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BSG 29.03.2022 - B 8 SO 1/22 BH
BSG 29.03.2022 - B 8 SO 1/22 BH - Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör - Durchführung der mündlichen Verhandlung in Abwesenheit eines Beteiligten - Vorliegen eines erheblichen Grundes für eine Terminsverlegung - Coronapandemie - Anspruch auf Videoverhandlung
Normen
§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 62 Halbs 1 SGG, § 110a Abs 1 SGG, § 202 S 1 SGG, § 227 Abs 1 S 1 ZPO, Art 103 Abs 1 GG
Vorinstanz
vorgehend SG Osnabrück, 15. August 2017, Az: S 4 SO 48/14, Gerichtsbescheid
vorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, 10. Dezember 2021, Az: L 8 SO 288/17, Urteil
Tenor
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Der Antrag des Klägers, ihm für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 10. Dezember 2021 - L 8 SO 288/17 - Prozesskostenhilfe zu bewilligen und einen Rechtsanwalt beizuordnen, wird abgelehnt.
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Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 10. Dezember 2021 wird als unzulässig verworfen.
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Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
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I. Der Kläger begehrt die Übernahme von 1107,07 Euro als Beiträge für seine freiwillige Mitgliedschaft in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung resultierend aus der Zeit vom 1. Juni bis Dezember 2013 bzw als existenzsichernde Leistungen ab Juni 2013.
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Der 1960 geborene erwerbsfähige Kläger hatte bis zum 31.5.2013 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) bezogen. Leistungen für die anschließende Zeit hatte das Jobcenter O bestandskräftig abgelehnt. Auch die Anträge des Klägers bei der Beklagten auf existenzsichernde Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe (SGB XII) für die Zeit ab dem 1.6.2013 blieben erfolglos (Bescheid vom 29.1.2014; Widerspruchsbescheid vom 17.2.2014 und auf erneuten Antrag des Klägers: Bescheid vom 17.2.2014; Widerspruchsbescheid vom 25.2.2014). Die Klage hat keinen Erfolg gehabt (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts <SG> Osnabrück vom 15.8.2017; Urteil des Landessozialgerichts <LSG> Niedersachsen-Bremen vom 10.12.2021). Der Kläger sei als Erwerbsfähiger dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II und daher nach § 21 Satz 1 SGB XII von Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem SGB XII ausgeschlossen. Hierzu zählten auch die Kosten für die Kranken- und Pflegeversicherung als zusätzliche Bedarfe nach § 32 SGB XII.
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Mit seiner privatschriftlich eingelegten Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil und beantragt Prozesskostenhilfe (PKH) zur Durchführung dieses Beschwerdeverfahrens.
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II. Der Antrag auf PKH ist nicht begründet. PKH ist nur zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint (§ 73a Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz <SGG> iVm § 114 Zivilprozessordnung <ZPO>); daran fehlt es hier. Hinreichende Aussicht auf Erfolg wäre nur zu bejahen, wenn einer der drei in § 160 Abs 2 SGG abschließend aufgeführten Zulassungsgründe durch einen zugelassenen Prozessbevollmächtigten (§ 73 Abs 4 SGG) mit Erfolg geltend gemacht werden könnte; denn nur diese Gründe können zur Zulassung der Revision führen. Dies ist vorliegend nicht der Fall.
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Der Rechtssache kommt nach Aktenlage keine grundsätzliche Bedeutung zu (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG). Angesichts der gefestigten Rechtsprechung zur Systemabgrenzung zwischen dem SGB II und dem SGB XII (vgl zB Bundessozialgericht <BSG> vom 14.12.2017 - B 8 SO 16/16 R - SozR 4-3500 § 27b Nr 1 RdNr 14 mwN; BSG vom 12.12.2013 - B 8 SO 24/12 R - SozR 4-3500 § 67 Nr 1 RdNr 20) stellen sich in Bezug auf den nach den Feststellungen des LSG erwerbsfähigen Kläger, der auch im Übrigen keinem Ausschlussgrund dem Grunde nach für Leistungen nach dem SGB II unterfällt, - auch unter Berücksichtigung seines Vortrags - keine grundsätzlichen Rechtsfragen. Auch eine Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) zu dieser Rechtsprechung ist nicht ersichtlich.
