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BSG 09.11.2010 - B 2 U 221/10 B
BSG 09.11.2010 - B 2 U 221/10 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Verfahrensfehler - Verletzung der Amtsermittlungspflicht - Verletzung der Amtsermittlungspflicht - Nichteinholung eines Sachverständigengutachtens - Feststellung einer etwaigen absolute Fahruntüchtigkeit bei bestehender Alkoholerkrankung des Klägers
Normen
§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 103 SGG
Vorinstanz
vorgehend SG Regensburg, 16. März 2009, Az: S 7 U 175/06, Gerichtsbescheid
vorgehend Bayerisches Landessozialgericht, 27. Mai 2010, Az: L 3 U 153/09, Urteil
nachgehend Bayerisches Landessozialgericht, 17. April 2012, Az: L 3 U 543/10 ZVW, Urteil
Tenor
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Auf die Beschwerde der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. Mai 2010 (L 3 U 153/09) aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Streitig ist, ob der Verkehrsunfall des Klägers vom 5.9.2005 als Arbeitsunfall festzustellen ist.
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Der Kläger war Mitarbeiter des Bauhofs einer Gemeinde. Er erlitt am 5.9.2005 auf dem Weg von der Arbeitsstelle nach Hause gegen 15.50 Uhr einen Verkehrsunfall. Dabei zog er sich ua eine Fraktur der Halswirbelsäule zu. Er wurde am Unfalltag gegen 20.30 Uhr stationär im Krankenhaus aufgenommen. Dabei wurde eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von 1,5 Promille festgestellt. Die Beklagte hat die Feststellung eines Arbeitsunfalls abgelehnt (Bescheid vom 23.3.2006, Widerspruchsbescheid vom 10.7.2006). Das SG hat die hiergegen erhobene Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 16.3.2009). Die Berufung des Klägers ist erfolgreich gewesen. Das LSG hat ua festgestellt, dass der Verkehrsunfall vom 5.9.2005 ein Arbeitsunfall ist. Den von der Beklagten hilfsweise gestellten Antrag, ein Sachverständigengutachten unter stationären Bedingungen zum Thema "Fahruntauglichkeit infolge bestehender Alkoholerkrankung" einzuholen, hat das LSG abgelehnt.
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Die Beklagte hat Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG eingelegt. Sie macht als Verfahrensfehler geltend, das LSG habe ohne hinreichende Gründe ihren Beweisantrag abgelehnt. Der Kläger tritt der Beschwerde entgegen.
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II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten hat im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils des LSG sowie Zurückverweisung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung Erfolg.
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Der von der Beklagten formgerecht (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) gerügte Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) liegt vor.
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Das LSG hat seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen (§ 103 SGG) verletzt, indem es zur Frage der absoluten Fahruntüchtigkeit des Klägers nicht das von der Beklagten bis zuletzt beantragte Sachverständigengutachten eingeholt hat (1.). Auf diesem Verfahrensfehler kann die angegriffene Entscheidung beruhen (2.).
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1. Die Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG hilfsweise den Antrag gestellt: " …ein verkehrsmedizinisch-psychologisches Sachverständigengutachten unter stationären Bedingungen zum Thema 'Fahruntauglichkeit infolge bestehender Alkoholerkrankung' einzuholen, z.B. in der Fachklinik Enzensberg, zum Beweisthema 'absolute Fahruntauglichkeit des Klägers zum Unfallzeitpunkt wegen der bestehenden Alkoholkrankheit' …".
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Das LSG hat den Antrag mit der Begründung abgelehnt, das Gutachten könne eine zeitnahe Bestimmung der BAK nicht ersetzen. Nach den vorliegenden "Beweisanzeichen" sei der Beweis nicht erbracht. Die Beklagte trage die Folgen der Nichterweislichkeit absoluter Fahruntüchtigkeit.
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Die Begründung des LSG für die Ablehnung des Beweisantrags, das Gutachten könne die zeitnahe Bestimmung nicht ersetzen, reicht nicht aus, den Beweisantrag abzulehnen. Das LSG hat festgestellt, dass beim Kläger eine Alkoholerkrankung bestand und er sich im Unfallzeitpunkt als Führer eines Kraftfahrzeugs auf einem versicherten Weg befand. Der sachliche Zusammenhang mit dem nach § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII versicherten Weg wäre ausgeschlossen, wenn er zum Unfallzeitpunkt absolut oder relativ fahruntüchtig gewesen wäre. Zwar sei aufgrund bestehender Alkoholerkrankung nicht auszuschließen, dass der Kläger im Unfallzeitpunkt fahruntüchtig war, der Nachweis des alkoholbedingten Leistungsabfalls sei aber nicht erbracht.
