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BVerfG 26.01.2021 - 2 BvR 1786/20
BVerfG 26.01.2021 - 2 BvR 1786/20 - Teilweise stattgebender Kammerbeschluss sowie Verlängerung einer einstweiligen Anordnung in einer Zwangsvollstreckungssache: Unzureichende Berücksichtigung der Suizidgefahr des Räumungsschuldners verletzt dessen Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art 2 Abs 2 S 1 GG)
Normen
Art 2 Abs 2 S 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 765a Abs 1 S 1 ZPO, § 765a Abs 3 ZPO, § 885 Abs 1 S 1 ZPO
Vorinstanz
vorgehend BVerfG, 15. Oktober 2020, Az: 2 BvR 1786/20, Einstweilige Anordnung
vorgehend LG Aachen, 26. August 2020, Az: 5 T 10/20, Beschluss
vorgehend AG Düren, 22. Januar 2020, Az: 31 M 216/20, Beschluss
Tenor
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Der Beschluss des Landgerichts Aachen vom 26. August 2020 - 5 T 10/20 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Aachen zurückverwiesen.
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Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
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Die einstweilige Aussetzung der Zwangsvollstreckung aus dem Versäumnisurteil des Amtsgerichts Düren vom 18. April 2019 - 42 C 315/18 - wird, soweit der Beschwerdeführer zur Räumung und Herausgabe der von ihm innegehabten Wohnung einschließlich Garage und zur Herausgabe sämtlicher Schlüssel verurteilt worden ist, bis zu einer erneuten Entscheidung des Landgerichts über die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers verlängert.
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Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
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I.
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Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Versagung von Vollstreckungsschutz gemäß § 765a ZPO in einem Räumungsverfahren.
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1. Der Beschwerdeführer ist im Jahr 1990 wegen vermuteter Suizidgefahr im Rahmen einer Zwangseinweisung psychiatrisch behandelt worden. Ausweislich mehrerer ärztlicher Atteste und Gutachten sowie einer amtsärztlichen Untersuchung soll der Beschwerdeführer an einem Wasch- und Reinigungszwang mit Krankheitswert leiden. Der Beschwerdeführer gab an, von 1995 bis 2005 bei der Deutschen Gesellschaft für Zwangserkrankte e.V. als von einer Zwangserkrankung Betroffener beratend tätig gewesen zu sein.
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2. Er war Mieter einer Wohnung. Den zugrundeliegenden Mietvertrag kündigte die Vermieterin (Gläubigerin) aufgrund von Mietrückständen. Durch rechtskräftig gewordenes Versäumnisurteil vom 18. April 2019 wurde der Beschwerdeführer insbesondere zur Räumung der Wohnung verurteilt.
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3. Allerdings hat der Beschwerdeführer die Wohnung bis heute nicht geräumt. Vielmehr machte er zunächst mehrfach erfolgreich Vollstreckungsschutz nach § 765a ZPO geltend.
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Ausweislich eines im Mai 2019 von einer Amtsärztin ausgestellten Attests vermeidet der Beschwerdeführer die medizinische Feststellung einer Suizidabsicht, weil er eine erneute zwangsweise Unterbringung (nach 1990) fürchte. Er äußere aber gegenüber Vertrauenspersonen Suizidabsichten. Die Amtsärztin beantragte sowohl im September 2019 als auch im Januar 2020 beim Betreuungsgericht eine Unterbringung nach dem nordrhein-westfälischen Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten. Jedoch wurden diese Anträge zurückgenommen, da die jeweils anberaumten Zwangsräumungstermine aufgrund gewährten Vollstreckungsschutzes entfielen.
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4. Zuletzt gewährte das Landgericht mit Beschluss vom 31. Oktober 2019 dem Beschwerdeführer Vollstreckungsschutz, gab diesem allerdings unter Beibehaltung und teilweiser Konkretisierung bisheriger Anordnungen auf, monatliche Entschädigungen für die Wohnraumnutzung zu leisten, sich unverzüglich in fachärztliche Behandlung zu begeben und dies nachzuweisen sowie sich intensiv um Ersatzwohnraum zu kümmern und seine Bemühungen glaubhaft zu machen.
