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BFH 27.04.2010 - X B 164/08
BFH 27.04.2010 - X B 164/08 - (Verletzung von § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO)
Normen
§ 96 Abs 1 S 1 FGO
Vorinstanz
vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht, 17. Juni 2008, Az: 12 K 115/08, Urteil
Leitsatz
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NV: Die Verpflichtung zur Auswertung der Akten besteht nur hinsichtlich solcher Vorgänge, die unmittelbar Gegenstand des Rechtsstreits sind. Greift ein Kläger einen im Einspruchsverfahren von ihm vorgetragenen Gesichtspunkt im Klageverfahren nicht mehr auf, dann muss das FG im Rahmen von § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO nicht prüfen, ob in den Akten Vorgänge vorhanden sind, die sich auf diesen früheren Vortrag beziehen.
Gründe
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Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die in der Beschwerdebegründung des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger) geltend gemachten Gründe für die Zulassung der Revision (§ 115 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) liegen nicht vor.
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1. Das angefochtene Urteil des Finanzgerichts (FG) beruht nicht auf einem Verfahrensfehler (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
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Zwar kann ein Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO und damit ein Verfahrensfehler dann gegeben sein, wenn das FG seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde legt, der dem schriftlich festgehaltenen Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht, oder wenn eine nach den Akten klar feststehende Tatsache unberücksichtigt geblieben ist (ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs --BFH--; vgl. z.B. Beschluss vom 7. April 2005 IX B 194/03, BFH/NV 2005, 1354; Senatsbeschluss vom 22. Februar 2005 X B 177/03, BFH/NV 2005, 909). Die Verpflichtung des FG zur Auswertung der ihm vorliegenden Akten ist indessen nicht unbegrenzt. Die Vorschrift des § 96 Abs. 1 FGO, nach der der finanzgerichtlichen Überzeugungsbildung das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde zu legen ist, drückt das Erfordernis einer quantitativen Vollständigkeit des Prozessstoffs aus (BFH-Beschluss vom 27. September 2007 XI B 194/06, BFH/NV 2008, 87; Seer in Tipke/Kruse, FGO, § 96 Rz 9). Was Gegenstand des Streitprogramms ist, wird von den Beteiligten bestimmt. Dementsprechend beschränkt sich die Pflicht zur Auswertung der Akten auf Vorgänge, die unmittelbar Gegenstand des Rechtsstreits sind.
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Die Anwendung dieser Grundsätze auf den Streitfall führt zu dem Ergebnis, dass das FG nicht in verfahrensfehlerhafter Weise seine Pflicht zur vollständigen Auswertung der Akten verletzt hat.
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Zwar hat der Kläger vorgetragen, in den ihn betreffenden Einkommensteuerakten, die der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) dem FG vorgelegt hatte, sei ein Aktenvermerk enthalten, den das FG bei seiner Entscheidung unberücksichtigt gelassen habe. Dieser beziehe sich auf seinen am 16. Juni 2000 gegen die Festsetzung von Aussetzungszinsen gerichteten Einspruch, den er damit begründet habe, eine Festsetzung dieser Zinsen sei nicht vorzunehmen. Mit der Steuerfahndung, der Staatsanwaltschaft und mit dem FA sei abgesprochen gewesen, dass ab Zahlung der zum Zweck der Haftverschonung zu erbringenden Kaution, "die letztlich der Bezahlung der Steuern diene, die Verzinsung ablaufen müsse". Ausweislich des Inhalts des Aktenvermerks vom 5. Juli 2000 habe der Sachbearbeiter der Rechtsbehelfsstelle mit dem zuständigen Mitarbeiter der Steuerfahndung (Herr X) Kontakt aufgenommen, der den klägerischen Vortrag bestätigt habe. Ausweislich eines weiteren Aktenvermerks habe der Sachbearbeiter der Rechtsbehelfsstelle mit einem Mitarbeiter der Vollstreckungsstelle (Herr Z) telefoniert. Dieser habe mitgeteilt, dass der Auszahlungsanspruch bezüglich der Kaution vom FA am 5. März 1998 gepfändet worden sei. In dem Vermerk sei festgehalten, dass die Zinsen deshalb zu erlassen seien. Auf Grund dieser Vermerke habe sich zugleich die Richtigkeit des klägerischen Vortrags bestätigt, wegen dieser Absprache sei das FA im Hinblick auf die geleistete Kaution auch nicht berechtigt, Säumniszuschläge gegen den Kläger festzusetzen.
