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BVerfG 27.11.2014 - 2 BvR 2735/14
BVerfG 27.11.2014 - 2 BvR 2735/14 - Erlass einer einstweiligen Anordnung: vorläufige Untersagung der Auslieferung eines US-Amerikaners nach Italien auf Grundlage eines Europäischen Haftbefehls und Verurteilung in Abwesenheit - Gewährleistung eines fairen Verfahrens gem Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG
Normen
Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, Art 4a Abs 1 Buchst d EGRaBes 584/2002, Art 2 Nr 1 EURaBes 299/2009REO, § 83 Nr 3 IRG, Art 175 Abs 2 StPO ITA, Art 175 Abs 3 StPO ITA
Vorinstanz
vorgehend OLG Düsseldorf, 7. November 2014, Az: III - 3 Ausl 108/14, Beschluss
nachgehend BVerfG, 3. November 2015, Az: 2 BvR 2735/14, Einstweilige Anordnung
nachgehend BVerfG, 15. Dezember 2015, Az: 2 BvR 2735/14, Beschluss
Tenor
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Die Übergabe des Beschwerdeführers an die Behörden der Italienischen Republik wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen ausgesetzt.
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Die Generalstaatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht Düsseldorf wird mit der Durchführung der einstweiligen Anordnung beauftragt.
Gründe
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I.
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1. Der Beschwerdeführer besitzt die amerikanische Staatsangehörigkeit. Er soll zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe an die Italienische Republik ausgeliefert werden und befindet sich seit dem 25. Juli 2014 in Auslieferungshaft. Gegen den Beschwerdeführer besteht ein Europäischer Haftbefehl, den die Generalstaatsanwaltschaft beim Appellationsgericht Florenz am 31. Juli 2014 erlassen hat und dem ein Vollstreckungshaftbefehl vom 26. August 1992 zugrunde liegt. Mit Urteil vom 27. März 1992, rechtskräftig seit dem 6. Juni 1992, wurde der Beschwerdeführer wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung sowie Einfuhr und Besitz von Kokain in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe von dreißig Jahren verurteilt.
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2. Mit dem angegriffenen Beschluss vom 7. November 2014 erklärte das Oberlandesgericht Düsseldorf die Auslieferung des Beschwerdeführers für zulässig. Die formellen und materiellen Voraussetzungen der Auslieferung lägen vor, Auslieferungshindernisse bestünden nicht.
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a) Als amerikanischer Staatsbürger unterliege der Beschwerdeführer gemäß § 78, § 2 Abs. 1 und Abs. 3 IRG der Auslieferung. Die Straftaten, wegen derer die Auslieferung beantragt werde, seien auslieferungsfähig im Sinne von § 3 Abs. 1 IRG, da sie auch nach deutschem Recht (§ 129 StGB, §§ 29 ff. BtMG) strafbar seien und die zu vollstreckende Freiheitsstrafe das nach § 81 Nr. 2 IRG erforderliche Mindestmaß von vier Monaten überschreite.
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b) Die Auslieferung sei nicht mit Blick auf § 83 Nr. 3 IRG unzulässig. Aufgrund der ergänzenden Auskünfte der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2014 stehe fest, dass der Beschwerdeführer nach seiner Überstellung nach Italien das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren habe, in dem in seiner Anwesenheit der gegen ihn erhobene Vorwurf umfassend überprüft werde.
