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BVerfG 23.01.2014 - 2 BvR 1020/12
BVerfG 23.01.2014 - 2 BvR 1020/12 - Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung von Grundrechten durch Fortdauer der Unterbringung nach dem Therapieunterbringungsgesetz (juris: ThUG) bei unzureichender fachgerichtlicher Verhältnismäßigkeitsprüfung - Fortbestehendes Rechtsschutzinteresse trotz zwischenzeitlicher Freilassung
Normen
Art 2 Abs 2 S 2 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 104 Abs 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 66 StGB, § 177 StGB, § 1 Abs 1 Nr 1 ThUG
Vorinstanz
vorgehend OLG Nürnberg, 12. März 2012, Az: 15 W 378/12 Th, Beschluss
vorgehend LG Regensburg, 30. Dezember 2011, Az: 7 AR 5/11 ThUG, Beschluss
vorgehend LG Regensburg, 8. Dezember 2011, Az: 7 AR 5/11 ThUG, Beschluss
Tenor
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1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 12. März 2012 - 15 W 378/12 Th - und die Beschlüsse des Landgerichts Regensburg vom 30. Dezember 2011 und vom 8. Dezember 2011 - 7 AR 5/11 ThUG - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.
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Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung über die Kosten und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers an das Oberlandesgericht Nürnberg zurückverwiesen.
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2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
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3. Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer zwei Drittel seiner notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
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Der Beschwerdeführer wendet sich unmittelbar gegen seine gerichtlich angeordnete Unterbringung nach dem Therapieunterbringungsgesetz (ThUG). Mittelbar ist die Verfassungsbeschwerde gegen die Vorschriften des Therapieunterbringungsgesetzes selbst gerichtet.
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I.
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1. Das Landgericht Regensburg verurteilte den mehrfach einschlägig vorbestraften Beschwerdeführer, der wegen einer vorangegangenen Vergewaltigung bereits zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt worden war und diese Strafe verbüßt hatte, mit Urteil vom 20. November 1990 wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und ordnete die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung an, die seit dem 13. November 1997 in der Justizvollzugsanstalt Straubing vollzogen wurde. Nachdem die auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg mit Sitz in Straubing zuletzt mit Beschluss vom 26. Juli 2010 den weiteren Vollzug der Sicherungsverwahrung über die Zehnjahresfrist hinaus angeordnet hatte, erklärte das Oberlandesgericht Nürnberg mit Beschluss vom 28. November 2011 die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung mit sofortiger Wirkung für erledigt.
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Im Verfahren nach dem Therapieunterbringungsgesetz ordnete das Landgericht Regensburg mit Beschluss vom 28. November 2011 zunächst die vorläufige Unterbringung des Beschwerdeführers an. Mit Beschluss vom 8. Dezember 2011 erfolgte die Unterbringungsanordnung in der Hauptsache bis zum 27. Mai 2013. Nachdem das Landgericht Regensburg der Beschwerde mit Beschluss vom 30. Dezember 2011 nicht abgeholfen hatte, wies das Oberlandesgericht Nürnberg die Beschwerde mit Beschluss vom 12. März 2012 zurück. In den Entscheidungsgründen wird hinsichtlich des erforderlichen Gefährlichkeitsmaßstabes auf die zutreffenden Ausführungen des Landgerichts verwiesen, wonach der strenge Maßstab, der bei einer Vertrauensschutzbelange betreffenden Sicherungsverwahrung anzulegen sei und eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten verlange, nicht auf den Tatbestand des § 1 ThUG zu übertragen sei.
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2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3, Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3, Art. 19 Abs. 1 Satz 1, Art. 103 Abs. 1, Art. 103 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 1 GG sowie von Art. 5 und 7 EMRK. Dem Bundesgesetzgeber fehle die Gesetzgebungskompetenz für das Therapieunterbringungsgesetz. Das Rückwirkungsverbot beziehungsweise das Vertrauensschutzgebot werde verletzt, weil die Therapieunterbringung zum Zeitpunkt der strafrechtlichen Vorverurteilungen noch nicht gesetzlich geregelt gewesen sei und die Unterbringung deshalb eine Rückanknüpfung darstelle. Überdies genüge der Begriff der psychischen Störung nicht den Bestimmtheitsanforderungen. Das Therapieunterbringungsgesetz stelle zudem ein unzulässiges Einzelfallgesetz dar und verstoße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Darüber hinaus begründe die konkrete Verfahrensgestaltung eine Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren.
