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BVerfG 19.08.2013 - 1 BvR 577/13
BVerfG 19.08.2013 - 1 BvR 577/13 - Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Feststellung mangelnder Prozessfähigkeit im Zivilprozess (§ 56 Abs 1 ZPO) ohne zureichende Sachaufklärung verletzt Willkürverbot (Art 3 Abs 1 GG) - Gegenstandswertfestsetzung
Normen
Art 3 Abs 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 14 Abs 1 RVG, § 37 Abs 2 S 2 RVG, § 56 Abs 1 ZPO, § 57 Abs 1 ZPO
Vorinstanz
vorgehend LG Kiel, 19. Januar 2013, Az: 13 T 170/12, Beschluss
vorgehend AG Kiel, 25. Oktober 2012, Az: 120 C 280/10, Beschluss
Tenor
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Die Beschlüsse des Amtsgerichts Kiel vom 25. Oktober 2012 - 120 C 280/10 - und des Landgerichts Kiel vom 19. Januar 2013 - 13 T 170/12 - verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes, soweit sie die Beiordnung eines Prozesspflegers und die Feststellung einer Prozessunfähigkeit der Beschwerdeführerin betreffen.
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Der Beschluss des Landgerichts Kiel vom 19. Januar 2013 - 13 T 170/12 - wird in diesem Umfang aufgehoben. Die Sache wird an die 13. Zivilkammer des Landgerichts Kiel in der in § 75 des Gerichtsverfassungsgesetzes vorgeschriebenen Besetzung zur erneuten Entscheidung über die Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Kiel vom 25. Oktober 2012 - 120 C 280/10 -, soweit dieser die Beiordnung eines Prozesspflegers und die Feststellung einer Prozessunfähigkeit betrifft, zurückverwiesen.
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Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
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Das Land Schleswig-Holstein hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten. Damit erledigt sich zugleich der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts.
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Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 16.000 € (in Worten: sechzehntausend Euro) festgesetzt.
Gründe
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I.
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Im Ausgangsverfahren ist die Beschwerdeführerin wegen einer Mieterhöhung in Anspruch genommen worden. Nachdem die Klage mittlerweile zurückgenommen wurde, sind noch Wider- und Wider-Widerklagen anhängig. Das Verfahren ist seit fünf Jahren anhängig.
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1. Durch Beschluss vom 25. Oktober 2012 stellte das Amtsgericht fest, dass die Beschwerdeführerin prozessunfähig sei und ordnete ihr nach § 57 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) einen Prozesspfleger bei. Die Entscheidungsgründe beziehen sich zur Feststellung der Prozessunfähigkeit ausschließlich auf eine sachverständige Stellungnahme eines Stadtarztes des Gesundheitsamtes, die für das Gericht in ihrer Gesamtheit nachvollziehbar und überzeugend sein soll. In dieser Stellungnahme stellte der Stadtarzt auf Grundlage der Akte des Ausgangsverfahrens und weiteren Schriftverkehrs fest, dass die Beschwerdeführerin - vorbehaltlich einer ausführlichen Begutachtung - über die Voraussetzungen der Prozessfähigkeit "aus seelischen Gründen" nicht verfüge. Durch Beschluss vom 19. Januar 2013 bestätigte das Landgericht auf die von der Beschwerdeführerin erhobene Beschwerde die amtsgerichtliche Entscheidung unter Bezugnahme auf die erstinstanzlichen Feststellungen, die dem entsprächen, was das Landgericht bereits früher aufgrund des Akteninhalts wiederholt festgestellt habe.
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In einer ergänzenden Stellungnahme vom 24. Juli 2013 teilte der Sachverständige mit, dass er den Geisteszustand der Beschwerdeführerin weder sicher beurteilen noch eine Verdachtsdiagnose stellen könne.
