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BVerfG 17.07.2013 - 1 BvR 2540/12
BVerfG 17.07.2013 - 1 BvR 2540/12 - Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im arbeitsgerichtlichen Verfahren - Übergehung von Parteivortrag zu evtl einschlägiger obergerichtlicher Rspr (hier: zur Zuständigkeit der Arbeitsgerichte bei Abberufung des Geschäftsführers eines Vereins unter gleichzeitiger Kündigung der Anstellung) - Gegenstandswertfestsetzung
Normen
Art 103 Abs 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 2 Abs 1 Nr 3 ArbGG, § 5 Abs 1 S 3 ArbGG, § 30 BGB, § 611 BGB, § 14 Abs 1 RVG, § 37 Abs 2 S 2 RVG
Vorinstanz
vorgehend Landesarbeitsgericht Sachsen-Anhalt, 28. September 2012, Az: 4 Ta 142/11, Beschluss
vorgehend Landesarbeitsgericht Sachsen-Anhalt, 30. Dezember 2011, Az: 4 Ta 142/11, Beschluss
Tenor
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Der Beschluss des Landesarbeitsgerichts Sachsen-Anhalt vom 30. Dezember 2011 - 4 Ta 142/11 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache an das Landesarbeitsgericht Sachsen-Anhalt zurückverwiesen.
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Damit wird der Beschluss des Landesarbeitsgerichts Sachsen-Anhalt vom 28. September 2012 - 4 Ta 142/11 - gegenstandslos.
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Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
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Das Land Sachsen-Anhalt hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
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Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 25.000 € (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.
Gründe
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I.
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Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Gewährung rechtlichen Gehörs in einer Entscheidung über die Zulässigkeit des Rechtsweges zu den Gerichten für Arbeitssachen. Gegenstand des Ausgangsverfahrens sind Kündigungsschutzanträge sowie ein möglicher Anspruch des Beschwerdeführers auf Annahmeverzugslohn.
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1. Der Beschwerdeführer war zuletzt auf der Grundlage einer als "Arbeitsvertrag" bezeichneten Vereinbarung aus dem Jahr 2007 bei einem eingetragenen Verein, dem Beklagten des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Beklagter), beschäftigt. Danach war der Beschwerdeführer als "stellv. Landesgeschäftsführer" des Beklagten angestellt. Nach § 7 Abs. 4 der Satzung des Beklagten aus dem Jahr 2008 wird die Führung der laufenden Geschäfte einem Geschäftsführer oder einer Geschäftsführerin und einem stellvertretenden Geschäftsführer beziehungsweise einer stellvertretenden Geschäftsführerin übertragen, die nach entsprechender Bestellung durch den Vorstand den Verein nach § 30 BGB vertreten. Im Jahr 2009 wurde der Beschwerdeführer zum besonderen Vertreter gemäß § 30 BGB bestellt, am 18. März 2011 erfolgte seine Abberufung. Gleichzeitig kündigte der Beklagte das "Arbeitsverhältnis" fristlos, hilfsweise ordentlich; es folgten mehrere Nachkündigungen.
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2. Das Arbeitsgericht erklärte den Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen für unzulässig und verwies den Rechtsstreit an das Landgericht mit der Begründung, dass der Beschwerdeführer organschaftlicher Vertreter des Beklagten sei. Ob das der Bestellung zugrunde liegende Rechtsverhältnis materiell-rechtlich als Arbeitsverhältnis zu qualifizieren sei, könne dahinstehen. Zur Begründung seiner hiergegen gerichteten sofortigen Beschwerde stellte der Beschwerdeführer wiederholt auf eine aktuelle Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts ab. Danach sind die Gerichte für Arbeitssachen zuständig, wenn ein Arbeitnehmer aus einem bestehenden Arbeitsverhältnis heraus formlos zum Geschäftsführer einer GmbH bestellt wird und er nach Beendigung der Organstellung Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis geltend macht (Beschluss vom 23. August 2011- 10 AZB 51/10 -, BAGE 139, 63).
