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BFH 26.10.2016 - III R 27/13
BFH 26.10.2016 - III R 27/13 - Kindergeld: Anspruchsberechtigung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten
Normen
§ 62 Abs 1 Nr 1 EStG 2009, § 63 Abs 1 EStG 2009, § 64 Abs 2 S 1 EStG 2009, § 64 Abs 2 S 2 EStG 2009, Art 1 Buchst z EGV 883/2004, Art 2 Abs 1 EGV 883/2004, Art 3 Abs 1 Buchst j EGV 883/2004, Art 11 Abs 1 EGV 883/2004, Art 11 Abs 3 Buchst e EGV 883/2004, Art 67 EGV 883/2004, Art 60 Abs 1 S 2 EGV 987/2009, EStG VZ 2011
Vorinstanz
vorgehend FG Düsseldorf, 8. Februar 2012, Az: 7 K 1530/11 Kg, Urteil
Leitsatz
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NV: Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 kann dazu führen, dass der Anspruch auf Kindergeld nach §§ 62 ff. EStG nicht dem in Deutschland, sondern vorrangig dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht (Anschluss an die Senatsurteile vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, und vom 28. April 2016 III R 68/13, BFHE 254, 20, BStBl II 2016, 776) .
Tenor
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Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 8. Februar 2012 7 K 1530/11 Kg aufgehoben.
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Die Klage wird abgewiesen.
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Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
Tatbestand
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I. Streitig ist der Kindergeldanspruch für das Kind V für den Zeitraum Januar 2011 bis April 2011.
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Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist der Vater der im Januar 2011 geborenen Tochter V. Er ist deutscher Staatsangehöriger und lebt in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland). V lebt bei der erwerbstätigen Kindsmutter in Polen. Diese erhält für V aufgrund zu hoher eigener Einkünfte keine polnischen Familienleistungen.
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Mit Bescheid vom 26. Januar 2011 lehnte die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) den Antrag des Klägers auf Kindergeld für V ab, da die Kindsmutter vorrangig kindergeldberechtigt sei. Der dagegen gerichtete Einspruch hatte keinen Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 29. März 2011).
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Das Finanzgericht (FG) gab der hiergegen gerichteten Klage mit Urteil vom 8. Februar 2012 7 K 1530/11 Kg statt. Es verpflichtete die Familienkasse, dem Kläger ab Januar 2011 Kindergeld für V in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
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Mit der Revision rügt die Familienkasse die sich aus einer unzutreffenden Auslegung des § 64 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ergebende Verletzung materiellen Rechts.
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Die Familienkasse beantragt,
das Urteil des FG Düsseldorf vom 8. Februar 2012 7 K 1530/11 Kg aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
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Mit Beschluss vom 20. Januar 2015 hat der Bundesfinanzhof das Ruhen des Verfahrens bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) über das bei ihm anhängige Vorabentscheidungsersuchen C-378/14 angeordnet. Der EuGH hat mit Urteil Trapkowski vom 22. Oktober 2015 C-378/14 (EU:C:2015:720, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst 2015, 1501) über die Vorlagefragen entschieden.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat zu Unrecht entschieden, dass der Anspruch auf Kindergeld für V dem Kläger zusteht. Der Kläger ist zwar nach nationalem Recht (§ 62 EStG) anspruchsberechtigt (dazu 1.). Der Kindsmutter steht aber nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG ein vorrangiger Kindergeldanspruch zu (dazu 2. bis 6.).
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1. Nach den für den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des FG (vgl. § 118 Abs. 2 FGO) erfüllt der Kläger --was zwischen den Beteiligten nicht streitig ist-- die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2, § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 EStG. Unerheblich ist, dass V ihren Wohnsitz in Polen hat (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG).
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2. Allerdings ist die Kindsmutter --entgegen der Rechtsauffassung des FG-- nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig anspruchsberechtigt. Denn gemäß Art. 67 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union --ABlEU-- 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --VO Nr. 883/2004 (Grundverordnung)-- i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --VO Nr. 987/2009 (Durchführungsverordnung)-- ist zu unterstellen, dass sie mit V in Deutschland wohnt.
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a) Nach § 64 Abs. 1 EStG wird für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).
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b) Im Streitfall ergibt sich die Anspruchsberechtigung der Kindsmutter aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Zwar liegt der nach dieser Vorschrift erforderliche Inlandswohnsitz tatsächlich nicht vor. Es finden jedoch die Vorschriften der VO Nr. 883/2004 und der VO Nr. 987/2009 Anwendung. Dadurch wird gemäß Art. 67 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ein Inlandswohnsitz der Kindsmutter fingiert. Zudem erfüllt die Kindsmutter auch die übrigen Voraussetzungen für eine vorrangige Anspruchsberechtigung.
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3. Der Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 ist im Streitfall eröffnet und Deutschland ist danach der zuständige Mitgliedstaat.
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a) Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung. Ebenso ist das Kindergeld nach dem EStG eine Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004, weshalb auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004 eröffnet ist.
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b) Gemäß Art. 11 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 unterliegen die von der Verordnung erfassten Personen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Im Streitfall ergibt sich die Anwendung der deutschen Rechtsvorschriften jedenfalls aus Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der VO Nr. 883/2004.
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4. Aus Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 folgt, dass die Wohnsituation der Kindsmutter (fiktiv) in das Inland übertragen wird. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Entscheidungsgründe in dem Senatsurteil vom 28. April 2016 III R 68/13 (BFHE 254, 20, BStBl II 2016, 776, Rz 19 ff.) Bezug genommen.
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5. Die Kindsmutter erfüllt neben dem Wohnsitzerfordernis auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch.
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a) Anhaltspunkte dafür, dass die Kindsmutter eine nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländerin i.S. des § 62 Abs. 2 EStG ist, hat das FG nicht festgestellt.
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b) Anders als der Kläger meint, beträfe eine etwaige Vereinbarung der Eltern über die Geltendmachung des Kindergeldanspruchs auch nicht die tatsächliche (vorrangige) Anspruchsberechtigung der Kindsmutter (vgl. z.B. Senatsbeschluss vom 25. April 2012 III B 176/11, BFH/NV 2012, 1304, Rz 13, m.w.N.).
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c) Ein vorrangiger Anspruch des Klägers ergibt sich auch nicht aus § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG; denn diese Bestimmung setzt einen gemeinsamen Haushalt zwischen dem Kläger und der Kindsmutter voraus. Nach den Feststellungen des FG unterhielten der Kläger und die Kindsmutter jedoch keinen gemeinsamen Haushalt. Ein gemeinsamer Haushalt kann sich auch nicht aus der Fiktionswirkung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ergeben. Demnach ist im Streitfall der Anspruch der Kindsmutter nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig, da nur bei dieser, nicht dagegen beim Kläger eine Haushaltsaufnahme der V vorliegt.
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6. Schließlich kommt es nicht darauf an, ob die Kindsmutter selbst einen Antrag auf Kindergeld in Deutschland gestellt hat. Vielmehr hätte die deutsche Familienkasse einen Antrag des Klägers auf Kindergeld auch als solchen zugunsten des Kindergeldanspruchs der Kindsmutter zu berücksichtigen. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Entscheidungsgründe in dem Senatsurteil in BFHE 254, 20, BStBl II 2016, 776, Rz 27 f. Bezug genommen.
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7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
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