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aa) Der insofern zu beachtende Maßstab ergebe sich aus den zu § 73 IRG (ordre public) entwickelten Grundsätzen. Demnach sei die Auslieferung zur Vollstreckung eines in Abwesenheit ergangenen Urteils unzulässig, wenn der Verfolgte weder über die Tatsache der Durchführung und des Abschlusses eines ihn betreffenden Strafverfahrens unterrichtet war, noch ihm die Möglichkeit eröffnet sei, sich nach Erlangung der Kenntnis nachträglich rechtliches Gehör zu verschaffen und sich wirksam zu verteidigen. Das folge aus dem Gebot des rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG, dessen wesentlicher Kern von Verfassungs wegen zum unverzichtbaren Bestand der öffentlichen Ordnung wie auch zum völkerrechtlichen Mindeststandard gehöre, sowie aus Art. 6 Abs. 1 EMRK. Dem Verfolgten müsse ein allein von seinem Willen abhängiges Verfahren gewährleistet sein, das eine umfassende Überprüfung des Anklagevorwurfs ermögliche.
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bb) Diese Anforderungen erfülle Art. 175 der italienischen Strafverfahrensordnung (CCP). Die Vorschrift trage den rechtsstaatlichen Bedenken Rechnung, die von Bundesgerichtshof, Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte gegen ihre frühere Fassung erhoben worden seien.
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Art. 175 Abs. 2 und 3 CCP enthalte eine mit dreißig Tagen ausreichend bemessene Frist für die Stellung des Wiedereinsetzungsantrags. Der Verurteilte werde nach dieser Vorschrift auf seinen Antrag in die Rechtsmittel- oder Einspruchsfristen wieder eingesetzt, es sei denn, dass er in Kenntnis des Verfahrens oder der Verfügung war und freiwillig auf Einspruch oder Rechtsmittel verzichtet hat. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers komme es für die Frage der Wiedereinsetzung nicht darauf an, ob den Justizbehörden der Nachweis gelingen könne, er habe Kenntnis von dem Verfahren erlangt, oder ob für ihn ein Verteidiger bestellt worden ist, da die Kenntnisfiktion sich nicht auf einen Verzicht auf Einspruch oder Rechtsmittel erstrecke. Der Nachweis eines Verzichts obliege den Behörden ebenso wie der Nachweis der Kenntnis des Verfolgten von dem Verfahren. Dafür, dass diesen im vorliegenden Verfahren ein solcher Nachweis gelingen könne, sei nichts ersichtlich. Dem Beschwerdeführer sei somit ein wirksames Recht auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährleistet.
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Auch eine umfassende Überprüfung des Abwesenheitsurteils sei sichergestellt. Ob dies im Rahmen einer Berufungsverhandlung oder eines neuen erstinstanzlichen Verfahrens erfolge, könne offen bleiben. Selbst wenn nach italienischem Recht im Berufungsverfahren nach Art. 593 ff. CCP im Regelfall keine neue Beweisaufnahme stattfinde, handele es sich um ein Rechtsmittel, in dem sowohl die Tat- als auch die Rechtsfrage erneut überprüft werden. Es finde eine umfassende tatsächliche und rechtliche Überprüfung des Abwesenheitsurteils statt, in deren Rahmen eine Beweisaufnahme zumindest nicht ausgeschlossen ist. § 83 IRG verlange keine vollständige Tatsacheninstanz. Es genüge die Möglichkeit, sich nachträglich wirksam rechtliches Gehör zu verschaffen. Aus dem Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft Florenz ergebe sich, dass der Beschwerdeführer für den Fall der Wiedereinsetzung einen Anspruch auf eine erneute Hauptverhandlung habe, in der das Recht zur Verteidigung vorbehaltlos gewährt werde.
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3. Die Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf hat die Auslieferung am 14. November 2014 bewilligt. Bereits zuvor hatte sie erklärt, dass von der Befugnis zur Ablehnung der Bewilligung nach § 83b Nr. 1 IRG kein Gebrauch gemacht werde.
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II.
