betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzhof (Deutschland) mit Entscheidung vom 15. Mai 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 1. August 2012, in dem Verfahren
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, der Richter C. G. Fernlund und A. Ó Caoimh (Berichterstatter), der Richterin C. Toader und des Richters E. Jarašiūnas,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Juni 2013,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 26. September 2013
Art. 5 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie lautet:
„Als Lieferung eines Gegenstands gilt die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.“
Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:
„Als Dienstleistung gilt jede Leistung, die keine Lieferung eines Gegenstands im Sinne des Artikels 5 ist.
…“
Art. 12 Abs. 3 dieser Richtlinie bestimmt:
„Der Normalsatz der Mehrwertsteuer wird von jedem Mitgliedstaat auf einen bestimmten Vomhundertsatz der Besteuerungsgrundlage festgesetzt, der für Lieferungen von Gegenständen und für Dienstleistungen gleich ist. …
…
Die Mitgliedstaaten können außerdem einen oder zwei ermäßigte Sätze anwenden. Diese ermäßigten Sätze werden als ein Prozentsatz der Besteuerungsgrundlage festgelegt, der nicht niedriger als 5 % sein darf, und sind nur auf Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen der in Anhang H genannten Kategorien anwendbar.
…“
Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. b und c der Sechsten Richtlinie bestimmt:
„Unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften befreien die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen festsetzen, von der Steuer
…
die Krankenhausbehandlung und die ärztliche Heilbehandlung sowie die mit ihnen eng verbundenen Umsätze, die von Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder unter Bedingungen, welche mit den Bedingungen für diese Einrichtungen in sozialer Hinsicht vergleichbar sind, von Krankenanstalten, Zentren für ärztliche Heilbehandlung und Diagnostik und anderen ordnungsgemäß anerkannten Einrichtungen gleicher Art durchgeführt beziehungsweise bewirkt werden;
die Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, die im Rahmen der Ausübung der von dem betreffenden Mitgliedstaat definierten ärztlichen und arztähnlichen Berufe erbracht werden“.
Art. 13 Teil A Abs. 2 Buchst. b der Sechsten Richtlinie lautet:
„Von der in Absatz 1 Buchstaben b), g), h), i), 1), m) und n) vorgesehenen Steuerbefreiung sind Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen ausgeschlossen, wenn
sie zur Ausübung der Tätigkeiten, für die Steuerbefreiung gewährt wird, nicht unerlässlich sind;
sie im Wesentlichen dazu bestimmt sind, der Einrichtung zusätzliche Einnahmen durch Tätigkeiten zu verschaffen, die in unmittelbarem Wettbewerb mit Tätigkeiten von der Mehrwertsteuer unterliegenden gewerblichen Unternehmen durchgeführt werden.“
In Kategorie 3 des Anhangs H der Sechsten Richtlinie, der das Verzeichnis der Gegenstände und Dienstleistungen enthält, auf die ermäßigte Mehrwertsteuersätze angewandt werden können, sind u. a. Arzneimittel aufgeführt, die üblicherweise für die Gesundheitsvorsorge, die Verhütung von Krankheiten und für ärztliche Behandlungen verwendet werden.
Mit seiner dritten Frage, die zuerst zu behandeln ist, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass die Lieferung von Gegenständen wie den im Ausgangsverfahren streitigen zytostatischen Medikamenten, die von Ärzten, die innerhalb eines Krankenhauses selbständig tätig sind, im Rahmen einer ambulanten Behandlung verschrieben worden sind, als ein mit einer ärztlichen Heilbehandlung eng verbundener Umsatz von der Mehrwertsteuer befreit werden kann.
Diese Frage zielt, bezogen auf das Ausgangsverfahren, darauf ab, ob die Abgabe zytostatischer Medikamente durch das Klinikum Dortmund im Rahmen einer ambulanten Krebsbehandlung als ein mit einer ärztlichen Heilbehandlung eng verbundener Umsatz von der Mehrwertsteuer befreit werden kann, auch wenn diese Medikamente von Ärzten verabreicht werden, die in dem Krankenhausbetrieb des Klinikums selbständig tätig sind.
Insoweit lässt sich den dem Gerichtshof vorgelegten Akten sowie den Erläuterungen der Parteien in der mündlichen Verhandlung entnehmen, dass die Heilbehandlungen selbst, welche die von dem Ausgangsverfahren betroffenen Ärzte erbringen, die gegenüber dem Klinikum selbständig, aber innerhalb seines Krankenhausbetriebs tätig sind, gemäß Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Sechsten Richtlinie von der Mehrwertsteuer befreit sind.
