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BSG 24.07.2012 - B 2 U 103/12 B
BSG 24.07.2012 - B 2 U 103/12 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Verfahrensfehler - Verletzung der Amtsermittlungspflicht - Übergehen des Beweisantrags eines Zeugen zum Unfallhergang - Feststellung eines Arbeitsunfalls - Verkehrsunfall
Normen
§ 103 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG, § 8 SGB 7
Vorinstanz
vorgehend SG München, 29. Juli 2010, Az: S 41 U 214/09
vorgehend Bayerisches Landessozialgericht, 20. September 2011, Az: L 3 U 529/10, Urteil
Tenor
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Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 20. September 2011 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Die Beteiligten streiten um die Feststellung eines Arbeitsunfalls (Bescheid vom 28.7.2008 und Widerspruchsbescheid vom 26.2.2009). Das SG München hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 29.7.2010). Das Bayerische LSG hat die Berufung zurückgewiesen. Es sei nicht nachgewiesen, dass der Kläger am 8.5.2007 auf dem Weg von der Arbeit nach Hause einen Verkehrsunfall erlitten habe (Urteil vom 20.9.2011).
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Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger ua die Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG). Das LSG sei einem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt. Das Berufungsgericht habe von der Vernehmung seiner Mutter als Zeugin abgesehen, die er mit Schriftsätzen vom 21.7. und 19.9.2011 als Zeugin zum Unfallhergang benannte habe. Das LSG habe gemeint, die Zeugin könne nur zu den Unfallfolgen aussagen.
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II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil des LSG ist unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz des § 103 SGG ergangen.
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Die Beschwerdebegründung genügt den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG. Sie bezeichnet die Tatsachen, aus denen sich der Verfahrensmangel einer Verletzung der Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung von Amts wegen ergibt (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Der Kläger hat hinreichend deutlich gemacht, warum sich das LSG zu der von ihm beantragten Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen. Dabei war zu berücksichtigen, dass der Kläger im Berufungsverfahren nicht von einem rechtskundigen Bevollmächtigten vertreten war (vgl dazu BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 1 RdNr 5, Nr 13 RdNr 11, jeweils mwN). In der Beschwerdebegründung wird auch dargetan, dass die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensfehler beruhen kann.
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Das Berufungsgericht hat die Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 SGG) dadurch verletzt, dass es eine Vernehmung der als Zeugin benannten Mutter des Klägers unterlassen hat.
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Der Kläger hat einen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag gestellt, mit dem sowohl das Beweismittel als auch das Beweisthema angegeben und aufgezeigt worden ist, über welche Tatsachen im Einzelnen Beweis erhoben werden soll (vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 21 RdNr 6). Mit seinen vor der mündlichen Verhandlung vom 20.9.2011 beim LSG eingegangenen Schreiben vom 21.7. und 19.9.2011 hat der Kläger Beweis angetreten durch Vernehmung seiner Mutter als Zeugin "zum Unfallhergang". Dieser Beweisantrag war auf ein zulässiges und geeignetes Beweismittel gerichtet. Mit dem bezeichneten Beweisthema sind die Geschehnisse während des behaupteten Verkehrsunfalls als die Tatsachen genannt, zu denen die Mutter hätte aussagen sollen.
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Das Übergehen eines Beweisantrags ist allerdings nur dann ein Verfahrensmangel, wenn das LSG vor seiner Entscheidung darauf hingewiesen wurde, dass der Beteiligte die Amtsermittlungspflicht des Gerichts noch nicht als erfüllt ansieht. Daher muss der Beweisantrag zumindest bei rechtskundig vertretenen Beteiligten in der abschließenden mündlichen Verhandlung gestellt oder aufrechterhalten worden sein. Das gilt auch in den Verfahren, in denen der Kläger vor dem LSG nicht rechtskundig vertreten war. Zwar sind in einem solchen Fall weniger strenge Anforderungen an die Form und den Inhalt eines Beweisantrags zu stellen. Auch ein unvertretener Kläger muss aber dem Gericht deutlich machen, dass er noch Aufklärungsbedarf sieht. Nimmt der Kläger den abschließenden Verhandlungstermin nicht wahr, darf das Tatsachengericht grundsätzlich davon ausgehen, dass an zuvor gestellten Beweisanträgen nicht festgehalten wird. Das gilt aber dann nicht, wenn der Beteiligte - wie hier - unmittelbar vor dem Termin hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass auch im Falle seines Fernbleibens über die von ihm schriftsätzlich gestellten Beweisanträge entschieden werden soll (vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 35). Der Kläger hat mit seinem einen Tag vor der mündlichen Verhandlung beim LSG eingegangenen Schreiben vom 19.9.2011 darauf hingewiesen, den Verhandlungstermin aus gesundheitlichen und finanziellen Gründen nicht wahrnehmen zu können und Beweis angetreten durch Vernehmung seiner Mutter als Zeugin "zum Unfallhergang".
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Dem Beweisantrag ist das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt. "Ohne hinreichende Begründung" ist nicht formell, sondern materiell im Sinne von "ohne hinreichenden Grund" zu verstehen (BSG SozR 1500 § 160 Nr 5). Entscheidend ist, ob sich das LSG von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus hätte gedrängt fühlen müssen, den beantragten Beweis zu erheben (BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 9), weil nach den dem LSG vorliegenden Beweismitteln Fragen zum tatsächlichen Sachverhalt aus seiner rechtlichen Sicht erkennbar offen geblieben sind, damit zu einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts zwingende Veranlassung bestanden hat und die so zu ermittelnden Tatsachen nach der Rechtsauffassung des LSG entscheidungserheblich sind (BSG vom 19.6.2008 - B 2 U 76/08 B - mwN). Einen Beweisantrag darf es nur ablehnen, wenn es auf die ungeklärte Tatsache nicht ankommt, diese Tatsache als wahr unterstellt werden kann, das Beweismittel völlig ungeeignet oder unerreichbar ist, die behauptete Tatsache oder ihr Fehlen bereits erwiesen ist oder die Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist (BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 12 RdNr 10).
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Danach hätte das LSG von einer Vernehmung der als Zeugin benannten Mutter des Klägers nicht absehen dürfen. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung darauf gestützt, dass ein Verkehrsunfall nicht nachgewiesen sei. Auf die Vernehmung der Mutter des Klägers als Zeugin komme es nicht an, da diese nach den Angaben des Klägers nur zu den Unfallfolgen aussagen könne. Indes hat der Kläger mit Schriftsatz vom 19.9.2011 seine Mutter als Zeugin "zum Unfallhergang" und nicht zu den Unfallfolgen benannt. Aus welchen Tatsachen sich ergeben könnte, dass die Mutter die in ihr Wissen gestellten Tatsachen nicht wahrgenommen haben kann, hat das LSG nicht aufgezeigt.
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Das angefochtene Urteil kann auf dem Verfahrensfehler beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass es ohne den Verfahrensfehler zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gekommen wäre.
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Angesichts dieses Verfahrensmangels kann die vom Kläger außerdem erhobene Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dahingestellt bleiben.
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Liegen - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vor, kann das Bundessozialgericht auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen (§ 160a Abs 5 SGG). Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.
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Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
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