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Das Landesarbeitsgericht versäumte es, dem Beschwerdeführer eine Stellungnahme der Gegenseite sowie die Entscheidung über die sofortige Beschwerde zuzuleiten. In seiner Entscheidung wies es die sofortige Beschwerde unter Bezugnahme auf die Begründung des Arbeitsgerichts zurück. Auf den Vortrag des Beschwerdeführers zu der von ihm zitierten Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts ging das Landesarbeitsgericht in seiner Begründung nicht ein. Mit der hiergegen gerichteten Anhörungsrüge beanstandete der Beschwerdeführer insbesondere, dass das Landesarbeitsgericht die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 23. August 2011 - 10 AZB 51/10 - nicht berücksichtigt habe. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts stehe in Divergenz zu der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts. Der Beschwerdeführer zitierte in der Anhörungsrüge erneut den Leitsatz der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts, den er optisch in einem gesonderten Absatz durch Anführungszeichen und kursive Schrift hervorhob. In einer ergänzenden Stellungnahme wies er erneut auf die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 23. August 2011 - 10 AZB 51/10 - hin. Es sei nicht erkennbar, aufgrund welcher Überlegung von der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts abgewichen worden sei. Das Landesarbeitsgericht wies die Anhörungsrüge zurück, ohne auf die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 23. August 2011 und die sich hierauf gründende Argumentation des Beschwerdeführers einzugehen.
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3. Mit seiner Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 und Art. 103 Abs. 1 GG geltend. Insbesondere habe das Landesarbeitsgericht die Ausführungen des Beschwerdeführers in Bezug auf die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 23. August 2011 - 10 AZB 51/10 - ersichtlich nicht in Erwägung gezogen.
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4. Die Staatskanzlei des Landes Sachsen-Anhalt hat von einer Stellungnahme abgesehen. Der Beklagte des Ausgangsverfahrens hat sich nicht geäußert. Die Akte des Ausgangsverfahrens hat dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.
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II.
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Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, soweit die Verletzung rechtlichen Gehörs mit der Begründung gerügt wird, das Landesarbeitsgericht habe Vortrag des Beschwerdeführers nicht in Erwägung gezogen, und gibt ihr insoweit statt. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Entscheidung durch die Kammer liegen vor (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
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1. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG.
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a) Das Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (BVerfGE 46, 315, 319>; 105, 279 311>; stRspr). Art. 103 Abs. 1 GG ist allerdings erst verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist. Die Gerichte sind nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen, namentlich nicht bei letztinstanzlichen, mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr angreifbaren Entscheidungen. Deshalb müssen, damit das Bundesverfassungsgericht einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG feststellen kann, im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (vgl. BVerfGE 65, 293 295>; 70, 288 293>; 86, 133, 145 f.>). Geht ein Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags einer Partei zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen (vgl. BVerfGE 47, 182 189>; 86, 133 146>). Um dem Anspruch auf rechtliches Gehör gerecht zu werden, ist es ebenfalls geboten, dass das Gericht die wesentlichen Rechtsausführungen der prozessführenden Parteien zur Kenntnis nimmt (vgl. BVerfGE 60, 175 210>; 86, 133 144>). Dies gilt insbesondere, wenn sich eine Partei auf eine obergerichtliche Rechtsprechung beruft und das entscheidende Gericht im Falle der Abweichung dem Obergericht hätte vorlegen müssen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 7. November 1996 - 2 BvR 1204/96 -, juris, Rn. 19).
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b) Diesen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht. Das Landesarbeitsgericht hat möglicherweise entscheidungserheblichen Vortrag des Beschwerdeführers außer Acht gelassen.
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Das Landesarbeitsgericht setzt sich in seiner Entscheidung über die Rechtswegzuständigkeit mit dem Vortrag des Beschwerdeführers, soweit er wiederholt auf den Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 23. August 2011 - 10 AZB 51/10 - verweist, nicht auseinander. Diesen Verweisen kommt im Vortrag des Beschwerdeführers erkennbar zentrale Bedeutung zu. Dennoch geht das Gericht weder auf den Tatsachenvortrag des Beschwerdeführers ein, der ausführlich geltend gemacht hat, dass die Sachverhalte in den entscheidungserheblichen Punkten vergleichbar seien, noch finden die rechtlichen Erwägungen des Bundesarbeitsgerichts Erwähnung.
