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BVerfG 15.03.2010 - 1 BvR 722/10
BVerfG 15.03.2010 - 1 BvR 722/10 - Erlass einer einstweiligen Anordnung, die sofortige Vollziehung der Entziehung der Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung einstweilen auszusetzen
Normen
Art 12 Abs 1 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 95 Abs 1 S 1 SGB 5, § 95 Abs 6 SGB 5
Vorinstanz
vorgehend Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, 9. Februar 2010, Az: L 7 KA 169/09 B ER, Beschluss
vorgehend SG Berlin, 20. November 2009, Az: S 83 KA 673/09 ER, Beschluss
nachgehend BVerfG, 8. September 2010, Az: 1 BvR 722/10, Einstweilige Anordnung
nachgehend BVerfG, 8. November 2010, Az: 1 BvR 722/10, Stattgebender Kammerbeschluss
Tenor
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Die sofortige Vollziehung des Beschlusses des Berufungsausschusses für Ärzte, Zulassungsbezirk Berlin, vom 15. Juli 2009, mit dem unter Zurückweisung des Widerspruchs gegen den Beschluss des Zulassungsausschusses für Ärzte vom 27. April 2009 der Beschwerdeführerin die Zulassung zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung entzogen wurde, wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, vorläufig ausgesetzt.
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Gründe
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I.
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Die Beschwerdeführerin, die ein medizinisches Versorgungszentrum betreibt, wendet sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Entziehung ihrer Zulassung zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung.
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Sie rügt eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4, jeweils in Verbindung mit Art. 19 Abs. 3 GG, und begehrt den Erlass einer einstweiligen Anordnung.
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II.
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Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet.
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1. Nach §§ 32, 93d Abs. 2 BVerfGG kann die Kammer im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 88, 25 35>; 89, 109 110 f.>).
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2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet.
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Durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Entziehung der Zulassung zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung wird die berufliche Betätigung der Beschwerdeführerin beeinträchtigt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind solche vorläufigen Eingriffe in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit nur unter strengen Voraussetzungen zum Schutze wichtiger Gemeinschaftsgüter und unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit statthaft. Die hohe Wahrscheinlichkeit, dass das Hauptsacheverfahren zum Nachteil des Betroffenen ausgehen wird, reicht nicht aus. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung setzt vielmehr voraus, dass überwiegende öffentliche Belange es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Betroffenen gegen die Grundverfügung einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten (vgl. BVerfGE 44, 105 117 ff.>; stRspr). Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, hängt von einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls und insbesondere davon ab, ob eine weitere Berufstätigkeit schon vor Rechtskraft des Hauptsacheverfahrens konkrete Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter befürchten lässt (vgl. BVerfGK 2, 89 94>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 19. Dezember 2007 - 1 BvR 2157/07 -, NJW 2008, S. 1369 f. m.w.N.).
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Des Weiteren gewährt das Verfahrensgrundrecht des Art. 19 Abs. 4 GG nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes; der Grundrechtsträger hat einen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. BVerfGE 35, 263 274>; 35, 382 401 f.>; 93, 1 13>; stRspr). Der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG kommt daher nicht nur die Aufgabe zu, jeden Akt der Exekutive, der in Rechte des Grundrechtsträgers eingreift, vollständig der richterlichen Prüfung zu unterstellen, sondern auch irreparable Entscheidungen, wie sie durch die sofortige Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme eintreten können, soweit als möglich auszuschließen (vgl. BVerfGE 35, 263 274>). Nur überwiegende öffentliche Belange können es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Grundrechtsträgers einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten. Dabei ist der Rechtsschutzanspruch umso stärker und darf umso weniger zurückstehen, je schwerwiegender die auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahmen der Verwaltung Unabänderliches bewirken (vgl. BVerfGE 35, 382 402>).
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Ob die angegriffenen Beschlüsse diesen Maßstäben Rechnung tragen, ist zweifelhaft und bedarf der Überprüfung im Verfassungsbeschwerdeverfahren. Dabei wird namentlich zu prüfen sein, ob das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Entzugs der Zulassung zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung mit ausschließlich generalpräventiven Überlegungen begründet werden kann, wie dies vom Landessozialgericht angenommen wurde. Auch wird zu prüfen sein, ob die schwerwiegenden Folgen, die für die Beschwerdeführerin mit der Anordnung des Sofortvollzugs verbunden sind, in angemessener Weise gegen das öffentliche Interesse an einer sofortigen Vollziehung abgewogen wurden.
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3. Die hiernach gebotene Folgenabwägung führt zum Erlass der einstweiligen Anordnung.
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Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde aber als begründet, so entstünden der Beschwerdeführerin durch den Sofortvollzug der Entziehung der Zulassung zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung schwere und nahezu irreparable berufliche und wirtschaftliche Nachteile. Sie müsste den Betrieb des medizinischen Versorgungszentrums ab dem 1. April 2010 einstellen. Infolgedessen würde sie das medizinische Versorgungszentrum aufgeben und ihren angestellten Ärzten und Mitarbeitern kündigen müssen. Zugleich würde sie den Patientenstamm ihres medizinischen Versorgungszentrums verlieren. Diese Konsequenzen wären bei einem späteren Erfolg der Verfassungsbeschwerde praktisch kaum noch rückgängig zu machen.
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Erginge die einstweilige Anordnung, hätte die Verfassungsbeschwerde später aber keinen Erfolg, so könnte die Beschwerdeführerin ihr medizinisches Versorgungszentrum einstweilen weiter betreiben. Für die Gesundheit der dort versorgten Patienten drohen hierdurch nach den im Ausgangsverfahren getroffenen Feststellungen keine Gefahren. Es ist danach auch nicht konkret anzunehmen, dass die Beschwerdeführerin bei einer weiteren Berufstätigkeit während des Verfahrens ihre Pflichten verletzen wird; eine Wiederholungsgefahr wurde vom Landessozialgericht nicht gesehen. Soweit das Landessozialgericht generalpräventive Erwägungen im Hinblick auf den Betrieb von medizinischen Versorgungszentren angestellt hat, ist nicht ersichtlich, dass sich entsprechende Gefahren infolge des Erlasses der einstweiligen Anordnung gerade während des laufenden Verfassungsbeschwerdeverfahrens realisieren könnten.
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Die aufgezeigten Folgen einer weiteren Betätigung der Beschwerdeführerin fallen somit weniger stark ins Gewicht, während andererseits die beruflichen Folgen für die Beschwerdeführerin bei Ablehnung der einstweiligen Anordnung existenziell wären. Die grundrechtlich geschützten Belange der Beschwerdeführerin überwiegen daher das Interesse der Allgemeinheit an der sofortigen Vollziehung der Entziehung der Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung.
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4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 3 BVerfGG.
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5. Wegen der besonderen Dringlichkeit ergeht diese Entscheidung unter Verzicht auf die Anhörung der anderen Beteiligten des Ausgangsverfahrens (§ 32 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG).
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