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Schließlich liegt nach Aktenlage auch kein Verfahrensmangel nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vor. Anders als der Kläger meint, liegt in der Durchführung der mündlichen Verhandlung in seiner Abwesenheit kein Verstoß gegen das rechtliche Gehör (Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes <GG>, § 62 SGG). Der Anspruch auf rechtliches Gehör gebietet es allerdings, den an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern. Wird aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden, muss den Beteiligten unabhängig davon, ob sie die Möglichkeit zur schriftlichen Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben, Gelegenheit gegeben werden, ihren Standpunkt in der Verhandlung darzulegen (BSG vom 28.8.1991 - 7 BAr 50/91 - SozR 3-1500 § 160a Nr 4 S 5). Dabei ist dem Anspruch auf rechtliches Gehör in der Regel aber dadurch genügt, dass das Gericht die mündliche Verhandlung anberaumt (§ 110 Abs 1 Satz 1 SGG), der Beteiligte ordnungsgemäß geladen und die mündliche Verhandlung zu dem festgesetzten Zeitpunkt eröffnet wird (BSG vom 16.11.2000 - B 4 RA 122/99 B - SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 57). Eine Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung trotz Abwesenheit eines Beteiligten ist dann ohne Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs möglich, wenn dieser in der Ladung darauf hingewiesen worden ist, dass auch im Fall seines Ausbleibens verhandelt und entschieden werden kann (vgl B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 110 RdNr 11; Bundesverwaltungsgericht <BVerwG> vom 20.1.1995 - 6 B 56.94 - Buchholz 310 § 102 VwGO Nr 19). Diese Voraussetzungen hat das LSG hier nach Aktenlage erfüllt.
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Etwas anderes hätte nur dann gegolten, wenn der Kläger erhebliche Gründe für eine Terminsverlegung oder -vertagung geltend gemacht hätte (vgl zB BSG vom 12.2.2003 - B 9 SB 5/02 R - juris RdNr 11). Ein iS des § 227 Abs 1 Satz 1 ZPO iVm § 202 Satz 1 SGG ordnungsgemäß gestellter Vertagungsantrag mit einem hinreichend substantiiert geltend gemachten Terminsverlegungsgrund begründet grundsätzlich eine entsprechende Pflicht des Gerichts zur Terminsverlegung (vgl zB BSG vom 28.4.1999 - B 6 KA 40/98 R - juris RdNr 16 und BSG vom 12.2.2003 - B 9 SB 5/02 R - juris RdNr 11). Der Kläger hat hier aber lediglich geltend gemacht, wegen der Corona-Maßnahmen nicht zum Termin anreisen zu können. Der pauschale Hinweis auf die Corona-Pandemie und die Zugehörigkeit zur Altersgruppe der über 60-Jährigen genügt nicht den Anforderungen an die Geltendmachung eines erheblichen Grundes (vgl BSG vom 1.2.2022 - B 9 SB 62/21 B - RdNr 9). Entgegen der Behauptung des Klägers regelte die zum Zeitpunkt des Termins zur mündlichen Verhandlung (10.12.2021) maßgebliche Sächsische Verordnung zur Regelung von Notfallmaßnahmen zur Brechung der vierten Coronavirus SARS-CoV-2-Welle (Sächsische Corona-Notfall-Verordnung vom 19.11.2021 <SächsGVBl 1261>) keine generelle Ausgangssperre, sondern - in Landkreisen oder kreisfreien Städten, in denen die sog Sieben-Tage-Inzidenz den Schwellenwert von 1000 Neuinfektionen je 100 000 Einwohner überschreitet - eine Ausgangssperre zwischen 22 und 6 Uhr des Folgetages. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Kläger die Hin- und Rückreise zum LSG nicht tagsüber in der Zeit zwischen 6 und 22 Uhr hätte antreten bzw beenden können. Ohnehin hat er nicht einmal behauptet, zu dem von § 21 Abs 1 Satz 1 der Sächsischen Corona-Notfall-Verordnung erfassten Personenkreis zu gehören, der einer Ausgangssperre ggf unterfiel und nicht nach Satz 3 der Vorschrift als geimpfte oder genesene Person von den Beschränkungen ausgenommen war.