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Der Beschwerdeführer kam diesen Auflagen aber nicht nach. Er zahlte nicht die vom Gericht angeordnete Entschädigung für die Wohnraumnutzung, da die Gläubigerin ihm keine Nebenkostenabrechnungen erteilt beziehungsweise vorgelegte Abrechnungen manipuliert habe. Zur Durchführung einer Therapie führte er aus, er wolle sich nur auf eine kognitive Verhaltenstherapie nach S3 - Leitlinie einlassen, für die es aber kurzfristig keine entsprechenden Therapieplätze gebe.
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Der Beschwerdeführer gab an, er suche Ersatzwohnraum, zumal er wegen der nicht erteilten beziehungsweise manipulierten Nebenkostenabrechnungen, der lauten Nachbarn, Verschmutzungen des Treppenhauses und Feuchtigkeitsschäden keinen Grund zum Verbleib in seiner jetzigen Wohnung sehe. Trotz dieser Einschätzung und unbeschadet der Zusage des Sozialamts, Fahrtkosten für die Suche nach Ersatzwohnraum sowie die Aufwendungen für eine Wohnung bis zu 20% über der angemessenen Miete eines Zweipersonenhaushalts zu übernehmen, nahm der Beschwerdeführer ein Wohnungsangebot der Gemeinde und ein Angebot des Gesundheitsamtes auf übergangsweise Aufnahme im Betreuten Wohnen nicht an.
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Weil der Beschwerdeführer demnach keiner der gerichtlichen Auflagen im Zusammenhang mit der Gewährung des Vollstreckungsschutzes nachgekommen war, lehnte das Amtsgericht mit verfahrensgegenständlichem Beschluss vom 22. Januar 2020 einen vom Beschwerdeführer erneut gestellten Vollstreckungsschutzantrag ab.
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5. Nachdem der Beschwerdeführer hiergegen sofortige Beschwerde eingelegt hatte, holte das Landgericht ein Sachverständigengutachten ein.
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a) In seinem Gutachten vom 16. Juli 2020 gelangte der Sachverständige zu dem Ergebnis, die vom Beschwerdeführer beklagte Schwere der Zwangsstörung sei in psychiatrischer Hinsicht nicht nachvollziehbar. Es scheine, als inszeniere sich der Beschwerdeführer in der Identität eines Zwangserkrankten.
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b) Hinsichtlich der Gefahr eines ernstlichen Schadens für die Gesundheit oder das Leben des Beschwerdeführers bei Fortsetzung der Zwangsvollstreckung - insbesondere der Zwangsräumung der Wohnung - gab der Sachverständige an, der Beschwerdeführer habe sich im Rahmen der Begutachtungssituation klar von Suizidalität distanziert. Dies sei möglicherweise auch Ausdruck des bisherigen vermeintlichen Obsiegens in der Form einer sich immer weiter hinauszögernden Entscheidung bei der Wohnungsräumung. Dennoch dürfe die Selbstgefährdung nicht bagatellisiert werden. Dies gelte sowohl durch selbstverletzendes Verhalten als auch durch Suizidalität insbesondere, wenn sich depressive Verstimmungen entwickeln würden, sollte der bisherige Verlauf irgendwann einmal von einer Entwicklung überholt werden, die den Vorstellungen des Beschwerdeführers zuwiderlaufe.
