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BSG 12.07.2012 - B 14 AS 31/12 B
BSG 12.07.2012 - B 14 AS 31/12 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Unzulässigkeit einer ursprünglich statthaften Berufung gegen einen Gerichtsbescheid nach gegnerischem Antrag auf mündliche Verhandlung - Entscheidung über unzulässig gewordene Berufung durch Beschluss
Normen
§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 105 Abs 2 S 2 SGG, § 105 Abs 2 S 3 SGG, § 105 Abs 3 Halbs 2 SGG, § 143 SGG, § 158 S 2 SGG, Art 6 Abs 1 MRK
Vorinstanz
vorgehend SG Hildesheim, 21. September 2011, Az: S 45 AS 174/06
vorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, 16. Januar 2012, Az: L 9 AS 1023/11, Beschluss
nachgehend BSG, 10. September 2014, Az: B 10 ÜG 3/14 B, Beschluss
Leitsatz
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1. Eine ursprünglich statthafte Berufung gegen einen Gerichtsbescheid wird unzulässig, wenn der Gegner einen zulässigen Antrag auf Durchführung der mündlichen Verhandlung beim Sozialgericht stellt.
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2. Steht mit dem Antrag auf mündliche Verhandlung gegen einen Gerichtsbescheid durch einen Beteiligten fest, dass in der Sache noch eine mündliche Verhandlung vor dem Sozialgericht stattfinden wird, kann das Landessozialgericht die unzulässig gewordene Berufung des anderen Beteiligten mit Beschluss ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung verwerfen.
Tenor
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Die Beschwerde der Kläger gegen den Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 16. Januar 2012 wird zurückgewiesen.
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Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
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I. Zwischen den Beteiligten ist die Höhe von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts streitig. Die Kläger führen insoweit seit dem 20.2.2006 ein Klageverfahren. Das Sozialgericht (SG) Hildesheim hat das beklagte Jobcenter mit Gerichtsbescheid vom 21.9.2011 verurteilt, dem Kläger zu 1 Leistungen in Höhe von insgesamt 363 Euro zu zahlen und die Klage im Übrigen abgewiesen. Ein Anspruch über die zugesprochene Summe hinaus, den der Kläger zu 1 für die Bedarfsgemeinschaft auf insgesamt (mindestens) 2757,22 Euro beziffert habe, bestehe nicht. Einen Antrag der Kläger vom 28.9.2011 auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach § 105 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das SG abgelehnt, weil im vorliegenden Fall die Berufung als Rechtsmittel gegeben sei (Beschluss vom 13.10.2011).
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Am 18.10.2011 haben die Kläger Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen eingelegt. Am 20.10.2011 hat der Beklagte beim SG die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach § 105 Abs 2 Satz 2 SGG beantragt.
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Nach Anhörung der Beteiligten hat das LSG die Berufung der Kläger mit Beschluss vom 16.1.2012 als unzulässig verworfen. Der Beklagte habe einen für ihn angesichts des Wertes des Beschwerdegegenstandes statthaften Antrag auf Durchführung der mündlichen Verhandlung gestellt. Nach § 105 Abs 2 Satz 3 SGG finde eine mündliche Verhandlung gegen einen Gerichtsbescheid auch dann statt, wenn - wie hier - sowohl ein Rechtsmittel eingelegt als auch mündliche Berufung beantragt werde.
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Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Beschluss richtet sich die Beschwerde der Kläger. Sie machen die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) sowie Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) geltend.
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II. Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Zwar ist es dem LSG - was die Kläger gerügt haben - auch im Anwendungsbereich des § 158 SGG grundsätzlich verwehrt, eine Berufung durch Beschluss zurückzuweisen, wenn zuvor das SG ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid nach § 105 SGG entschieden hat. Damit ist regelmäßig, auch ohne dies ausdrücklich zu erwähnen, zugleich die Besetzung des Berufungsgerichts nur mit Berufsrichtern und damit ein absoluter Revisionsgrund nach § 202 SGG iVm § 551 Nr 1 Zivilprozessordnung (ZPO) gerügt (BSG Urteil vom 2.5.2001 - B 2 U 29/00 R, SozR 3-1500 § 153 Nr 13). Diese Verfahrensmängel (vgl § 160 Abs 2 Nr 3 SGG) liegen aber nicht vor. Weder liegt in der (bislang) fehlenden Beteiligung ehrenamtlicher Richter ein Verstoß gegen den gesetzlichen Richter noch ist den Klägern das Recht auf eine mündliche Verhandlung entzogen worden.