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2. Die Beschwerdeführerin wendet sich mit der Verfassungsbeschwerde unter anderem gegen die Beiordnung des Prozesspflegers und die damit verbundene Feststellung, sie sei prozessunfähig. Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG und ihrer Rechte aus Art. 101 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG.
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3. Zu dem Verfahren hat die Klägerin des Ausgangsverfahrens Stellung genommen. Das Ministerium für Justiz, Kultur und Europa das Landes Schleswig-Holstein hat von einer Stellungnahme abgesehen. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben der Kammer vorgelegen.
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II.
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Die Verfassungsbeschwerde ist nur teilweise zur Entscheidung anzunehmen.
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1. Die Voraussetzungen für eine Annahme nach § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor, soweit die Beschwerdeführerin die Ablehnung von Prozesskostenhilfe- und Befangenheitsanträgen durch die angegriffenen Entscheidungen rügt und sich gegen das Schreiben des Landgerichts vom 11. Februar 2013 wendet; von einer Begründung wird insoweit nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
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2. Soweit die Beschwerdeführerin die Feststellung ihrer Prozessunfähigkeit und die Beiordnung eines Prozesspflegers angreift, nimmt die Kammer die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin aus Art. 3 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgebliche verfassungsrechtliche Frage ist durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (vgl. BVerfGE 42, 64; 71, 122 136>; 81, 97, 106>). Die Verfassungsbeschwerde ist in dem Umfang, in dem sie zur Entscheidung anzunehmen ist, offensichtlich begründet.
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a) Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG.
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Der materiell-verfassungsrechtliche Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG, an dem sich jede Gerichtsentscheidung auch bei Auslegung und Anwendung von Verfahrensrecht (vgl. BVerfGE 42, 64) messen lassen muss, verlangt mit Rücksicht auf die verfassungsrechtliche Gebundenheit des Richters an Gesetz und Recht eine Begründung der Entscheidung jedenfalls dann und insoweit, als von dem eindeutigen Wortlaut einer Rechtsnorm abgewichen werden soll und der Grund hierfür sich nicht schon eindeutig aus den für die Beteiligten ohne weiteres erkennbaren oder bekannten Besonderheiten des Falles ergibt (vgl. BVerfGE 71, 122 135 f.>). Weicht ein Gericht von den Normen des einfachen Rechts in der Auslegung ab, die sie durch die höchstrichterliche Rechtsprechung gewonnen haben, obliegt es ihm darzulegen, dass dies mit verfassungsrechtlichen Anforderungen vereinbar ist, soweit sich dies nicht aus den übrigen Umständen des Falles ergibt (vgl. BVerfGE 81, 97 106>).
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Die angegriffenen Beschlüsse weichen ohne ausreichende Begründung und ohne erkennbare Rechtfertigung von der Auslegung der §§ 56, 57 ZPO durch den Bundesgerichtshof ab.
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Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs setzt die Feststellung mangelnder Prozessfähigkeit voraus, dass alle verfügbaren Beweismittel ausgeschöpft sind (vgl. BGHZ 18, 184; 86, 184 189>; 143, 122 125>; BGH, Urteil vom 9. Mai 1962 - IV ZR 4/62 -, NJW 1962, S. 1510; Versäumnis-Urteil vom 14. Juli 1966 - VI ZR 37/65 -, NJW 1966, S. 2210 2211>; Urteil vom 9. Januar 1996 - VI ZR 94/95 -, NJW 1996, S. 1059 1060>; Urteil vom 8. Dezember 2009 - VI ZR 284/08 -, FamRZ 2010, S. 548; stRspr). Die Frage, ob eine bestimmte sich anbietende Erkenntnismöglichkeit ungenutzt bleiben darf, bedarf einer besonders sorgfältigen Prüfung. Soll die Frage bejaht werden, erfordert das eine überzeugende Begründung. Von Versuchen, zu einer gesicherten Erkenntnis über den Geisteszustand zu gelangen, darf nur abgesehen werden, wenn ein vom Gericht dazu befragter Sachverständiger diese auch bei Berücksichtigung des Inhalts der vorliegenden Akten mit überzeugender Begründung von vornherein für aussichtslos erklären würde (vgl. BGH, Versäumnis-Urteil vom 14. Juli 1966 - VI ZR 37/65 -, a.a.O., S. 2211).
