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BFH 20.03.2014 - V R 45/11
BFH 20.03.2014 - V R 45/11 - Kindergeld für einen aus Polen nach Deutschland entsandten Saisonarbeitnehmer
Normen
§ 1 Abs 3 EStG 2002, § 62 Abs 1 Nr 1 EStG 2002, § 62 Abs 1 Nr 2 Buchst b EStG 2002, § 8 AO, § 9 AO, Art 14 Nr 1 Buchst a EWGV 1408/71, Art 73 EWGV 1408/71, EStG VZ 2005, EStG VZ 2006, EStG VZ 2007
Vorinstanz
vorgehend Finanzgericht Rheinland-Pfalz, 24. Oktober 2011, Az: 1 K 2298/08, Urteil
Leitsatz
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NV: Ein inländischer Kindergeldanspruch wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass Polen als Wohnsitzstaat im Hinblick auf die Gewährung von Familienleistungen nach der VO Nr. 1408/71 der an sich zuständige Mitgliedstaat ist.
Tatbestand
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I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist polnischer Staatsangehöriger, der zusammen mit seiner Ehefrau und seinem am 15. Januar 1992 geborenen Kind P von 2004 bis 2007 einen Wohnsitz in Polen hatte. In den Zeiträumen vom 10. Mai 2004 bis 30. September 2004, vom 14. März 2005 bis 13. März 2006 und vom 3. Juli 2006 bis 2. Juli 2007 entsandte ihn sein polnischer Arbeitgeber ins Inland. In seiner Eigenschaft als (polnischer) Arbeitnehmer führte er im Inland von seinem Arbeitgeber zu erfüllende Werkverträge aus. Während dieser Zeit war er ausschließlich in Polen sozialversichert.
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Am 16. Juni 2008 stellte der Kläger einen Antrag auf Kindergeld. Diesen lehnte die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) durch Bescheid vom 17. Juli 2008 ab. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.
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Mit der dagegen erhobenen Klage verfolgte der Kläger sein Anspruchsbegehren weiter. Er beantragte, die Familienkasse zu verpflichten, Kindergeld für den Zeitraum von Mai 2004 bis Dezember 2007 (Streitzeitraum) in Höhe von insgesamt 6.776 € zu gewähren (154 € für 44 Monate).
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Das Finanzgericht (FG) wies die Klage durch Urteil vom 24. Oktober 2011 1 K 2298/08 ab. Zur Begründung führte es u.a. aus, dass der Kläger während des Streitzeitraums lediglich einen Anspruch auf Familienleistungen nach polnischem Recht habe. Er unterliege dem persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der Verordnung EWG 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften --ABlEG-- 1997 Nr. L 149, S. 2) in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABlEG 1997 Nr. L 28, S. 1) geänderten und konsolidierten Fassung (im Folgenden: VO Nr. 1408/71). Soweit wegen Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 kollisionsrechtlich Familienleistungen nach polnischen Rechtsvorschriften zu gewähren seien, komme ein Anspruch auf Familienleistungen nach inländischen Vorschriften nicht in Betracht. Dies gelte auch unter Berücksichtigung des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 20. Mai 2008 C-352/06, Brigitte Bosmann (Slg. 2008, I-3827), weil die dort entschiedene Fallkonstellation nicht auf entsandte Arbeitnehmer übertragbar sei, deren Familien im Entsendestaat (hier: Polen) verblieben.
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Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung materiellen Rechts.
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Er führt im Wesentlichen aus, dass das FG den maßgeblichen Vorschriften des Unionsrechts eine rechtsnormverkürzende Wirkung beimesse, wenn es wegen der Rechtszuständigkeit Polens für Familienleistungen einen inländischen Kindergeldanspruch ausschließe.
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Der Kläger beantragt,
das Urteil des FG vom 24. Oktober 2011 1 K 2298/08 sowie die Einspruchsentscheidung vom 19. August 2008 und den Ablehnungsbescheid vom 17. Juli 2008 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, Kindergeld für den Streitzeitraum in Höhe von insgesamt 6.776 € festzusetzen.