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Es ist auch nicht erkennbar, dass ein Verfahrensfehler darin liegen könnte, dass das LSG dem Kläger keine Videoverhandlung angeboten hat. Zwar kann das Gericht den Beteiligten nach § 110a Abs 1 SGG gestatten, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen, während die Verhandlung zeitgleich in Bild und Ton an diesen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen wird. Allerdings ist die Vorschrift als Befugnisnorm für das Gericht zu verstehen, in dessen Ermessen es steht, Videokonferenztechnik im konkreten Fall einzusetzen (vgl zB BVerwG vom 4.6.2021 - 5 B 22.20 D - RdNr 12 mwN.). Ein Anspruch eines Verfahrensbeteiligten auf Durchführung einer Videoverhandlung oder eine entsprechende technische Ausstattung der Gerichte besteht grundsätzlich nicht (vgl hierzu BT-Drucks 17/1224 S 12 und 17/12418 S 17 und BVerwG vom 4.6.2021 - 5 B 22.20 D - RdNr 12). Vielmehr ändert die Befugnis des Gerichts, Videokonferenztechnik einzusetzen, nichts daran, dass die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung am Gerichtsort grundsätzlich zu den zumutbaren verfahrensrechtlichen Möglichkeiten eines Klägers zählt, um sich vor dem Gericht rechtliches Gehör zu verschaffen (vgl zB BVerwG vom 12.1.2022 - 5 B 8.21 - RdNr 23). Wie bereits dargelegt, ist nicht ersichtlich, dass er aus unzumutbaren und von ihm nicht verschuldeten Umständen heraus daran gehindert gewesen sein könnte, in eigener Person oder jedenfalls durch einen Bevollmächtigten an der mündlichen Verhandlung am Gerichtsort teilzunehmen. Es ist nicht zu beanstanden, wenn die Gerichte den Beteiligten nur unter besonderen Umständen eine Videoverhandlung ermöglichen und im Regelfall an der Durchführung von mündlichen Verhandlungen in Präsenz festhalten. Das Vorhandensein und die Einsatzfähigkeit der erforderlichen Technik sind ebenso wie die erforderlichen technischen und organisatorischen Kapazitäten der Gerichte ungeschriebene Voraussetzungen des Einsatzes von Videokonferenztechnik (vgl hierzu zB BVerwG vom 4.6.2021 - 5 B 22.20 D - RdNr 12 mwN). Das LSG hat diese Gesichtspunkte bei seiner Entscheidung über den Antrag auf Durchführung einer Videoverhandlung ausreichend berücksichtigt und sich zulässigerweise ua auf organisatorische Gründe gestützt.
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Mit der Ablehnung von PKH entfällt zugleich die Beiordnung eines Rechtsanwalts im Rahmen der PKH (§ 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 121 Abs 1 ZPO).
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Die vom Kläger selbst eingelegten Beschwerde ist bereits deshalb unzulässig, weil er beim BSG nicht postulationsfähig ist. Nach § 73 Abs 4 SGG müssen sich die Beteiligten vor dem BSG durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Folge des Vertretungszwangs ist es, dass grundsätzlich Prozesshandlungen wirksam nur durch einen zugelassenen Prozessbevollmächtigten - nicht jedoch von den Beteiligten selbst - vorgenommen werden können.
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Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Krauß Luik Scholz
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