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BFH 22.03.2012 - XI B 1/12
BFH 22.03.2012 - XI B 1/12 - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Verstreichen der Frist für die Einlegung einer Nichtzulassungsbeschwerde - Haftung: Zurückverweisung an FG wegen unzureichender Ermittlung der Schadenshöhe
Normen
§ 6 Abs 1 Nr 2 FGO, § 56 Abs 1 FGO, § 56 Abs 2 FGO, § 76 Abs 1 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 116 Abs 2 S 1 FGO, § 116 Abs 3 FGO, § 116 Abs 6 FGO, § 34 AO, § 69 AO, § 13b Abs 2 S 2 UStG 2005, § 13b Abs 1 S 1 Nr 4 UStG 2005, § 62 Abs 4 FGO, § 142 FGO, § 114 ZPO
Vorinstanz
vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg, 27. Juli 2011, Az: 12 K 3840/10, Urteil
Leitsatz
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1. NV: Wird dem Kläger für die Einlegung der Beschwerde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt, so beträgt die Frist für die Nachholung der Begründung der Beschwerde zwei Monate ab Zustellung des PKH gewährenden Beschlusses .
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2. NV: Wendet sich der Kläger gegen einen Haftungsbescheid mit der Begründung, es sei kein oder ein geringerer Haftungsschaden entstanden, so muss das FG von Amts wegen das Entstehen eines Haftungsschadens dem Grunde und der Höhe nach aufklären .
Tatbestand
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I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) wendet sich gegen seine Inanspruchnahme als Haftender nach §§ 34, 69 der Abgabenordnung durch Haftungsbescheid des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt --FA--) vom 23. Dezember 2009 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 17. September 2010. Es geht im Wesentlichen um Umsatzsteuerschulden einer R-GmbH. Der Kläger war einer der alleinvertretungsberechtigten Geschäftsführer der R-GmbH, deren Geschäftsgegenstand u.a. in einer Tätigkeit als Bauträger bestand.
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Das Finanzgericht (FG) --der Einzelrichter-- hat die Klage durch Urteil vom 27. Juli 2011 12 K 3840/10 abgewiesen. Es hat u.a. ausgeführt, der Kläger müsse sich den Steuerausfall zurechnen lassen, der dadurch entstanden sei, dass die R-GmbH als Empfängerin von Bauleistungen keine Umsatzsteuer gemäß § 13b Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) entrichtet habe. Insoweit habe sich die R-GmbH --"aufgrund der grob fahrlässigen Pflichtvergessenheit" des Klägers-- der Geldmittel begeben, die sie zur Tilgung der auf diese Bauleistungen entstandenen Umsatzsteuer benötigt hätte.
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Der nicht vertretene Kläger beantragte für eine noch einzulegende Beschwerde wegen der Nichtzulassung der Revision im Urteil des FG innerhalb der Beschwerdefrist (§ 116 Abs. 2 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) Prozesskostenhilfe (PKH), die der erkennende Senat mit Beschluss vom 6. Dezember 2011 XI S 9/11 (PKH) gewährte.
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Der Kläger macht zum einen geltend, seine Haftung für die Steuerschuld der R-GmbH komme deshalb nicht in Betracht, weil die unterlassene Einbehaltung der Umsatzsteuer für die der R-GmbH erbrachten Bauleistungen zu keinem Schaden des Steuergläubigers (Fiskus) geführt habe. Die R-GmbH als Leistungsempfängerin habe ebenso wie ihre Auftragnehmer nicht gewusst, dass die Regelung des § 13b Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 UStG anzuwenden sei. Sie habe deshalb die Umsatzsteuer, die ihr von den leistenden Unternehmern für die erbrachten Lieferungen und Leistungen in den Rechnungen ausgewiesen worden sei, an diese überwiesen; diese Umsatzsteuer sei von den Unternehmern an deren Finanzämter abgeführt worden. Das sei bei der durchgeführten Umsatzsteuer-Sonderprüfung festgestellt worden. Im Ergebnis sei daher kein Schaden entstanden. Die Klärung der Frage, ob eine Haftung in einem solchen Fall deshalb nicht in Betracht komme, weil es an einem kausal verursachten Schaden fehle, sei von grundsätzlicher Bedeutung.