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Die Familienkasse beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
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Das FG hat die Klage zu Unrecht mit der Begründung abgewiesen, dass ein inländischer Kindergeldanspruch schon deshalb ausgeschlossen sei, weil Polen nach der VO Nr. 1408/71 der zuständige Mitgliedstaat für die Gewährung von Familienleistungen sei. Auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen kann der Senat keine abschließende Entscheidung treffen. Im zweiten Rechtsgang wird das FG die fehlenden Tatsachenfeststellungen nachzuholen haben.
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1. Im Revisionsverfahren war zwischen den Beteiligten unstreitig, dass der persönliche und sachliche Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 eröffnet ist. Kollisionsrechtlich ist nach Art. 14 Nr. 1 Buchst. a, Art. 73 der VO Nr. 1408/71 die Rechtszuständigkeit des Wohnsitzmitgliedstaats (Polen) für Familienleistungen begründet, während die Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) als Beschäftigungsmitgliedstaat im Hinblick auf die Gewährung von Familienleistungen der nicht zuständige Mitgliedstaat ist.
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Die Rechtszuständigkeit Polens nach Art. 14 Nr. 1 Buchst. a, Art. 73 der VO Nr. 1408/71 hat aber --anders als vom FG angenommen-- nicht zur Folge, dass ein möglicherweise nach § 62 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) bestehender inländischer Kindergeldanspruch deshalb ausgeschlossen wird. Denn die ausschließliche Rechtszuständigkeit Polens nach der VO Nr. 1408/71 entfaltet keine Sperrwirkung für die Anwendung des Rechts des nicht zuständigen Mitgliedstaats (Deutschland). Der III. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) hat seine gegenteilige Ansicht aufgegeben (vgl. dazu BFH-Urteile vom 16. Mai 2013 III R 8/11, BFHE 241, 511, BStBl II 2013, 1040, unter II.2.; zustimmend BFH-Urteile vom 11. Juli 2013 VI R 68/11, BFHE 242, 206, und vom 5. September 2013 XI R 52/10, BFH/NV 2014, 33, Rz 29). Der erkennende Senat hat sich --im Hinblick auf die EuGH-Urteile Bosmann in Slg. 2008, I-3827, Rdnr. 33 und vom 12. Juni 2012 C-611/10, C-612/10, Hudzinski und Wawrzyniak (Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst 2012, 999, Rdnrn. 56 f.)-- der geänderten Auffassung aus den im Urteil des BFH in BFHE 241, 511, BStBl II 2013, 1040, unter II.2. genannten Gründen angeschlossen (vgl. BFH-Urteil vom 30. Januar 2014 V R 38/11, juris).
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2. Die Vorentscheidung ist von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen und war deshalb aufzuheben.
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3. Die Sache ist nicht spruchreif. Sie ist deshalb zur Nachholung der fehlenden Feststellungen an das FG zurückzuverweisen.
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a) Das FG wird im zweiten Rechtsgang festzustellen haben, ob der Kläger im Streitzeitraum möglicherweise einen Anspruch auf inländisches Kindergeld (§§ 62 Abs. 1, 63 EStG) hatte.
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aa) Hinsichtlich eines Kindergeldanspruchs nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG wird das FG zu prüfen haben, ob der Kläger im Zeitraum von Mai 2004 bis Juli 2007 einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hatte. Etwaige für diese Veranlagungszeiträume (2004 bis 2007) ergangene Einkommensteuerbescheide entfalten für die kindergeldrechtliche Beurteilung eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts keine Bindungswirkung (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 20. März 2013 XI R 37/11, BFHE 240, 394, unter II.2.b).
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Im Zusammenhang mit einem Wohnsitz i.S. des § 8 der Abgabenordnung (AO) weist der Senat darauf hin, dass ein Steuerpflichtiger gleichzeitig mehrere Wohnsitze haben kann und diese auch im Inland und Ausland belegen sein können. Ohne Bedeutung ist dabei, welcher Wohnsitz den Mittelpunkt der Lebensinteressen bildet (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 10. August 1983 I R 241/82, BFHE 139, 261, BStBl II 1984, 11, juris Rz 16, und vom 10. April 2013 I R 50/12, BFH/NV 2013, 1909, unter II.2.a, m.w.N.).