Vorab ist im Einklang mit den Ausführungen der deutschen Regierung darauf hinzuweisen, dass die in Art. 13 der Sechsten Richtlinie aufgeführten Steuerbefreiungen eng auszulegen sind, da sie Ausnahmen von dem allgemeinen Grundsatz darstellen, dass jede Dienstleistung, die ein Steuerpflichtiger gegen Entgelt erbringt, der Mehrwertsteuer unterliegt (vgl. u. a. Urteile vom 5. Juni 1997, SDC, C-2/95, Slg. 1997, I-3017, Rn. 20, vom 10. September 2002, Kügler, C-141/00, Slg. 2002, I-6833, Rn. 28, und vom 6. November 2003, Dornier, C-45/01, Slg. 2003, I-12911, Rn. 42). Die Auslegung der in dieser Bestimmung verwendeten Begriffe muss jedoch mit den Zielen in Einklang stehen, die mit den Befreiungen verfolgt werden, und den Erfordernissen des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität entsprechen, auf dem das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht (vgl. Urteile Kügler, Rn. 29, und Dornier, Rn. 42).
Diese Regel einer engen Auslegung bedeutet außerdem nicht, dass die zur Definition der Steuerbefreiungen im Sinne von Art. 13 verwendeten Begriffe in einer Weise auszulegen sind, die den Befreiungen ihre Wirkung nähme (vgl. entsprechend u. a. Urteil vom 10. Juni 2010, Future Health Technologies, C-86/09, Slg. 2010, I-5215, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Dabei geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass der Zweck, die Kosten von Heilbehandlungen zu senken und diese für den Einzelnen leichter zugänglich zu machen, der in Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. b der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Steuerbefreiung und der in Buchst. c dieses Absatzes vorgesehenen Befreiung gemeinsam ist (vgl. Urteil vom 11. Januar 2001, Kommission/Frankreich, C-76/99, Slg. 2001, I-249, Rn. 23, sowie Urteile Kügler, Rn. 29, und Dornier, Rn. 43). Ferner ist darauf hinzuweisen, dass es der Grundsatz der steuerlichen Neutralität insbesondere verbietet, dass Wirtschaftsteilnehmer, die gleichartige Umsätze bewirken, bei der Mehrwertsteuererhebung unterschiedlich behandelt werden (Urteile Kügler, Rn. 30, und Dornier, Rn. 44).
Im Übrigen zielen sowohl der in Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. b der Sechsten Richtlinie verwendete Begriff der „ärztlichen Heilbehandlung“ als auch der in Buchst. c dieses Absatzes verwendete Begriff der „Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin“ auf Leistungen, die der Diagnose, Behandlung und, so weit wie möglich, Heilung von Krankheiten oder Gesundheitsstörungen dienen (vgl. in diesem Sinne Urteil Dornier, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Urteile vom 8. Juni 2006, L.u.P., C-106/05, Slg. 2006, I-5123, Rn. 27, und vom 10. Juni 2010, CopyGene, C-262/08, Slg. 2010, I-5053, Rn. 28).
Daraus folgt, dass ärztlichen Leistungen, die zu dem Zweck erbracht werden, die menschliche Gesundheit zu schützen, aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen, die in Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. b und c der Sechsten Richtlinie vorgesehene Steuerbefreiung zugutekommt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. November 2003, Unterpertinger, C-212/01, Slg. 2003, I-13859, Rn. 40 und 41, D’Ambrumenil und Dispute Resolution Services, C-307/01, Slg. 2003, I-13989, Rn. 58 und 59, und L.u.P., Rn. 29).
Auch wenn die Bestimmungen der Buchst. b und c des Art. 13 Teil A Abs. 1 der Sechsten Richtlinie unterschiedliche Anwendungsbereiche haben, bezwecken sie doch eine abschließende Regelung der Steuerbefreiungen für Leistungen der Heilbehandlung im engeren Sinne (vgl. Urteile Kügler, Rn. 36, L.u.P., Rn. 26, sowie CopyGene, Rn. 27).
Jedoch enthält Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Sechsten Richtlinie im Gegensatz zu Buchst. b dieses Absatzes keine Bezugnahme auf Umsätze, die mit ärztlichen Heilbehandlungen eng verbunden sind, obgleich diese Bestimmung der des genannten Buchst. b unmittelbar folgt. Daher ist festzustellen, dass dieser Artikel mit ärztlichen Heilbehandlungen eng verbundene Umsätze grundsätzlich nicht erfasst und dass dieser Begriff für die Auslegung von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Sechsten Richtlinie keine Bedeutung hat.
Was die Möglichkeit anbelangt, eine Lieferung von Gegenständen nach dieser Bestimmung von der Mehrwertsteuer zu befreien, so hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass sich, wenn man von den Lieferungen kleineren Umfangs absieht, die bei der Heilbehandlung unbedingt notwendig sind, die Abgabe von Arzneimitteln und sonstigen Gegenständen in tatsächlicher und in wirtschaftlicher Hinsicht von der Dienstleistung trennen lässt und daher nicht gemäß Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Sechsten Richtlinie von der Mehrwertsteuer befreit werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Februar 1988, Kommission/Vereinigtes Königreich, 353/85, Slg. 1988, 817, Rn. 33).
