was gewollt ist, und vor allem bei nicht rechtskundig vertretenen Beteiligten darauf hinwirken, dass sachdienliche und klare Anträge gestellt werden (§ 106 Abs 1, § 112 Abs 2 S 2 SGG; Keller, aaO, § 123 RdNr 3; Schmidt, aaO, § 112 RdNr 8). Im Übrigen ist das Gewollte, also das mit der Klage bzw der Berufung verfolgte Prozessziel, bei nicht eindeutigen Anträgen im Wege der Auslegung festzustellen (vgl etwa BSGE 63, 93, 94 = SozR 2200 § 205 Nr 65 S 180; BSG Urteil vom 8.12.2010 - B 6 KA 38/09 R - Juris). In entsprechender Anwendung der Auslegungsregel des § 133 BGB ist der wirkliche Wille zu erforschen. Dabei sind nicht nur der Wortlaut, sondern auch die sonstigen Umstände des Falles, die für das Gericht und die anderen Beteiligten erkennbar sind, zu berücksichtigen (vgl nur BSG Urteil vom 25.6.2002 - B 11 AL 23/02 R - Juris RdNr 21; BSG Beschluss vom 8.11.2005 - B 1 KR 76/05 B - SozR 4-1500 § 158 Nr 2). Im Zweifel ist davon auszugehen, dass nach Maßgabe des Meistbegünstigungsprinzips alles begehrt wird, was dem Kläger aufgrund des Sachverhalts rechtlich zusteht (vgl etwa BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 16). Diesen Anforderungen hat das LSG nicht genügt.
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Mit seiner Klage verfolgte der Kläger neben Änderungen der Berechnungsweise mit der Folge eines höheren Rentenzahlbetrages ua das Ziel, die Beklagte zu verpflichten, die Zeit vom 28.9.1943 bis August 1944 als eine weitere Ghettobeitragszeit iS des § 1 Abs 1 S 1 ZRBG und die Zeit von Anfang 1946 bis Anfang 1947 als Anrechnungszeit der Schulausbildung iS des § 58 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB VI rentensteigernd zu berücksichtigen. Dass der - im Berufungsverfahren nicht anwaltlich vertretene - Kläger gerade diese Anträge, die das SG als zulässig erachtet hat, in der Berufungsinstanz nicht aufrechterhalten wollte, ist nicht ersichtlich und entspricht nicht seinem wohlverstandenen Interesse. Wenn das LSG meint, "ausweislich des gesamten Berufungsvorbringens" sei Gegenstand des Berufungsverfahrens nur noch die Höhe der mit Bescheid vom 20.10.2014 neu festgestellten Regelaltersrente unter dem Aspekt der Reduzierung des Zahlbetrages infolge des früheren Rentenbeginns, berücksichtigt es nicht hinreichend den Vortrag des Klägers im Berufungsverfahren. Die Beschwerdebegründung verweist insoweit zu Recht auf das Schreiben des Klägers vom 7.3.2016 an das LSG. Dort beanstandet er die Berechnung seiner Rente, weil eine allgemeine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 50 bis 60 % zu berücksichtigen, eine Einstufung in den gehobenen Dienst vorzunehmen und weitere rentenrechtlich relevante Zeiten anzuerkennen seien. Das Urteil des LSG verhält sich zu diesem Schriftsatz nicht.
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Es spricht viel dafür, dass der Bescheid vom 20.10.2014 zumindest zum Teil nach § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden ist. Er ist nach § 3 Abs 6 ZRBG kraft Gesetzes an die Stelle des aufgehobenen Rentenbescheides vom 6.10.2009 getreten und hat die vom Kläger begehrten Zeiten, deren Berücksichtigung auch im Bescheid vom 17.11.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.5.2011 abgelehnt worden war, wiederum nicht festgestellt. Hätte sich, wie das LSG meint, der Bescheid vom 17.11.2010 gemäß § 39 Abs 2 SGB X erledigt und enthielte der Bescheid vom 20.10.2014 erstmalige Regelungen, wäre der Bescheid im Wege einer Klageänderung nach § 99 Abs 1 SGG in das Verfahren einbezogen worden. Der Kläger hat sich nämlich mit Schreiben vom 7.12.2014 und 31.5.2015 und damit innerhalb der in diesem Fall wegen einer falschen Rechtsbehelfsbelehrung geltenden Jahresfrist des § 66 Abs 2 S 1 SGG gegen den Bescheid vom 20.10.2014 gewandt. Angesichts der fehlenden rechtskundigen Vertretung des Klägers im Berufungsverfahren ist davon auszugehen, dass er den Bescheid vom 20.10.2014 in dem in seinem Schreiben vom 7.3.2016 konkretisierten Umfang angefochten hat. Die Beklagte, die ausweislich der Rechtsbehelfsbelehrung selbst davon ausging, dass der Bescheid gemäß § 96 SGG Gegenstand des anhängigen Klageverfahrens wurde, hat sich auch in der Sache zu dem Bescheid eingelassen und damit ihre Einwilligung zum Ausdruck gebracht. Sofern nicht im Hinblick auf die Besonderheiten des Falles ein Widerspruchsverfahren als entbehrlich anzusehen ist (vgl etwa BSG SozR 4-4200 § 22 Nr 15 RdNr 18 f), wird das LSG Gelegenheit zur kurzfristigen Nachholung des Vorverfahrens zu geben haben. Im Ergebnis wird das LSG den Bescheid vom 20.10.2014 und den Anspruch des Klägers für die Zeit ab dem 1.7.1997 im Rahmen des geltend gemachten Klagebegehrens vollumfänglich zu überprüfen haben.
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Es kann dahinstehen, ob ein weiterer Verfahrensfehler etwa in Gestalt einer Überraschungsentscheidung vorliegt. Eventuellen weiteren Mängeln kommt neben der Verletzung von § 123 SGG keine gesonderte Bedeutung zu (vgl BSG Beschluss vom 7.12.2017 - B 5 R 176/17 B - Juris RdNr 17).
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Nach § 160a Abs 5 SGG wird beim Vorliegen der Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.
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Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten.
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