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Im Zusammenhang mit einem gewöhnlichen Aufenthalt i.S. des § 9 Satz 1 AO im Inland weist der Senat darauf hin, dass das FG den Sachverhalt insbesondere unter dem Gesichtspunkt des zeitlich zusammenhängenden Aufenthalts von mehr als sechs Monaten zu prüfen haben wird (§ 9 Satz 2 AO; vgl. hierzu z.B. BFH-Urteile vom 22. Juni 2011 I R 26/10, BFH/NV 2011, 2001, unter II.1.b, und vom 7. April 2011 III R 89/08, BFH/NV 2011, 1324, unter II.2.).
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Auch bei Vorliegen eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts im Inland ist zu beachten, dass sich der Kindergeldanspruch danach richtet, ob die Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld im jeweiligen Monat vorlagen (vgl. BFH-Urteil vom 24. Oktober 2012 V R 43/11, BFHE 239, 327, BStBl II 2013, 491, Rz 13).
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bb) Soweit ein Kindergeldanspruch nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG nicht in Betracht kommt, wird das FG hinsichtlich eines möglicherweise bestehenden Kindergeldanspruchs nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG festzustellen haben, ob der Kläger einen Antrag nach § 1 Abs. 3 EStG gestellt hatte und für die Kalenderjahre 2004 bis 2007 entsprechend zur Einkommensteuer veranlagt wurde. Denkbar wäre auch, dass der Kläger aus anderen Gründen als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig (§ 1 Abs. 1 EStG) oder aber als beschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wurde (vgl. zur Beiziehung der Einkommensteuerakten BFH-Urteil vom 18. Juli 2013 III R 59/11, BFHE 242, 228, Rz 45 f. und 49).
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Der Senat weist darauf hin, dass bei einer möglichen Kindergeldberechtigung nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG der Kindergeldanspruch nur in den Monaten des betreffenden Kalenderjahrs bestehen kann, in denen der Kindergeldberechtigte inländische Einkünfte i.S. des § 49 EStG erzielt hat (vgl. BFH-Urteile in BFHE 239, 327, BStBl II 2013, 491, Rz 17; vom 18. April 2013 VI R 70/11, BFH/NV 2013, 1554, Rz 11 und 14, und in BFHE 242, 228, Rz 19 ff., m.w.N.). In diesem Zusammenhang wird das FG festzustellen haben, zu welchem Zeitpunkt dem Kläger die Einkünfte nach § 49 Abs. 1 Nr. 4 EStG i.V.m. § 11 EStG zugeflossen sind (vgl. BFH-Urteile in BFHE 239, 327, BStBl II 2013, 491, Rz 33; in BFHE 242, 228, Rz 50, und vom 5. September 2013 XI R 26/12, juris, Rz 33). Auf die Mitwirkungspflicht des Klägers wird hingewiesen (vgl. dazu BFH-Urteil in BFHE 242, 228, Rz 24).
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b) Soweit die Feststellungen des FG im zweiten Rechtsgang eine Kindergeldberechtigung des Klägers ergeben sollten, wird das FG weiter zu prüfen haben, in welcher Höhe bereits gewährte oder zu gewährende polnische Familienleistungen auf das Kindergeld anzurechnen sind (Differenzkindergeld). Eine etwaige Konkurrenzsituation mit polnischen Familienleistungen in den betreffenden Monaten des Streitzeitraums wäre entweder nach den vorrangigen unionsrechtlichen Antikumulierungsregelungen oder --soweit diese nicht einschlägig sein sollten-- nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG aufzulösen (vgl. dazu BFH-Urteil vom 18. Juli 2013 III R 51/09, BFH/NV 2013, 1973, Rz 19 f.).
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4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 2 FGO.
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