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c) Zur Frage, ob die gegebenenfalls vorhandene Gesundheits- oder Lebensgefahr durch geeignete Maßnahmen in Zukunft ausgeschlossen werden könne, gab der Sachverständige an, eine Zwangsräumung käme einer für den Beschwerdeführer bislang unbekannten Zuspitzung gleich, die ihm bei dessen mangelnder Bereitschaft, sich auf eine neue Wohnumgebung einzulassen, den Boden unter den Füßen wegziehen werde. Die Abwendung konkreter Gefahren aus der Zwangsräumung wäre dann am einfachsten, wenn der Beschwerdeführer die Zustimmung zu einem (noch zu findenden) Wohnraum gebe. Eine Räumung gegen den Willen des Beschwerdeführers wäre nur unter Aufbietung von Fachpersonal (Polizei, Rettungsdienst) durchführbar, um einem möglicherweise als Fanal angelegten Suizidvorhaben entgegenzuwirken. Es sei nicht anzunehmen, dass sich eine zwangsweise angeordnete Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik in nachhaltiger Weise positiv auf die psychische Gesundheit des Beschwerdeführers auswirken oder einen günstigen Einfluss auf eine gegebenenfalls sich entwickelnde Suizidalität haben würde. Möglicherweise würde eine derartige Zwangsmaßnahme das Suizidbestreben und die Entschlossenheit zur Umsetzung nur verstärken. Maßnahmen durch staatliche Stellen würden insgesamt wenig erfolgversprechend sein.
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d) Zudem konnte der Sachverständige eine psychische Störung, aufgrund derer der Beschwerdeführer keinen neuen Wohnraum anmieten oder kaufen könnte, nicht feststellen. Der Beschwerdeführer könne auch komplexe Zusammenhänge verstehen und entsprechend einer kognitiven Verarbeitung und Bewertung handeln. Es sei aber fraglich, ob er sich mit der Thematik eines Alternativwohnraums auseinandersetzen wolle. Eine gesetzliche Betreuung des Beschwerdeführers erscheine aufgrund fehlender Zustimmung und Mitarbeit nicht umsetzbar. Eine zielführende Zusammenarbeit zwischen gesetzlicher Betreuung und dem Beschwerdeführer sei nicht zu erwarten.
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6. Das Landgericht wies daraufhin unter Berücksichtigung der Ausführungen des Sachverständigen mit ebenfalls verfahrensgegenständlichem Beschluss vom 26. August 2020 die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers zurück.
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a) Eine konkrete schwerwiegende Gefahr für Leben und Gesundheit des Beschwerdeführers habe sich im Rahmen der durchgeführten Beweisaufnahme nicht bestätigt, sodass die Gläubigerinteressen aus Art. 14 Abs. 1 GG im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung deutlich überwiegen würden. So sei auf Gläubigerseite zu berücksichtigen, dass das Versäumnisurteil schon weit über ein Jahr rechtskräftig sei. Auf der anderen Seite habe sich weder die vom Beschwerdeführer durch Vorlage von Attesten vorgebrachte Suizidgefahr noch die Gefahr einer dramatischen Verschlechterung des Gesundheitszustandes verifizieren lassen. Der Sachverständige habe in seinem Gutachten nachvollziehbar dargelegt, dass sich der Beschwerdeführer im Rahmen der Begutachtung klar von Suizidalität distanziert habe und zum Zeitpunkt der Begutachtung eine akute dahingehende Gefahr nicht ersichtlich gewesen sei. Hierzu habe der Sachverständige ausdrücklich festgehalten, dass sich suizidale Gedanken mit handlungsweisendem Charakter nicht finden lassen würden und sich auch keine Hinweise auf das Vorliegen einer depressiven Symptomatik ergeben hätten. Insoweit habe die Begutachtung ergeben, dass die von dem Beschwerdeführer immer wieder vorgeschobene schwere Zwangsstörung aus psychiatrischer Sicht nicht nachvollziehbar sei.
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b) Das Landgericht sei auch angesichts der wohl querulatorischen Persönlichkeitsstörung des Beschwerdeführers überzeugt, dass bei einer Zwangsräumung keine dahingehende Gefahr aufkommen würde. Unabhängig hiervon könnte einem als Fanal angelegten Suizidvorhaben durch die Aufbietung von Fachpersonal (Polizei, Rettungsdienst) entgegengewirkt werden.