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a) Gegen den Gerichtsbescheid vom 21.9.2011 konnte der Beklagte nach § 105 Abs 2 Satz 2 SGG mündliche Verhandlung beantragen, denn das Rechtsmittel der Berufung war für ihn angesichts seiner Beschwer in Höhe von 363 Euro nicht gegeben (vgl § 144 Abs 1 Nr 1 SGG). Der Beklagte hatte damit - anders als die Kläger - ein Wahlrecht zwischen Durchführung der mündlichen Verhandlung in der ersten Instanz (als Rechtsbehelf) und Einlegung einer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung (als Rechtsmittel). Mit dem fristgerechten und auch ansonsten zulässigen Antrag auf mündliche Verhandlung durch den Beklagten gilt der Gerichtsbescheid vom 21.9.2011 als nicht ergangen, wie sich aus § 105 Abs 3 Halbs 2 SGG ergibt. Damit entfällt auch die Berufungsfähigkeit des Gerichtsbescheides für die Kläger, denn die Berufung findet nach § 143 SGG nur gegen Urteile des SG und ihnen gleichgestellte Entscheidungen (vgl insoweit § 105 Abs 3 Halbs 1 SGG) statt.
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Diesem Ergebnis steht nicht entgegen, dass die Kläger im Zeitpunkt der Antragstellung durch den Beklagten ihrerseits bereits eine statthafte Berufung eingelegt hatten. Auch für den Fall, dass der gegnerische Beteiligte ein Rechtsmittel einlegt, bestimmt nämlich § 105 Abs 2 Satz 3 SGG nach seinem ausdrücklichen Wortlaut, dass der Antrag auf mündliche Verhandlung vorgeht. Dabei beschränkt § 105 Abs 2 Satz 3 SGG seinen Anwendungsbereich nicht auf das Verhältnis von Nichtzulassungsbeschwerde und Antrag auf mündliche Verhandlung. Es sind vielmehr sämtliche Rechtsmittel in Bezug genommen. Dies entspricht der Rechtslage nach § 84 Abs 2 und 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), dem § 105 SGG nachgebildet ist (vgl BR-Drucks 341/91 S 150). Der Antrag auf mündliche Verhandlung geht auch hier den Rechtsmitteln (auch der Berufung) vor, weil er den weitergehenden Rechtsbehelf darstellt (zuletzt Oberverwaltungsgericht für das Land Mecklenburg-Vorpommern vom 3.12.2009 - 2 L 148/09, juris RdNr 6 mwN; Kopp/Schenke, VwGO, 18. Aufl 2012, § 84 RdNr 34; Kothe in Redeker/von Oertzen, VwGO, 15. Aufl 2010, § 84 RdNr 14a).
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Dem entspricht auch der Sinn und Zweck der Norm. § 105 Abs 2 und 3 SGG wahrt die Prozessrechte (insbesondere Art 6 Abs 1 Europäische Menschenrechtskonvention <EMRK>) des Beteiligten, für den die Entscheidung des SG nicht berufungsfähig ist. Nur durch einen entsprechenden Antrag auf mündliche Verhandlung kann dieser Beteiligte eine mündliche Verhandlung und die Besetzung der Richterbank auch mit ehrenamtlichen Richtern herbeiführen. Mit einer Nichtzulassungsbeschwerde zum LSG können entsprechende Gehörsrügen - gerade weil die Möglichkeit einer Heilung besteht - nicht erfolgreich vorgebracht werden (vgl § 202 SGG iVm § 295 ZPO). Das Recht aus § 105 Abs 2 Satz 2 SGG muss unabhängig von der Vorgehensweise des anderen Beteiligten bestehen; unerheblich ist insoweit, ob für den Beklagten vorliegend zu erwarten war, dass die Kläger ihrerseits Berufung einlegen würden. Art 3 Abs 1 Grundgesetz ist damit entgegen der Auffassung der Kläger nicht verletzt, denn die unterschiedlichen Rechtsmittel gegen den Gerichtsbescheid rechtfertigen die Einräumung des Rechtsbehelfs nur für denjenigen, der eine Berufung nicht statthaft einlegen kann.
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Einen Rechtsverlust können die Kläger hierdurch nicht erleiden. Die Klage ist mit dem Antrag auf mündliche Verhandlung, der rechtzeitig gestellt war und sich auch nach § 105 Abs 2 Satz 2 SGG als zulässig erweist, in den Zustand vor Erlass des Gerichtsbescheides versetzt. Das SG wird über den gesamten Streitgegenstand durch Urteil aufgrund einer mündlichen Verhandlung zu befinden haben; durch die Entscheidung des LSG ist der Teil des Streitgegenstandes, hinsichtlich dessen Berufung eingelegt war, nicht etwa in Bindung erwachsen (dazu sogleich). Ebenso wenig kann der Beklagte durch eine Rücknahme des Antrages auf mündliche Verhandlung die Rechtsfolge des § 105 Abs 3 Halbs 2 SGG noch beeinflussen.
