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BFH 09.09.2011 - VII B 73/11
BFH 09.09.2011 - VII B 73/11 - Kein Recht auf Einsicht in dem FG unaufgefordert vorgelegte, den Streitfall nicht betreffende Verwaltungsakten
Normen
§ 71 FGO, § 78 Abs 1 FGO, § 86 FGO, § 96 Abs 2 FGO, Art 103 Abs 1 GG
Vorinstanz
vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht, 24. Februar 2011, Az: 6 K 440/10, Beschluss
nachgehend BFH, 29. November 2011, Az: VII S 36/11, Beschluss
Leitsatz
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NV: Übersendet das FA dem FG auf dessen Aufforderung, die den Streitfall betreffenden Akten zu übermitteln, Akten, welche diese Voraussetzung nicht erfüllen, besteht kein diese Akten betreffendes Einsichtsrecht der übrigen Beteiligten, es sei denn, das FG behält die unaufgefordert übersandten Verwaltungsakten bei der Gerichtsakte, weil es sie als möglicherweise bedeutsam für die Entscheidung des Rechtsstreits ansieht .
Tatbestand
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I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) ist Insolvenzverwalter in dem über das Vermögen eines eingetragenen Vereins (Schuldner) eröffneten Insolvenzverfahren. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) hat Steuerforderungen zur Insolvenztabelle angemeldet.
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Anträge des Klägers auf Erteilung das Steuerkonto des Schuldners betreffender Auszüge für das Jahr der Insolvenzeröffnung und das vorangegangene Jahr, auf Erteilung eines Abrechnungsbescheids sowie auf Mitteilung der Besteuerungsgrundlagen gemäß § 364 der Abgabenordnung (AO) lehnte das FA ab. Ein Anspruch auf Auskunftserteilung durch Überlassung eines Speicherkontoauszugs bestehe nicht. Hinsichtlich der Erteilung eines Abrechnungsbescheids sei nicht konkret dargelegt, welche Zahlungen nach Höhe und Zeitpunkt nicht zugeordnet werden könnten. Ein besonderes Akteneinsichtsrecht stehe dem Kläger nicht zu.
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Nach erfolglosem Einspruchsverfahren hat der Kläger beim Finanzgericht (FG) eine auf Überlassung von Speicherkontoauszügen, auf Erteilung von Auskunft durch Erlass eines Abrechnungsbescheids sowie auf Mitteilung der Besteuerungsgrundlagen gerichtete Klage erhoben. Er hat zugleich Einsicht in die Steuerakten des Schuldners in seiner Kanzlei, hilfsweise beim FA N, beantragt. Daraufhin forderte der seinerzeit zuständige Senat des FG die den Streitfall betreffenden Akten vom FA an. Auf diese Anforderung übersandte das FA neben der Rechtsbehelfsakte "Akteneinsichtsrecht des Insolvenzverwalters" neun weitere den Schuldner betreffende Steuerakten, widersprach aber einer Einsichtnahme durch den Kläger, da hiermit dem Klageantrag bereits entsprochen würde.
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Das FG hat dem Kläger daraufhin durch Beschluss Einsicht in die Akte "Akteneinsichtsrecht des Insolvenzverwalters" sowie in die Gerichtsakte in den Räumen des FA N gewährt, hat aber die beantragte Akteneinsicht in die übrigen neun Steuerakten abgelehnt. Jene Akte und die Gerichtsakte dürfe der Kläger gemäß § 78 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) einsehen, allerdings bestehe kein Anspruch auf Aktenübersendung in sein Büro. Mit der Übersendung der Akten an das von seinem Büro nur 20 km entfernte FA N werde seinem Interesse ausreichend Rechnung getragen. Die Gewährung der beantragten Einsichtnahme in die übrigen Steuerakten des Schuldners käme einer weitgehenden Vorwegnahme der Hauptsache gleich und sei deshalb abzulehnen. Sie komme darüber hinaus nicht in Betracht, weil insoweit nicht der Finanzrechtsweg gegeben sei. Es handele sich vielmehr um eine insolvenzrechtliche Streitigkeit, weshalb der Kläger seine Ansprüche auf dem Zivilrechtsweg verfolgen müsse.
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Mit seiner hiergegen erhobenen Beschwerde, der das FG nicht abgeholfen hat, macht der Kläger geltend, er begehre in der Hauptsache die Überlassung der Speicherkontoauszüge und die Erteilung eines Abrechnungsbescheids; das FA solle verpflichtet werden, eine Übersicht der Zahlungsflüsse in aufgearbeiteter Form zu erstellen und zu übersenden. Dieses Klagebegehren werde mit der Gewährung der beantragten Akteneinsicht nicht erfüllt und deshalb die Hauptsache nicht vorweggenommen. Der Anspruch auf Akteneinsicht nach § 78 Abs. 1 FGO könne auch nicht davon abhängig sein, ob das FG in der Hauptsache Zweifel an der Rechtswegzuständigkeit habe.
Entscheidungsgründe
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II. Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Das FG hat die Einsichtnahme in die neun den Schuldner betreffenden Steuerakten durch den Kläger im Ergebnis zu Recht abgelehnt.
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Nach § 78 Abs. 1 FGO können die Beteiligten die Gerichtsakte und die dem Gericht vorgelegten Akten einsehen. Das Recht auf Akteneinsicht ist Ausdruck des in § 96 Abs. 2 FGO normierten prozessrechtlichen Grundsatzes, wonach das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden kann, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten, und dient damit der Verwirklichung des verfassungsrechtlich geschützten Anspruchs der Beteiligten auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (vgl. Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 78 Rz 1a).