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Das LSG hätte sich ausgehend von dieser Rechtsauffassung gedrängt sehen müssen, dem Beweisantrag zu folgen und Beweis über die Frage zu erheben, ob sich das umstrittene Vorliegen absoluter Fahruntauglichkeit durch die beantragte Begutachtung - ggf unter stationären Bedingungen - klären lässt. Denn die Entscheidung des LSG steht oder fällt mit der Frage, ob der Kläger infolge der Alkoholkrankheit im Unfallzeitpunkt absolut fahruntüchtig war.
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Die Beklagte hat einen auf den Nachweis dieser Umstände gerichteten Beweisantrag gestellt und bis zuletzt aufrechterhalten. Die Beklagte hat ein Beweismittel bezeichnet, mit dem die zu klärende Frage möglicherweise hätte weiter aufgeklärt werden können. Ein Sachverständigengutachten ist einerseits ein geeignetes Beweismittel, um von einer später gemessene BAK auf diejenige im Unfallzeitpunkt zurückzurechnen (Möglichkeit der Rückrechnung vorausgesetzt in: BGH vom 25.5.2007 - 1 StR 126/07 - NStZ 2007, 639; zu den Methoden der Rückrechnung BGH vom 15.6.1988 - IVa ZR 8/87 - VersR 1988, 950 ; BGHSt 25, 246 , 250 f). Auch lässt sich ohne Einholung medizinischen Sachverstands nicht ausschließen, dass die konkret beim Kläger vorliegende Art der Alkoholerkrankung dem Sachverständigen einen Rückschluss auf die Fahrtauglichkeit oder -untauglichkeit im Unfallzeitpunkt erlaubt.
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Das LSG hat keine hinreichenden Gründe für die Ablehnung des Beweisantrags der Beklagten benannt. Weder bestehen an der Geeignetheit des Beweismittels Zweifel, noch kann die Gesamtbetrachtung aller "Beweisanzeichen" die Ablehnung begründen, da die sog Beweisanzeichen nur bei der Feststellung der relativen Fahruntüchtigkeit erheblich sind. Auf deren Nachweis zielte der Beweisantrag nicht ab. Wenn aber eine absolute Fahruntüchtigkeit des Klägers "in Betracht kommt", ist nicht hinreichend begründet, weshalb das LSG den beantragten, geeigneten und erreichbaren Sachverständigenbeweis nicht erhoben hat.
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2. Die angefochtene Entscheidung des LSG kann auf dem Verfahrensmangel - wie die Beklagte gezeigt hat - beruhen. Hätte das LSG den Sachverhalt durch Einholung eines Sachverständigengutachtens weiter aufgeklärt, wären möglicherweise die von der Beklagten aufgezeigten Erkenntnisse gewonnen worden, was zu einer für die Beklagte günstigeren Entscheidung hätte führen können.
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Danach liegen die Voraussetzungen vor, unter denen nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG die Revision zuzulassen ist. Zugleich ist der Weg nach § 160a Abs 5 SGG eröffnet. Der Senat kann das angefochtene Urteil durch Beschluss aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen (vgl auch BSG vom 20.7.2005 - B 9a VG 7/05 B).
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Von dieser Möglichkeit macht der Senat Gebrauch. Da es im Rechtsstreit hauptsächlich um Tatsachenfeststellungen zur Bewertung der Fahrtüchtigkeit im Zeitpunkt des Unfalls geht, sprechen prozessökonomische Gründe für eine unmittelbare Zurückverweisung der Sache. Das LSG wird Gelegenheit haben, die Beweiserhebung zum Bestehen absoluter Fahruntüchtigkeit nachzuholen und auch prüfen müssen, ob ein Sachverständiger Rückschlüsse von einer später genommenen Blutprobe auf die BAK zum Zeitpunkt eines bestimmten Ereignisses zu ziehen vermag.
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Das LSG hat auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden.
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