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3. Den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat die 1. Kammer des Zweiten Senats mit Beschluss vom 13. Juni 2012 abgelehnt.
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4. Das Verfahren wurde dem Bayerischen Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz mit der Gelegenheit zur Stellungnahme zugestellt. Das Ministerium hat von einer Stellungnahme abgesehen.
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II.
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1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde - soweit sie gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 12. März 2012 - 15 W 378/12 Th - und die Beschlüsse des Landgerichts Regensburg vom 30. Dezember 2011 und vom 8. Dezember 2011 - 7 AR 5/11 ThUG - gerichtet ist - zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 BVerfGG sind insoweit erfüllt. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen - insbesondere die Frage der Anforderungen an eine verfassungskonforme Auslegung von § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. -, juris, Rn. 69 ff.) - bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG), und die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
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a) Die Verfassungsbeschwerde ist - soweit die Kammer sie zur Entscheidung annimmt - zulässig und begründet.
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aa) Der Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass die Beschlüsse nicht mehr die Grundlage für eine aktuelle Unterbringung bilden. Der Beschwerdeführer hat ein fortbestehendes schutzwürdiges Interesse an einer nachträglichen verfassungsrechtlichen Überprüfung, weil die Therapieunterbringung aufgrund der angegriffenen Beschlüsse in der Zeit vom 8. Dezember 2011 bis zum 27. Mai 2013 einen tiefgreifenden Eingriff in sein Freiheitsgrundrecht darstellte (vgl. dazu BVerfGE 9, 89 92 ff.>; 32, 87 92>; 53, 152 157 f.>; 104, 220 234>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 31. Oktober 2005 - 2 BvR 2233/04 -, juris, Rn. 20 ff.).
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bb) In dem bezeichneten Umfang ist die Verfassungsbeschwerde auch begründet. In den angegriffenen Beschlüssen über die Anordnung der Therapieunterbringung ist ein unzutreffender Maßstab zugrunde gelegt und der Beschwerdeführer dadurch in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt.
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Mit Beschluss vom 11. Juli 2013 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass § 1 Abs. 1 des Therapieunterbringungsgesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 (BGBl I S. 2300) mit dem Grundgesetz mit der Maßgabe vereinbar ist, dass die Unterbringung oder deren Fortdauer nur angeordnet werden darf, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist (BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. -, juris, Rn. 69 ff.).
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Die im Umfang der Annahme (§ 93a BVerfGG) zur Prüfung stehenden fachgerichtlichen Beschlüsse sind mit diesen Vorgaben für die Anwendung des Therapieunterbringungsgesetzes nicht zu vereinbaren. Sowohl das Landgericht als auch das Oberlandesgericht übertragen den strengen Verhältnismäßigkeitsmaßstab der hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten, wie ihn das Bundesverfassungsgericht für die Vertrauensschutzbelange betreffende Sicherungsverwahrung verlangt (vgl. BVerfGE 128, 326 399>) und wie er in gleicher Weise für die Therapieunterbringung Geltung beansprucht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. -, juris, Rn. 69 ff.), nicht auf den Tatbestand des § 1 Abs. 1 ThUG. Daher genügen die Beschlüsse den Anforderungen an eine verfassungskonforme Auslegung und Anwendung des § 1 Abs. 1 ThUG nicht und verletzen den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
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Dabei kommt es für die Feststellung der Grundrechtsverletzung allein auf die objektive Verfassungswidrigkeit der angefochtenen fachgerichtlichen Entscheidungen im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an; unerheblich ist hingegen, ob die Grundrechtsverletzung den Fachgerichten vorwerfbar ist (vgl. BVerfGE 128, 326 407 f.>).
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cc) Da die Verfassungsbeschwerde schon wegen der Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG begründet ist, bedarf es keiner Entscheidung, ob darüber hinaus weitere Grundrechte verletzt sind.
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b) Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 12. März 2012 ist daher aufzuheben. Die Sache ist zur Entscheidung über die Kosten und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers (vgl. BVerfGE 128, 326 407>) an das Oberlandesgericht Nürnberg zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).
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2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Hinsichtlich des mittelbaren Angriffs auf das Therapieunterbringungsgesetz wird auf den Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. - verwiesen und im Übrigen von einer Begründung abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).
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3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
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