Folglich kann einer Lieferung von Arzneimitteln und anderen Gegenständen, sofern sie nicht im Zeitpunkt einer humanmedizinischen Heilbehandlung strikt notwendig ist, die in Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Sechsten Richtlinie vorgesehene Steuerbefreiung nicht zugutekommen.
Insoweit lässt sich, wie die Generalanwältin in den Nrn. 46 und 47 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, nicht in Abrede stellen, dass sich unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren fraglichen die in Ausübung eines ärztlichen Berufs erbrachten Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin im Sinne von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Sechsten Richtlinie einerseits und die Lieferung zytostatischer Medikamente andererseits in ein therapeutisches Kontinuum einfügen. Die Abgabe von Arzneimitteln wie den im Ausgangsverfahren fraglichen Zytostatika ist nämlich im Zeitpunkt der Erbringung der ärztlichen Leistung im Rahmen der ambulanten Krebsbehandlung eines Patienten unerlässlich, da diese ärztliche Leistung ohne diese Medikamentenabgabe sinnlos wäre.
Trotz dieses therapeutischen Kontinuums haben die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung bestätigt, dass die im Ausgangsverfahren fragliche Behandlung eine Reihe von Tätigkeiten und Behandlungsschritten umfasst, die, obgleich sie miteinander verbunden sind, im Verhältnis zueinander gesondert erfolgen. Wie die Generalanwältin in den Nrn. 48 und 49 ihrer Schlussanträge dargelegt hat, werden dem Patienten offenbar verschiedene Leistungen zuteil, nämlich zum einen die humanmedizinische Behandlung durch den Arzt und zum anderen die Abgabe von Arzneimitteln durch die Krankenhausapotheke des Klinikums, was der Annahme entgegenstünde, dass diese Leistungen in tatsächlicher und in wirtschaftlicher Hinsicht untrennbar wären.
Allerdings lässt sich den dem Gerichtshof unterbreiteten Informationen nicht eindeutig entnehmen, dass in dem dem Ausgangsverfahren zugrunde liegenden Sachverhalt die Abgabe der Arzneimittel als in tatsächlicher und in wirtschaftlicher Hinsicht von der Erbringung der ärztlichen Heilbehandlung nicht trennbar angesehen werden kann. Eine solche Feststellung erforderte eine eingehendere Beurteilung des in Frage stehenden therapeutischen Kontinuums. Unter diesem Blickwinkel obliegt es dem vorlegenden Gericht, das allein für die Würdigung der Tatsachen zuständig ist, die insoweit erforderlichen Überprüfungen vorzunehmen.
Vorbehaltlich dieser Überprüfungen kann die Verabreichung zytostatischer Medikamente unter Umständen, wie sie in dem Ausgangsverfahren in Frage stehen, nicht als von der Mehrwertsteuer befreit angesehen werden.
Diese Feststellung wird durch den Umstand gestützt, dass Arzneimittel als solche in dem in Anhang H der Sechsten Richtlinie enthaltenen Verzeichnis der Gegenstände und Dienstleistungen, auf die ermäßigte Mehrwertsteuersätze angewandt werden können, genannt sind und damit grundsätzlich einer gesonderten Mehrwertsteuerregelung unterliegen.
Entgegen dem Vorbringen des Klinikums Dortmund steht der Grundsatz der steuerlichen Neutralität dieser Feststellung nicht entgegen. Wie die Generalanwältin in Nr. 53 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, erlaubt dieser Grundsatz es nicht, den Geltungsbereich einer Befreiung ohne eindeutige Bestimmung auszuweiten. Dieser Grundsatz ist nämlich keine Regel des Primärrechts, die für den Umfang eines Befreiungstatbestands bestimmend sein könnte, sondern ein Auslegungsgrundsatz, der neben dem Grundsatz der engen Auslegung von Befreiungen anzuwenden ist (vgl. Urteil vom 19. Juli 2012, Deutsche Bank, C-44/11, Rn. 45).
Demnach ist auf die dritte Vorlagefrage zu antworten, dass eine Lieferung von Gegenständen wie den im Ausgangsverfahren fraglichen zytostatischen Medikamenten, die von innerhalb eines Krankenhauses selbständig tätigen Ärzten im Rahmen einer ambulanten Krebsbehandlung verschrieben worden sind, nicht gemäß Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Sechsten Richtlinie von der Mehrwertsteuer befreit werden kann, es sei denn, diese Lieferung ist in tatsächlicher und in wirtschaftlicher Hinsicht von der Hauptleistung der ärztlichen Heilbehandlung untrennbar, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.