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Selbst wenn man davon ausgeht, dass diese Aktenvermerke auch auf eine Absprache im Hinblick auf die hier zu beurteilenden Säumniszuschläge hinweisen, liegt ein Verfahrensfehler des FG nicht vor. Zwar hat das FG diese Aktenvermerke im Tatbestand seines Urteils nicht erwähnt und sie auch in den Entscheidungsgründen nicht gewürdigt. Hieraus ergibt sich jedoch kein Verfahrensfehler, der zur Zulassung der Revision führen könnte. Denn der Kläger hat sein Begehren auf Änderung des streitigen Abrechnungsbescheids wegen der in Frage stehenden Säumniszuschläge im finanzgerichtlichen Verfahren nicht auf den Gesichtspunkt einer angeblichen Absprache mit dem FA gestützt.
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Der Kläger hat allerdings seinen mit Schreiben vom 5. Juli 2001 gegen den Abrechnungsbescheid gerichteten Einspruch u.a. unter Hinweis auf eine solche Absprache begründet. Hierauf hat ihm das FA im Rahmen des später vor dem FG zur gemeinsamen Verhandlung verbundenen Verfahrens 12 K 116/08 betreffend den Erlass der Säumniszuschläge (möglicherweise zu Unrecht) mit Schreiben vom 11. September 2001 mitgeteilt, dem FA sei von einer solchen Absprache nichts bekannt.
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Seine nach Ergehen der Einspruchsentscheidung erhobene Klage hat der Kläger nicht auf das Vorliegen einer solchen Absprache gestützt. Vielmehr hat er die Klage im Wesentlichen damit begründet, die Steuerfestsetzung beruhe auf einer willkürlichen Schätzung. Die Steuerfestsetzung sei daher nichtig, weshalb keine Säumniszuschläge angefallen seien. Ergänzend hat der Kläger vorgetragen, er habe über kein verwertbares Vermögen und auch über keine flüssigen Mittel zur Tilgung der Steuerrückstände verfügt. Es sei ihm nur möglich gewesen, diese Rückstände aus der aus Mitteln seiner Ehefrau hinterlegten Kaution zu begleichen, die auch schneller hätte freigegeben werden können (vgl. Blatt 3 und 4 des klägerischen Schriftsatzes an das FG vom 6. Mai 2003). Auch in seinen im weiteren Verlauf des finanzgerichtlichen Verfahrens beim FG eingereichten Schriftsätzen hat sich der Kläger nicht auf das Vorliegen einer Vereinbarung mit dem FA berufen. Das FG konnte deshalb davon ausgehen, dass der Kläger an seiner im Rahmen des Einspruchsverfahrens aufgestellten Behauptung des Bestehens einer Absprache nicht mehr festhält. Bei dieser Sachlage war das FG daher nicht gehalten, die ihm vorliegenden Akten des FA daraufhin durchzusehen, ob sich daraus Erkenntnisse ergeben, auf die der Kläger sein Begehren auf Änderung des Abrechnungsbescheids zusätzlich hätte stützen können.
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2. Die Revision ist auch nicht gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO wegen der (angeblichen) Abweichung vom Senatsurteil vom 15. Mai 2002 X R 33/99 (BFH/NV 2002, 1415) bzw. zur Fortbildung des Rechts zuzulassen.
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Die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO liegen u.a. nur dann vor, wenn die Abweichung erheblich ist. Dies ist nicht der Fall, wenn das angefochtene Urteil auf mehrere selbständig tragende Gründe gestützt wird und nur hinsichtlich einer dieser Begründungen (angeblich) eine Divergenz vorliegt (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 115 Rz 60, m.w.N. aus der Rechtsprechung). So ist es im Streitfall.
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Das FG hat seine Ansicht, die Einkommensteuerbescheide seien nicht nichtig, unter Hinweis auf den Senatsbeschluss vom 21. Juni 2005 X B 72/05 (BFH/NV 2005, 1490) auch darauf gestützt, dass die Nichtigkeit eines Grundlagenbescheids nicht zur Nichtigkeit des Einkommensteuerbescheids (Folgebescheid), sondern lediglich zu dessen Anfechtbarkeit führe. Angesichts dieser Begründung ist es unerheblich, ob die weiteren davon unabhängigen Ausführungen des FG, wonach die den Einkommensteuerbescheiden zugrunde liegenden Feststellungsbescheide vom 15. Februar 1998 (Grundlagenbescheide) keine willkürlich ergangenen und damit nichtige Schätzungsbescheide seien, von den tragenden Rechtsausführungen im Senatsbeschluss in BFH/NV 2002, 1415 abweichen.
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3. Aus demselben Grund der kumulativen Begründung des FG ist auch die vom Kläger aufgeworfene Rechtsfrage, unter welchen Voraussetzungen eine völlig überhöhte Schätzung nicht die Nichtigkeit des Bescheids zur Folge hat, im Streitfall nicht klärungsfähig. Die Revision ist daher auch nicht gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 1 FGO zuzulassen.
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