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c) Außerdem gehe mit der Zwangsräumung keine schwerwiegende Gefahr für die Gesundheit des Beschwerdeführers einher. Der Beschwerdeführer selbst beschreibe seine Wohnsituation als derart belastend und einschränkend, dass eine Veränderung dieser Situation - auch wenn sie mit Zwang durchgeführt werde - nicht als Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit bewertet werden könne. Wenn dieser Vortrag des Beschwerdeführers (als wahr) unterstellt werde, sei der Beschwerdeführer in dem derzeitigen Wohnraum aufgrund des Erlebten und der (baulichen) Zustände derart mit Leidensdruck in seinen Zwängen und der sozialen Isolation verhaftet, dass eine schwerwiegende Verschlechterung seines gesundheitlichen Zustandes durch eine räumliche Verlagerung - mögen auch dem Beschwerdeführer dann nicht alle Umstände genehm erscheinen - nicht anzunehmen sei.
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d) Ein in einem vorhergehenden Räumungsverfahren im November 2019 eingeleitetes Betreuungsverfahren mit dem Ziel, dem Beschwerdeführer in seiner besonderen Situation Hilfe zuteilwerden zu lassen, sei aufgrund seiner ablehnenden Haltung eingestellt worden. Das Landgericht sehe keine darüberhinausgehende Möglichkeit, den Beschwerdeführer seitens der Gerichte zu unterstützen.
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II.
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Mit seiner Verfassungsbeschwerde richtet sich der Beschwerdeführer gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 22. Januar 2020 und den Beschluss des Landgerichts vom 26. August 2020.
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Er sieht sich in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt. Entgegen dem Sachverständigengutachten sei er aufgrund seiner Zwangsstörung in seiner Lebensführung stark beeinträchtigt. Er sei nunmehr gegenüber Therapien resistent. Von ärztlicher Seite sei mehrfach klargestellt worden, dass ein hohes Suizidrisiko bestehe. Bei einer Zwangsräumung würde der Beschwerdeführer zu einem Pflegefall, falls er diesen "Überfall" überleben würde. Niemand könne einschätzen, was vor oder nach einer Zwangsräumung passiere.
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Darüber hinaus rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 3 Abs. 3 GG, Art. 10 GG, Art. 11 GG sowie Art. 19 Abs. 2 und Abs. 4 GG.
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III.
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Auf Antrag des Beschwerdeführers hat die Kammer am 15. Oktober 2020 eine einstweilige Anordnung nach § 32 BVerfGG erlassen und die Zwangsvollstreckung aus dem Versäumnisurteil des Amtsgerichts einstweilen bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens auf die Dauer von sechs Monaten, ausgesetzt, soweit der Beschwerdeführer zur Räumung und Herausgabe der von ihm innegehabten Wohnung einschließlich Garage und zur Herausgabe sämtlicher Schlüssel verurteilt worden ist.
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IV.
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Dem Ministerium der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen und der Gläubigerin wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Das Ministerium der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen hat ausdrücklich von einer Stellungnahme abgesehen.
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Die Akten des Ausgangsverfahrens haben der Kammer vorgelegen.
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V.
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1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG angezeigt ist. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Danach verstößt der Beschluss des Landgerichts vom 26. August 2020 gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.
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a) Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet die Vollstreckungsgerichte, bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 765a ZPO auch die Wertentscheidungen des Grundgesetzes und die dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte zu berücksichtigen. Eine unter Beachtung dieser Grundsätze vorgenommene Würdigung aller Umstände kann in besonders gelagerten Einzelfällen dazu führen, dass die Vollstreckung für einen längeren Zeitraum und - in absoluten Ausnahmefällen - auf unbestimmte Zeit einzustellen ist. Ergibt die erforderliche Abwägung, dass die der Zwangsvollstreckung entgegenstehenden, unmittelbar der Erhaltung von Leben und Gesundheit dienenden Interessen des Schuldners im konkreten Fall ersichtlich schwerer wiegen als die Belange, deren Wahrung die Vollstreckungsmaßnahme dienen soll, so kann der trotzdem erfolgende Eingriff das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und das Grundrecht des Schuldners aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzen. Vor allem haben die Vollstreckungsgerichte in ihrer Verfahrensgestaltung die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, damit Verfassungsverletzungen durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen ausgeschlossen werden und dadurch der sich aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ergebenden Schutzpflicht staatlicher Organe Genüge getan wird (vgl. BVerfGE 52, 214 219 f.>; BVerfGK 6, 5 10>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 8. August 2019 - 2 BvR 305/19 -, juris, Rn. 32, m.w.N.).
