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BFH 22.07.2010 - V S 8/10
BFH 22.07.2010 - V S 8/10 - Vertretungszwang bei Erhebung der Anhörungsrüge - Keine verfassungsrechtlichen Bedenken - Kein Verstoß gegen EU-Grundrechte-Charta - Folgen einer Verletzung des Zitiergebots
Normen
Art 47 Abs 2 EUGrdRCh, § 62 Abs 4 FGO vom 12.12.2007, § 133a FGO, Art 103 Abs 1 GG, Art 19 Abs 1 S 2 GG
Vorinstanz
vorgehend BFH, 1. April 2010, Az: V B 16/10, Beschluss
Leitsatz
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1. NV: Gegen den Vertretungszwang des § 62 Abs. 4 FGO bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken, insbesondere liegt darin kein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör .
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2. NV: § 62 Abs. 4 FGO stellt keinen Verstoß gegen Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dar .
Tatbestand
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I. Mit Beschluss vom 1. April 2010 (V B 16/10) hat der Bundesfinanzhof (BFH) die Beschwerde des Klägers, Beschwerdeführers und Rügeführers (Kläger) gegen die Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Hessischen Finanzgerichts (FG) vom 26. Januar 2010 6 K 1859/09 als unzulässig verworfen, weil der Kläger nicht durch eine zur Vertretung vor dem BFH berechtigte Person oder Gesellschaft vertreten war.
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Gegen diesen Beschluss wendet sich der Kläger. Er macht geltend, alle deutschen Rechtsnormen, die einen Vertretungszwang vorsähen, seien seit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags unwirksam. Der Kläger beruft sich insoweit auf Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der in Abs. 2 bestimmt, dass sich vor Gericht jede Person beraten, verteidigen und vertreten lassen kann. Aus der Formulierung "kann" leitet der Kläger her, dass keine Verpflichtung zu einer Vertretung bestehe.
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Er beantragt außerdem, das Verfahren an das zuständige Amtsgericht abzugeben.
Entscheidungsgründe
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II. Die Einwendungen des Klägers sind als Anhörungsrüge (§ 133a der Finanzgerichtsordnung --FGO--) auszulegen; diese ist unzulässig.
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1. Vor dem BFH muss sich jeder Beteiligte --sofern es sich nicht um eine juristische Person des öffentlichen Rechts oder um eine Behörde handelt-- durch einen Rechtsanwalt, Steuerberater, Steuerbevollmächtigten, Wirtschaftsprüfer oder vereidigten Buchprüfer als Bevollmächtigten bzw. durch Gesellschaften i.S. des § 3 Nrn. 2 und 3 des Steuerberatungsgesetzes, die durch solche Personen handeln, vertreten lassen (§ 62 Abs. 4 FGO). Gegen diesen Vertretungszwang bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken, insbesondere liegt darin kein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 20. August 1992 2 BvR 1000/92, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1992, 729 zur Vorgängervorschrift des Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs; BFH-Beschluss vom 12. November 2008 X B 203/08, Zeitschrift für Steuern und Recht 2009, R 44).
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a) Der Vertretungszwang gilt auch für die Erhebung der Anhörungsrüge, wenn für die beanstandete Entscheidung ihrerseits Vertretungszwang galt (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 27. Mai 2009 X S 19/09, nicht veröffentlicht, juris; vom 29. Juni 2005 VII S 26/05, BFH/NV 2005, 1848). Diese Voraussetzung ist im Streitfall gegeben.
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Der beanstandete Beschluss vom 1. April 2010 betraf die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision durch das FG. In einem solchen Verfahren gilt nach § 62 Abs. 4 FGO der Vertretungszwang.
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b) § 62 Abs. 4 FGO stellt keinen Verstoß gegen Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dar. Danach kann sich jede Person beraten, verteidigen und vertreten lassen. Mit dieser Bestimmung wird dem Einzelnen das Recht eingeräumt, sich vor Gericht vertreten zu lassen. Das ergibt sich schon daraus, dass Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Titel VI "Justizielle Rechte" geregelt ist. Das Recht, sich beraten, verteidigen und vertreten zu lassen (vgl. hierzu Eser in Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl., Baden-Baden 2006, Art. 47 Rz 37) nimmt den Mitgliedstaaten aber nicht die Möglichkeit, aus verfahrensökonomischen Gründen vor bestimmten Gerichten einen Vertretungszwang vorzusehen (vgl. Alber in Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar der Europäischen Grundrechte, Charta, 2006, Art. 47 Rz 72).
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2. Eine Verweisung an "das zuständige Amtsgericht" kommt nicht in Betracht. Im Urteil des Hessischen FG vom 26. Januar 2010 6 K 1859/09 ging es um die Umsatzsteuer 2006. Gemäß § 33 Abs. 1 Nr. 1 FGO ist in öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten über Abgabenangelegenheiten der Finanzrechtsweg gegeben. Abgabenangelegenheiten sind gemäß § 33 Abs. 2 FGO alle mit der Verwaltung der Abgaben einschließlich der Abgabenvergütungen oder sonst mit der Anwendung der abgabenrechtlichen Vorschriften durch die Finanzbehörden zusammenhängenden Angelegenheiten einschließlich der Maßnahmen der Bundesfinanzbehörden zur Beachtung der Verbote und Beschränkungen für den Warenverkehr über die Grenze; den Abgabenangelegenheiten stehen die Angelegenheiten der Verwaltung der Finanzmonopole gleich. Beim Streit über Umsatzsteuerbescheide handelt es sich um Abgabenangelegenheiten in diesem Sinn.
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Hieran ändert die Auffassung des Klägers, die FGO sei wegen Verstoßes gegen das Zitiergebot nichtig, nichts. Selbst wenn einzelne Vorschriften der FGO gegen das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes verstoßen würden, ergäbe sich hieraus nur eine Teilnichtigkeit der FGO im Hinblick auf die in Grundrechte eingreifenden Vorschriften, nicht aber eine weiter gehende Nichtigkeit anderer Vorschriften der FGO, die nicht dem Zitiergebot unterliegen. Denn die Verletzung des Zitiergebots durch eine einzelne Vorschrift eines Gesetzes begründet nur die Nichtigkeit dieser Vorschrift des Gesetzes (vgl. Huber in Mangoldt/Klein/Starck, GG, 5. Aufl. 2005, Art. 19 Rz 103; Dreier, GG, 2. Aufl. 2004, Art. 1 Rz 28; P. Lerche in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band V, 2. Aufl. 2000, § 122 Rz 42: BFH-Beschluss vom 9. Januar 2009 V B 23/08, BFH/NV 2009, 801). Eine Nichtigkeit des gesamten Gesetzes kommt nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen nur in Betracht, wenn der ungültige Gesetzesteil mit dem Gesetz im Übrigen derart verflochten ist, dass beide eine untrennbare Einheit bilden (vgl. allgemein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 19. März 2003 2 BvL 9/98, 2 BvL 10/98, 2 BvL 11/98, 2 BvL 12/98, BVerfGE 108, 1). Es gibt keinen Anhaltspunkt, dass die Zuständigkeitsregeln des § 33 FGO in Grundrechte eingreifen oder mit in Grundrechte eingreifenden Vorschriften im o.g. Sinne verflochten sind.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf Nr. 6400 des Kostenverzeichnisses zum Gerichtskostengesetz --GKG-- (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG - Kostenverzeichnis).
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