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Regelmäßig führt diese Auslegung des § 105 Abs 2 und 3 SGG auch nicht zu Verfahrensverzögerungen. § 105 SGG hat gerade die Beschleunigung des Verfahrens zum Zweck, weil der Gesetzgeber davon ausgeht, dass das SG auf diese Weise geeignete, einfach gelagerte Fälle schneller instanzabschließend erledigen kann (vgl BR-Drucks 314/91 S 150). Ob es im vorliegenden Fall angezeigt war, auf die Entscheidung durch Gerichtsbescheid zurückzugreifen oder es hierdurch im Einzelfall zu einer Verfahrensverzögerung gekommen ist, ist dabei ohne Belang. Wegen solcher nicht hinnehmbarer Verzögerungen wird fachgerichtlicher Rechtsschutz mit dem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (vom 24.11.2011, BGBl I 2302) gewährt. Hierüber hat der Senat nicht zu befinden.
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b) Schließlich ist nicht zu beanstanden, dass der Beschluss des LSG vom 16.1.2012 ohne mündliche Verhandlung und ohne die Beteiligung ehrenamtlicher Richter ergangen ist.
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Wie bereits dargelegt, lässt der Antrag des Beklagten die Statthaftigkeit der Berufung der Kläger entfallen. Eine iS des § 143 SGG berufungsfähige Entscheidung liegt nicht mehr vor. Die Entscheidung des LSG vom 13.10.2011 über die Verwerfung der Berufung stellt bindend fest, dass die Berufung wegen dieses Mangels unzulässig geworden ist. Weitergehende Bindungswirkungen (in der Sache selbst) hat sie nicht. Da eine instanzabschließende Entscheidung in der ersten Instanz nicht ergangen ist und dies gerade der Grund für die Unzulässigkeit der Berufung ist, kann nach Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens (vorbehaltlich der weiteren Voraussetzungen) erneut Berufung eingelegt werden. Die Rechtskraft der vorliegenden Verwerfungsentscheidung steht dem nicht entgegen (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 158 RdNr 10 unter Hinweis auf BGH NJW 1981, 1962).
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Von dem Grundsatz, dass zur Wahrung des Rechts auf eine mündliche Verhandlung eine Verwerfung der Berufung nicht durch Beschluss nach § 158 Satz 2 SGG ergehen darf, wenn erstinstanzlich durch Gerichtsbescheid entschieden wurde (vgl nur BSG Beschluss vom 8.11.2005 - B 1 KR 76/05 B - SozR 4-1500 § 158 Nr 2), ist vor diesem Hintergrund eine Ausnahme zu machen. Es steht mit der Anbringung des Antrages auf mündliche Verhandlung nach § 105 Abs 2 Satz 2 SGG durch den anderen Beteiligten fest, dass in der Sache noch eine mündliche Verhandlung vor dem SG stattfinden wird. Damit sind die Rechte aus Art 6 Abs 1 EMRK vorrangig gewahrt. Im Übrigen würde in diesen Fällen die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung vor dem LSG zu weitergehenden Verzögerungen im Verfahrensablauf führen. Ob auch durch Beschluss entschieden werden kann, wenn ein Beteiligter von seiner Möglichkeit, mündliche Verhandlung nach § 105 Abs 2 Satz 2 SGG zu beantragen, keinen Gebrauch gemacht hat, kann offen bleiben (so LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 18.6.2010 - L 10 AS 779/10, juris RdNr 14; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 158 RdNr 6; zweifelnd Meßling in Hennig, SGG, Stand Oktober 2011, § 158 RdNr 23 am Ende).
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2. Die Rüge der grundsätzlichen Bedeutung (vgl § 160 Abs 2 Nr 1 SGG) konnte keinen Erfolg haben, denn die Beantwortung der von den Klägern gestellten Rechtsfrage, ob die zulässige und begründete Berufung ohne mündliche Verhandlung verworfen werden durfte, weil der Beklagte die mündliche Verhandlung in der ersten Instanz beantragt hatte, ergibt sich - wie dargelegt - eindeutig aus dem Wortlaut des Gesetzes. Zweifel in der Rechtsauslegung durch die Gerichte oder Angriffe aus der Literatur sind weder von den Klägern dargetan noch ersichtlich (wie hier Hauck in Hennig, SGG, Stand April 2010, § 105 RdNr 108; Roller in Lüdtke, SGG, 4. Aufl 2012, § 105 RdNr 14; Kühl in Breitkreuz/Fichte, SGG, § 105 RdNr 6).
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Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
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