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Ist mit der Fortsetzung der Zwangsvollstreckung eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr verbunden, bedeutet dies noch nicht, dass ohne weiteres Vollstreckungsschutz nach § 765a ZPO gewährt werden muss. Vielmehr ist eine Einstellung der Zwangsvollstreckung nicht notwendig, wenn der Gefahr durch geeignete Maßnahmen begegnet werden kann. Dies setzt aber voraus, dass die Fachgerichte die Geeignetheit der Maßnahmen sorgfältig geprüft und insbesondere deren Vornahme sichergestellt haben (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 8. August 2019 - 2 BvR 305/19 -, juris, Rn. 33, m.w.N.).
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b) Daran gemessen trägt der Beschluss des Landgerichts vom 26. August 2020 dem Grundrecht des Beschwerdeführers auf Leben und körperliche Unversehrtheit nicht hinreichend Rechnung.
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aa) Die Überzeugung des Landgerichts, eine Suizidgefahr lasse sich nicht feststellen, berücksichtigt wesentliche Aspekte des von ihm eingeholten Sachverständigengutachtens nicht.
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(1) Zutreffend sind noch die Ausführungen des Landgerichts, der Beschwerdeführer habe sich im Rahmen der Begutachtung klar von der Suizidalität distanziert und zum Zeitpunkt der Begutachtung sei eine akute dahingehende Gefahr nicht ersichtlich gewesen. Richtig ist ebenfalls die Feststellung des Landgerichts, der Sachverständige habe ausdrücklich festgehalten, dass sich suizidale Gedanken mit handlungsweisendem Charakter nicht hätten finden lassen und sich auch keine Hinweise auf das Vorliegen einer depressiven Symptomatik ergeben hätten.
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(2) Allerdings lässt die Ablehnung einer konkreten Lebens- und Gesundheitsgefahr durch eine (Zwangs-)Räumung allein aufgrund der vorgenannten Umstände weitere Kernaussagen des Sachverständigengutachtens außer Acht, nach der eine Gesundheitsgefahr und eine Suizidalität nicht fernliegen.
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Der Sachverständige führt aus, soweit sich der Beschwerdeführer bisher klar von Suizidalität distanziert habe, sei dies möglicherweise auch Ausdruck des bisherigen vermeintlichen Obsiegens in der Form einer sich immer weiter hinauszögernden Entscheidung in Sachen Wohnungsräumung. Die Selbstgefährdung dürfte nicht bagatellisiert werden. Dies gelte sowohl durch selbstverletzendes Verhalten als auch durch Suizidalität, insbesondere, wenn sich depressive Verstimmungen entwickeln, sollte der bisherige Verlauf - also die mehrfache Gewährung von Räumungsschutz - irgendwann einmal von einer Entwicklung überholt werden, die den Vorstellungen des Beschwerdeführers zuwiderlaufe. Diese Beurteilung des Sachverständigen findet in den Entscheidungsgründen des Landgerichts keine Erwähnung. Da der Sachverständige überdies trotz der auch von ihm angenommenen Inszenierungen hinsichtlich der Zwänge, die das Landgericht als gewichtiges Indiz gegen eine Suizidalität wertete, bei einer Zwangsräumung als Zuspitzung der bisherigen Situation ein möglicherweise als Fanal angelegtes Suizidvorhaben nicht ausschließen konnte, ist die Überzeugung des Landgerichts nicht nachvollziehbar, eine Gesundheits- beziehungsweise Suizidgefahr habe sich nicht verifizieren lassen.