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Mit seiner Verfassungsbeschwerde, die mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbunden ist, rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 1, Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 3 Abs. 1, Art. 103 Abs. 1 GG, des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 3 EMRK) sowie eine Missachtung der nach Art. 25 GG verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandards. Aus der Rechtsprechung des italienischen Kassationsgerichtshofes ergebe sich, dass auf vor dem 28. April 2014 erfolgte Verurteilungen Art. 175 CCP in seiner früheren Fassung anzuwenden sei. Nach dieser Fassung von Art. 175 CCP müsse der Antragsteller im Wiederaufnahmeverfahren beweisen, dass er von dem gegen ihn in Abwesenheit geführten Verfahren keine Kenntnis hatte. Ob der Beschwerdeführer diesen Nachweis erbringen könne und Wiedereinsetzung gewährt werde, sei zweifelhaft. Die Auskunft der Generalstaatsanwaltschaft Florenz, ihm würde Wiedereinsetzung gewährt und seine Verteidigungsrechte würden in vollem Umfang gewahrt werden, bedeute keine hinreichende Garantie eines fairen Verfahrens. Wiedereinsetzung könne hier nur in die Berufungsfrist gewährt werden. Für die Berufungsverhandlung sehe das italienische Strafverfahrensrecht eine Beweisaufnahme aber grundsätzlich nicht vor, so dass insbesondere das in Art. 6 Abs. 3 EMRK garantierte Recht des Angeklagten, Fragen an Belastungszeugen zu stellen, missachtet werde.
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III.
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1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Als Mittel des vorläufigen Rechtsschutzes hat die einstweilige Anordnung auch im verfassungsgerichtlichen Verfahren die Aufgabe, die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhindern; sie soll auf diese Weise dazu beitragen, Wirkung und Bedeutung einer erst noch zu erwartenden Entscheidung in der Hauptsache zu sichern und zu erhalten (vgl. BVerfGE 42, 103 119>). Deshalb bleiben die Gründe, welche für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme sprechen, außer Betracht, es sei denn, die Hauptsache erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 77, 130 135>; 89, 91 94>; 104, 23 27 f.>; 105, 365 370 f.>; 106, 359 363>; 122, 374 384>; stRspr).
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2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Im Hauptsacheverfahren wird die Frage zu klären sein, ob die vom Oberlandesgericht vorgenommene Auslegung und Anwendung von § 83 Nr. 3 IRG in Verbindung mit Art. 4a Abs. 1 Buchstabe d des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. EG Nr. L 190 vom 18. Juli 2002, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung (ABl. EU Nr. L 81 vom 27. März 2009, S. 24; vgl. auch EuGH, Urteil vom 26. Februar 2013 - C-399/11 - Melloni -, NJW 2013, S. 1215 1217 ff.>; Spanisches Verfassungsgericht, Pleno. Auto 86/2011 vom 9. Juni 2011) mit dem Kern des von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG garantierten Rechts auf ein faires Verfahren (vgl. BVerfGE 38, 105 111>; 122, 248 271 f.>; 133, 168 200, Rn. 59>) vereinbar ist.
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3. Die somit gebotene Folgenabwägung führt zum Erlass der im Entscheidungsausspruch näher bezeichneten einstweiligen Anordnung. Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, so entstünden dem Beschwerdeführer durch die Übergabe an die ita-lienischen Justizbehörden erhebliche und möglicherweise nicht wiedergutzumachende Nachteile. Die Verzögerung der Übergabe des Beschwerdeführers wiegt demgegenüber weniger schwer. Es ist nicht erkennbar, dass die Italienische Republik bei der Durchsetzung ihres Strafverfolgungsanspruchs oder die Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf ihre rechtlichen Verpflichtungen bereits durch die Verzögerung der Auslieferung unwiederbringliche Rechtsnachteile erlitten.
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IV.
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Wegen der besonderen Dringlichkeit, die sich daraus ergibt, dass der Beschwerdeführer am 2. Dezember 2014 den italienischen Behörden übergeben werden soll, ergeht diese einstweilige Anordnung ohne vorherige Gelegenheit zur Stellungnahme (§ 32 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG).
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Die Vollziehung des Auslieferungshaftbefehls bleibt vom Erlass der einstweiligen Anordnung unberührt.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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