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Zum anderen bedürfe es einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Fortbildung des Rechts über die Frage eines Mitverschuldens des FA. Das FA hätte aus dem Schriftwechsel erkennen können, dass es sich um Bauleistungen handelte und dass die R-GmbH als Leistungsempfängerin nach § 13b Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 UStG aufgrund der Umkehr der Steuerlast zu der Abführung der ihr in Rechnung gestellten Umsatzsteuer verpflichtet war. Die bisher ergangenen Entscheidungen des BFH gäben keinen Aufschluss darüber, weil diese nicht zu den Fällen einer Umkehr der Steuerschuldnerschaft ergangen seien.
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Weiter rügt der Kläger Verfahrensfehler. Das FG habe zunächst im Beschluss vom 10. Dezember 2010 12 V 4147/10 PKH versagt. Auf das dagegen vom Kläger mit Schreiben vom 29. Dezember 2010 eingelegte Rechtsmittel habe das FG erst mit Beschluss vom 20. Januar 2012 PKH gewährt, und damit erst nachdem bereits über die Klage mit Urteil vom 27. Juli 2011 entschieden worden sei. Es stelle einen gravierenden Rechtsverstoß dar, PKH erst nach Abschluss der Instanz zu gewähren.
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Ferner habe das FG seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt durch unzureichende Gewährung von Akteneinsicht sowie durch eine Verletzung der richterlichen Hinweispflicht; es habe ihn ferner nicht ausreichend über Verfahrensfragen aufgeklärt.
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Schließlich habe das FG gegen seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts verstoßen. Trotz umfangreicher Beweisangebote habe es nicht ermittelt, ob überhaupt ein Schaden entstanden sei, bzw. in welcher Höhe.
Entscheidungsgründe
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II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Sie führt nach § 116 Abs. 6 FGO zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung.
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1. Die Beschwerde ist zulässig. Dem Kläger ist für seine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des FG Baden-Württemberg vom 27. Juli 2011 12 K 3840/10 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (vgl. § 56 FGO) zu gewähren.
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a) Wird die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil eines FG nach § 116 Abs. 1 FGO durch Beschwerde angefochten, so ist die Beschwerde nach § 116 Abs. 2 FGO innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem BFH einzulegen und nach § 116 Abs. 3 Satz 1 FGO innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Beide Fristen sind im Streitfall nicht gewahrt worden, denn das Urteil des FG ist dem Kläger bereits am 3. August 2011 zugestellt worden.
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b) Was die Frist zur Einlegung der Beschwerde angeht, ist dem Kläger nach § 56 Abs. 1 FGO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Denn wer selbst nicht über die nach § 62 Abs. 4 FGO für ein Auftreten vor dem BFH erforderliche besondere fachliche Qualifikation verfügt und nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen gemäß § 114 der Zivilprozessordnung (ZPO), der im finanzgerichtlichen Verfahren nach § 142 FGO sinngemäß anzuwenden ist, die Kosten für die Beauftragung einer zum Auftreten vor dem BFH nach § 62 Abs. 4 FGO befugten Person nicht aufbringen kann und deshalb die Frist für die Einlegung einer Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision in einem Urteil des FG verstreichen lassen muss, tut dies, ohne dass ihm daraus i.S. des § 56 Abs. 1 FGO ein Schuldvorwurf gemacht werden kann, sofern er innerhalb der Frist des § 116 Abs. 2 Satz 1 FGO alles in seiner Macht Stehende unternimmt, damit für ihn durch eine entsprechend § 62 Abs. 4 FGO qualifizierte Person oder Gesellschaft das Rechtsmittel eingelegt werden kann, nachdem ihm nach § 142 FGO, § 114 ZPO PKH gewährt worden ist (vgl. BFH-Beschluss vom 13. März 2003 VII B 196/02, BFHE 201, 425, BStBl II 2003, 609).