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bb) Des Weiteren hat das Landgericht nicht berücksichtigt, dass das Vollstreckungsgericht die der Suizid- und Gesundheitsgefahr effektiv entgegenwirkenden Maßnahmen sorgfältig prüfen und deren Vornahme sicherstellen muss (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 8. August 2019 - 2 BvR 305/19 -, juris, Rn. 33, m.w.N.).
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(1) Insbesondere war eine sorgfältige Prüfung von Maßnahmen, die einer Gefahr für die in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Rechtsgüter effektiv entgegenwirken, auch unter Berücksichtigung des vom Landgericht eingeholten Sachverständigengutachtens nicht entbehrlich.
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In dem Gutachten werden solche Maßnahmen nicht abschließend benannt. Wenn der Sachverständige ausführt, die Abwendung konkreter Gefahren aus einer Zwangsräumung wäre dann am einfachsten, wenn der Beschwerdeführer seine Zustimmung zu einem (noch zu findenden) Wohnraum gebe, lässt er offen, unter welchen Voraussetzungen eine solche Zustimmung gegeben werden könnte. Das Landgericht ist dieser Frage ebenfalls nicht nachgegangen und ist damit auch insoweit den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen des Lebens- und Gesundheitsschutzes nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht gerecht geworden.
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Das Landgericht wird vielmehr den im Einzelfall erkennbaren Möglichkeiten einer Gefahrabwendung unter Ausschöpfung der ihm zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten nachzugehen haben. Insbesondere könnte gegebenenfalls die Anhörung des Sachverständigen und des Beschwerdeführers vonnöten sein.
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Jedenfalls erscheint nach Aktenlage eine Mitwirkung des Beschwerdeführers nicht von vornherein als ausgeschlossen. Der Sachverständige hat im Rahmen der psychiatrischen Untersuchung keine Hinweise auf das Vorliegen höhergradiger Störungen von Auffassung, Merkfähigkeit, Konzentration und Exekutivfunktionen feststellen und ausdrücklich keine solche psychische Störung diagnostizieren können, die dem Beschwerdeführer bei der Suche nach Ersatzwohnraum entgegenstünde. Insoweit hat der Beschwerdeführer in den Vollstreckungsschutzverfahren mehrfach angegeben, er sei mit seiner aktuellen Wohnsituation unzufrieden und werde sich Ersatzwohnraum suchen. Für eine entsprechende Absicht spricht überdies, dass dem Beschwerdeführer vom Sozialamt Fahrtkostenzuschüsse für die Suche von Ersatzwohnraum und höhere sozialrechtliche Leistungen für dessen Anmietung zugesagt wurden und dies auf Bemühungen des Beschwerdeführers zurückgeht. Zwar hat der Beschwerdeführer mehrere Wohnungsangebote der Gemeinde ausgeschlagen. Sollte er dabei davon ausgegangen sein, eine Suizidgefahr reiche per se für die Gewährung von Räumungsschutz aus, könnte das Landgericht dem allerdings unter Zugrundelegung der genannten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch die Erteilung entsprechender richterlicher Hinweise begegnen.
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Soweit der Sachverständige festgestellt hat, eine zielführende Zusammenarbeit zwischen gesetzlicher Betreuung und dem Beschwerdeführer sei nicht zu erwarten und eine Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen sei wenig erfolgversprechend, könnte - trotz des Umstands, dass sich der Beschwerdeführer als resistent gegenüber Therapien sieht - die Prüfung zu erwägen sein, ob der Beschwerdeführer bei der Inanspruchnahme von Schutzmaßnahmen für das Leben und die Gesundheit - zumindest für die Suche nach Ersatzwohnraum - das gegebenenfalls ergänzende Angebot privatrechtlich organisierter Hilfseinrichtungen anzunehmen bereit wäre, zumal er - jedenfalls nach eigenem Bekunden - für die Deutsche Gesellschaft für Zwangsstörungen e.V. viele Jahre beratend tätig gewesen sein soll, sodass er einer solchen Alternative offener gegenüberstehen könnte.