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Die dem Gericht vorgelegten Akten sind die den Streitfall betreffenden Akten, welche die beteiligte Finanzbehörde dem FG gemäß § 71 Abs. 2 FGO übermittelt, sowie ggf. weitere vom FG gemäß § 86 FGO beigezogene Akten (Gräber/Koch, a.a.O., § 78 Rz 3). Die den Streitfall betreffenden Akten i.S. des § 71 Abs. 2 FGO sind diejenigen, welche für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage erheblich und für die Entscheidung des Rechtsstreits von Bedeutung sein können (Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 28. Februar 2007 II B 94/06, BFH/NV 2007, 1169, m.w.N.).
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Danach sind die Steuerakten des Schuldners, in welche der Kläger Einsicht begehrt, nicht die den Streitfall betreffenden Akten, denn ihr Inhalt ist für die Entscheidung in der Hauptsache nicht erheblich. Für die Entscheidung des FG, ob der Kläger gegen das FA einen Anspruch auf Überlassung von Speicherkontoauszügen, auf Erteilung von Auskunft durch Erlass eines Abrechnungsbescheids (ohne dass das Bestehen bzw. Nichtbestehen konkreter Zahlungsansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis geltend gemacht worden ist) oder auf Mitteilung der Besteuerungsgrundlagen gemäß § 364 AO hat, ist der Inhalt der den Schuldner betreffenden Umsatzsteuer-, Körperschaftsteuer- oder Vollstreckungsakten erkennbar ohne Bedeutung. Die den Streitfall betreffende Akte i.S. des § 71 Abs. 2 FGO ist vielmehr nur die Akte "Akteneinsichtsrecht des Insolvenzverwalters".
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Das FG hat dies nicht anders gesehen und hat nicht etwa die neun den Schuldner betreffenden Steuerakten für erheblich gehalten und als Grundlage für die zu treffende Entscheidung in der Hauptsache vom FA angefordert. Es hat mit seiner Eingangsverfügung vom … das FA lediglich aufgefordert, die --wie es auch der Gesetzestext ausdrückt-- den Streitfall betreffenden Akten zu übersenden. Wenn das FA daraufhin neben der Akte "Akteneinsichtsrecht des Insolvenzverwalters" neun weitere, den Streitfall nicht betreffende Steuerakten übersandt hat, so hat es mehr Akten als vom FG gefordert und andere als für die Entscheidung in der Hauptsache erforderlich übermittelt. Solche ohne gerichtliche Anforderung übermittelte Akten des FA könnten allenfalls dann als i.S. des § 78 Abs. 1 FGO vorgelegte Akten angesehen werden, wenn das FG die ihm unaufgefordert zugesandten Akten nachträglich als möglicherweise entscheidungserheblich ansieht und deshalb bei sich behält, wofür vorliegend allerdings nichts ersichtlich ist.
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Von einem solchen Fall abgesehen hat ein Beteiligter ebenso wenig einen Anspruch nach § 78 Abs. 1 FGO auf Einsichtnahme in vom FA übermittelte Akten, die das FG --weil den Streitfall nicht betreffend-- nicht angefordert hat, wie er einen aus § 71 Abs. 2 FGO folgenden Anspruch auf Verpflichtung des FA zur Übersendung von Akten an das FG hat, die für die Entscheidung in der Hauptsache ohne Bedeutung sind (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 2007, 1169).
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Die dem FG im vorliegenden Fall übersandten neun Steuerakten sind somit allein Gegenstand des streitigen Akteneinsichtsbegehrens, über das zu entscheiden ist, nicht aber die dem FG i.S. des § 78 Abs. 1 FGO für sein Urteil in der Hauptsache vorgelegten Akten, welche den im Klageverfahren verfolgten Anspruch des Klägers betreffen, Grundlage für die Entscheidung des FG über diesen Anspruch sein können und deshalb dem Kläger zur Einsichtnahme zur Verfügung stehen müssen, damit ihm --wie ausgeführt-- rechtliches Gehör gewährt wird. Insoweit unterscheidet sich der Streitfall von dem mit Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 13. April 2010 1 BvR 3515/08 (Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2010, 862) entschiedenen Fall, in dem es um die Einsicht in vom FG für seine Entscheidungen herangezogene Akten ging.
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Nur falls das FG die neun ohne Anforderung übermittelten Steuerakten weiterhin bei der Gerichtsakte behielte und damit zum Ausdruck brächte, dass es sie als für die Entscheidung im Klageverfahren möglicherweise von Bedeutung ansähe --wofür sich allerdings weder der Gerichtsakte noch den Ausführungen in dem angefochtenen Beschluss etwas entnehmen lässt--, bestünde ein Einsichtsrecht des Klägers gemäß § 78 Abs. 1 FGO.
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Auf die Bedenken des FG, ob für den mit der Klage geltend gemachten Anspruch des Klägers der Finanzrechtsweg gegeben ist (vgl. dazu: Senatsbeschluss vom 10. Februar 2011 VII B 183/10, BFH/NV 2011, 992), kommt es nicht an.
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Die Übersendung der Akte "Akteneinsichtsrecht des Insolvenzverwalters" und der Gerichtsakte in das Büro des Klägers hat das FG ermessensfehlerfrei abgelehnt. Es ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass mit der Übersendung dieser Akten an das FA N die Einsichtnahme in nicht zumutbarer Weise erschwert wird.
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