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Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Der Kläger hat innerhalb der Frist des § 116 Abs. 2 Satz 1 FGO einen zulässigen und begründeten PKH-Antrag gestellt, aufgrund dessen ihm PKH gewährt worden ist. Mit der Zustellung des diesbezüglichen Beschlusses am 23. Dezember 2011 ist das Hindernis weggefallen, das den Kläger zunächst an der Einlegung der Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision hinderte und das für die Versäumnis der Frist des § 116 Abs. 2 Satz 1 FGO verantwortlich war. Die Beschwerde ist somit am 30. Dezember 2011 fristgerecht innerhalb der Frist des § 56 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 FGO eingegangen.
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c) Die Frist für die Nachholung der Begründung der Beschwerde beträgt zwei Monate ab Zustellung des PKH gewährenden Beschlusses des BFH (vgl. BFH-Beschluss in BFHE 201, 425, BStBl II 2003, 609). Die Beschwerdebegründung ist am 14. Februar 2012 und damit gleichfalls fristgerecht beim BFH eingegangen.
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2. Die Beschwerde ist begründet.
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Das FG hat den Sachverhalt hinsichtlich des Entstehens eines Haftungsschadens unter Verletzung des § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO nicht (hinreichend) erforscht. Die Vorentscheidung kann auf dem Verfahrensfehler beruhen.
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Der Kläger hat im Streitfall im Klageverfahren das Vorliegen eines Haftungsschadens schriftlich und in der mündlichen Verhandlung mit der substantiierten Begründung bestritten, die R-GmbH habe die ihr in Rechnung gestellten Umsatzsteuern entrichtet, weil von allen beteiligten Unternehmern die gebotene Anwendung von § 13b UStG verkannt worden sei. Diese von der R-GmbH entrichteten Umsatzsteuern seien von den leistenden Unternehmern auch an die jeweiligen Finanzämter abgeführt worden. Hierzu hat das FA ausweislich der Darstellung im Tatbestand des FG-Urteils vorgetragen, es gebe Rechnungen, die nachträglich berichtigt worden seien. Im Übrigen habe der andere Geschäftsführer B ausgesagt, die Rechnungen seien nachträglich "zum überwiegenden Teil geändert und die Umsatzsteuer erstattet oder verrechnet" worden.
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Vor diesem Hintergrund hätte das FG von Amts wegen nach § 76 Abs. 1 FGO den Sachverhalt hinsichtlich des Entstehens eines Haftungsschadens dem Grunde und der Höhe nach insoweit aufklären müssen. Dies war aus der Sicht des FG auch entscheidungserheblich, da es zutreffend das Vorhandensein eines Haftungsschadens für die Inanspruchnahme des Klägers durch Haftungsbescheid für erforderlich hielt (vgl. Seite 27 des FG-Urteils). Schließlich hat sich eine weitere Sachaufklärung aus Sicht des FG auch aufgedrängt, da dem FG der widersprüchliche Vortrag der Beteiligten bekannt war. Das Unterlassen dieser von Amts wegen erforderlichen Sachaufklärung hat der Kläger zutreffend als in Betracht kommenden Verfahrensfehler i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO gerügt (vgl. Ziff. 1 Buchst. d bis f der Beschwerdebegründung).
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3. Es erscheint sachgerecht, nach § 116 Abs. 6 FGO die Vorentscheidung aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen, da im Streitfall angesichts des nicht hinreichend aufgeklärten Sachverhalts von einer Revisionsentscheidung keine weitere rechtliche Klärung zu erwarten ist (vgl. BFH-Beschlüsse vom 17. September 2003 I B 18/03, BFH/NV 2004, 207; vom 29. Januar 2010 II B 107/09, BFH/NV 2010, 938).
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Das FG wird unter Beachtung des § 6 Abs. 1 Nr. 2 FGO die notwendigen Feststellungen nachholen. Es wird insbesondere zunächst aufklären, inwieweit die Umsatzsteuer, für die der Kläger als ehemaliger Gesellschafter der R-GmbH zur Haftung herangezogen werden soll, tatsächlich von den Auftragnehmern der R-GmbH für die erbrachten Lieferungen und Leistungen in deren Rechnungen ausgewiesen worden und an diese überwiesen worden ist, und ob diese Umsatzsteuer von den Auftragnehmern an deren Finanzämter abgeführt worden ist.
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4. Die Übertragung der Kostentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
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