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(2) Sollte die sorgfältige Prüfung des Landgerichts ergeben, dass es zu einer Zwangsräumung der vom Beschwerdeführer genutzten Wohnung kommen wird, ist darauf hinzuweisen, dass das Gericht die Entscheidung über die Notwendigkeit von Schutzmaßnahmen im Rahmen der Zwangsräumung nicht dem Verantwortungsbereich Dritter überlassen darf (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 5. November 2007 - 1 BvR 2246/07 -, juris, Rn. 19). Vielmehr hat das Vollstreckungsgericht insbesondere selbst zu prüfen, wie einer Gefahr für Leib und Leben gegebenenfalls zu begegnen ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 21. November 2012 - 2 BvR 1858/12 -, juris, Rn. 17) und in eigener Zuständigkeit sicherzustellen, dass die zuständigen öffentlichen Stellen rechtzeitig tätig werden (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Mai 2019 - 2 BvR 2425/18 -, juris, Rn. 20).
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Demgegenüber hat das Landgericht in der verfahrensgegenständlichen Entscheidung nur seine Überzeugung geäußert, dass einer sich möglichweise im Rahmen der Räumung entwickelnden Suizidalität mit geeigneten Maßnahmen entgegengetreten werden könne, und nennt - in Anlehnung an das Sachverständigengutachten - "die Aufbietung von Fachpersonal (Polizei, Rettungsdienst)". Der aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgenden Schutzpflicht wird dieser allgemeine Hinweis auf Fachpersonal (hier: Gerichtsvollzieher, der die Polizei oder die Feuerwehr herbeirufen möge) nicht gerecht. Weder wird hieraus deutlich, welche konkreten Maßnahmen zu ergreifen sind, noch wird hinreichend sichergestellt, dass die Zwangsvollstreckung bis zur Durchführung geeigneter, dem Grundrechtsschutz des Beschwerdeführers Rechnung tragender Maßnahmen tatsächlich unterbleibt (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 5. November 2007 - 1 BvR 2246/07 -, juris, Rn. 21).
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c) Da die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts vom 26. August 2020 bereits wegen Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verfassungswidrig ist, kann offenbleiben, ob dadurch auch die weiteren Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte verletzt sind, auf die sich der Beschwerdeführer beruft (vgl. nur BVerfGE 42, 64 78 f.>).
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2. Der Beschluss des Landgerichts vom 26. August 2020 war wegen des Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG aufzuheben (§ 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG). Die Zurückverweisung der Sache an das Landgericht beruht auf § 95 Abs. 2 BVerfGG.
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3. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Aufgrund der Zurückverweisung der Sache an das Landgericht steht der Rechtsweg zur Entscheidung über die verfassungsrechtlichen Einwendungen gegen die Entscheidungen des Amtsgerichts wieder offen, sodass die Verfassungsbeschwerde insoweit nach dem in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommenden Grundsatz der Subsidiarität nicht zur Entscheidung anzunehmen war (vgl. BVerfGK 7, 350 357>; 15, 37 53>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Mai 2019 - 2 BvR 2425/18 -, juris, Rn. 28, m.w.N.).
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4. Da allein die Aufhebung des Beschlusses des Landgerichts vom 26. August 2020 noch nicht zu einer Einstellung des Zwangsvollstreckungsverfahrens führt, war die einstweilige Aussetzung der Zwangsvollstreckung aus dem Räumungsurteil vom 18. April 2019 bis zum Erlass einer erneuten Entscheidung des Landgerichts zu verlängern (vgl. BVerfGK 6, 5 13>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. September 2003 - 1 BvR 1920/03 -, juris, Rn. 17; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Juli 2016 - 2 BvR 548/16 -, juris, Rn. 22).
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5. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf § 34a Abs. 2 und Abs. 3 BVerfGG.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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