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Die Fachgerichte im Ausgangsverfahren haben eine Entscheidung über die Prozessfähigkeit der Beschwerdeführerin getroffen, obgleich die Tatsachengrundlage nach Maßgabe der höchstrichterlichen Rechtsprechung nur unzulänglich geklärt war. Die sachverständige Einschätzung allein war schon deshalb keine taugliche Grundlage für eine sichere Feststellung der Prozessunfähigkeit, weil sie äußerst knapp gehalten ist, die psychiatrischen Grundlagen der Prozessfähigkeit nicht erläutert, erhebliche fachliche Vorbehalte enthält und Aussagen trifft, die für den medizinischen Laien zunächst gegen die Annahme von Prozessunfähigkeit sprechen. Durch die ergänzende Stellungnahme vom 24. Juli 2013 hat der Sachverständige zudem selbst klargestellt, dass er sich zu einer Diagnose oder einer Verdachtsdiagnose nicht in der Lage sieht und nur Vermutungen anstellen könne.
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Mithin liegt ein Abweichen bei der Rechtsanwendung vor, das nur dann verfassungsrechtlichen Bestand haben könnte, wenn sich aus den Entscheidungsgründen oder den sonstigen Umständen hierfür eine Rechtfertigung entnehmen ließe. Eine solche Rechtfertigung fehlt jedoch. Den angegriffenen Beschlüssen lässt sich nicht entnehmen, dass die Gerichte sich mit der einschlägigen Rechtslage eingehend auseinandergesetzt und von sich aus alles getan haben, um die Frage der Prozessfähigkeit soweit wie möglich einer Klärung zuzuführen. Sie erschöpfen sich in der nicht tragfähigen Bezugnahme auf die sachverständige Stellungnahme und - im Fall der landgerichtlichen Entscheidung - einem vagen Hinweis auf frühere Feststellungen. Eine besonders sorgfältige Auseinandersetzung mit der Tatsachengrundlage am Maßstab der einschlägigen Rechtslage, wie sie der Bundesgerichtshof fordert, war auch nicht deshalb entbehrlich, weil der gerichtlich beauftragte Sachverständige weitere Aufklärungsversuche mit überzeugender Begründung für aussichtslos erklärt hätte. Die diesbezüglichen Ausführungen in der den Entscheidungen zugrunde liegenden sachverständigen Stellungnahme erschöpfen sich in der Erklärung, dass er den Geisteszustand der Beschwerdeführerin ohne Explorationsgespräch nicht sicher einschätzen könne, weil die Beschwerdeführerin sich einer Begutachtung entziehe.
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b) Zur Beseitigung des Verfassungsverstoßes und zur Beschleunigung des Gesamtverfahrens, die in der Beschwerdeinstanz besonderes Gewicht hat, ist die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen. Dieses hat die Frage der Prozessfähigkeit der Beschwerdeführerin grundsätzlich auch bei wesentlichen Verfahrensfehlern durch eigene Sachentscheidung zu klären (vgl. Heßler, in: Zöller, ZPO, 29. Aufl. 2012, § 572 Rn. 27 f.). Wegen der besonderen Schwierigkeiten des Falles hat die Kammer nach § 568 Satz 2 Nr. 1 ZPO in Verbindung mit § 75 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) mit drei Mitgliedern einschließlich des Vorsitzenden zu entscheiden.
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c) Da die angegriffenen Entscheidungen schon gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen, kommt es auf die weiteren Rügen nicht an.
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3. Die Entscheidung zur Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 des Gesetzes über die Vergütung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte (Rechtsanwaltsvergütungsgesetz <RVG>).
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