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Sollte das Landesarbeitsgericht davon ausgegangen sein, die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts sei vorliegend nicht einschlägig, hätte dies einer Begründung bedurft. Entscheidungsrelevante Unterschiede in Bezug auf den Sachverhalt mögen erkennbar sein, sind aber nicht von vornherein offensichtlich. So war einerseits nach dem Wortlaut der als "Arbeitsvertrag" bezeichneten Vereinbarung aus dem Jahr 2007 eine Organbestellung des Beschwerdeführers nicht ausdrücklich vorgesehen und er wurde erst 2009 formlos zum organschaftlichen Vertreter bestellt; die Satzung, aus der sich folgern ließe, dass die Organbestellung in der Vereinbarung bereits angelegt gewesen sei, wurde später beschlossen. Andererseits erfolgte die Kündigung zusammen mit der Abberufung (vgl. zu diesem Kriterium: BAG, Beschluss vom 25. Mai 1999 - 5 AZB 30/98 -, juris, Rn. 18). Von daher hätte das Gericht auf die von dem Beschwerdeführer angeführte Entscheidung eingehen müssen, denn die vom Beschwerdeführer behauptete Vergleichbarkeit dieses Sachverhalts mit demjenigen, der in der von ihm zentral in Bezug genommenen Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zugrunde lag, war Kern seines Vortrags. Sollte das Landesarbeitsgericht der Entscheidung eine Abweichung von der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zugrunde legen, wäre zudem die Rechtsbeschwerde wegen Divergenz gemäß § 78 Satz 2 ArbGG in Verbindung mit § 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG zuzulassen gewesen. Da das Landesarbeitsgericht weder auf entscheidungsrelevante Unterschiede im Sachverhalt hingewiesen noch die Rechtsbeschwerde zugelassen hat, liegt die Annahme nahe, dass es den Standpunkt des Beschwerdeführers nicht zur Kenntnis genommen, ihn jedenfalls nicht in Erwägung gezogen hat.
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Die Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs setzt sich in dem Beschluss über die Zurückweisung der Anhörungsrüge fort.
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c) Der Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG ist auch entscheidungserheblich. Eine Entscheidung beruht auf einem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Gericht bei gebührender Auseinandersetzung mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers zu einem anderen, für diesen günstigeren Ergebnis gelangt wäre (vgl. BVerfGE 7, 95 99>; 89, 381 392 f.>). Vorliegend erscheint es nicht ausgeschlossen, dass das Landesarbeitsgericht bei Berücksichtigung des Vortrags des Beschwerdeführers eine für diesen günstigere Entscheidung getroffen hätte. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts im Ergebnis vertretbar erscheint, etwa aufgrund der zeitlichen Nähe zwischen Abberufung aus der Organstellung und Kündigung des Anstellungsverhältnisses oder weil der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Klageerhebung möglicherweise noch als organschaftlicher Vertreter im Vereinsregister eingetragen war.
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2. Es bedarf keiner weiteren Entscheidung darüber, ob eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG unter anderen Gesichtspunkten vorliegt oder ob das Willkürverbot, das Recht auf den gesetzlichen Richter oder der Anspruch auf ein faires Verfahren verletzt sind.
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3. Der Beschluss vom 30. Dezember 2011 ist wegen des Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 1 GG gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache an das Landesarbeitsgericht Sachsen-Anhalt zurückzuverweisen. Der Beschluss vom 28. September 2012 wird damit gegenstandslos.
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III.
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Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG; die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG und den Grundsätzen für die Festsetzung des Gegenstandswerts im verfassungsgerichtlichen Verfahren (vgl. BVerfGE 79, 365 366 ff.>).
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