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EuGH 01.12.2022 - C-141/20
EuGH 01.12.2022 - C-141/20 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer) - 1. Dezember 2022 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Mehrwertsteuer – Sechste Richtlinie 77/388/EWG – Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 – Steuerpflichtige – Möglichkeit der Mitgliedstaaten, Einheiten, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln (‚Mehrwertsteuergruppe‘) – Nationale Regelung, die den Organträger der Mehrwertsteuergruppe zum einzigen Steuerpflichtigen bestimmt – Begriff ‚enge finanzielle Verbindung‘ – Erfordernis, dass der Organträger zusätzlich zu einer Mehrheitsbeteiligung über eine Stimmrechtsmehrheit verfügt – Fehlen – Beurteilung der Selbständigkeit einer wirtschaftlichen Einheit nach Maßgabe standardisierter Kriterien – Bedeutung“
Leitsatz
In der Rechtssache C-141/20
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzhof (Deutschland) mit Entscheidung vom 11. Dezember 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 23. März 2020, in dem Verfahren
Finanzamt Kiel
gegen
Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie mbH
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Richter P. G. Xuereb (Berichterstatter), T. von Danwitz und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,
Generalanwältin : L. Medina,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
der Norddeutschen Gesellschaft für Diakonie mbH, vertreten durch Rechtsanwalt B. Richter,
der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, S. Eisenberg und S. Heimerl als Bevollmächtigte,
der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Gentili, Avvocato dello Stato,
der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia und R. Pethke als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 13. Januar 2022
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 und 4 sowie von Art. 21 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. 1977, L 145, S. 1) in der durch die Richtlinie 2000/65/EG des Rates vom 17. Oktober 2000 (ABl. 2000, L 269, S. 44) geänderten Fassung (im Folgenden: Sechste Richtlinie).
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Finanzamt Kiel (Deutschland) (im Folgenden: Finanzamt) und der Norddeutschen Gesellschaft für Diakonie mbH (im Folgenden: NGD mbH) wegen der Umsatzbesteuerung dieser Gesellschaft für das Steuerjahr 2005.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Die Sechste Richtlinie wurde durch die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) mit Wirkung vom 1. Januar 2007 aufgehoben und ersetzt. In Anbetracht des entscheidungserheblichen Zeitraums unterliegt der Ausgangsrechtsstreit jedoch weiterhin der Sechsten Richtlinie.
Art. 4 der Sechsten Richtlinie bestimmte:
„(1) Als Steuerpflichtiger gilt, wer eine der in Absatz 2 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten selbständig und unabhängig von ihrem Ort ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis.
…
(4) Der in Absatz 1 verwendete Begriff ‚selbständig‘ schließt die Lohn- und Gehaltsempfänger und sonstige Personen von der Besteuerung aus, soweit sie an ihren Arbeitgeber durch einen Arbeitsvertrag oder ein sonstiges Rechtsverhältnis gebunden sind, das hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsentgelts sowie der Verantwortlichkeit des Arbeitgebers ein Verhältnis der Unterordnung schafft.
Vorbehaltlich der Konsultation nach Artikel 29 steht es jedem Mitgliedstaat frei, im Inland ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln.
…“
Art. 21 („Steuerschuldner gegenüber dem Fiskus“) der Sechsten Richtlinie in der Fassung nach deren Art. 28g bestimmte:
„(1) Im inneren Anwendungsbereich schuldet die Mehrwertsteuer:
der Steuerpflichtige, der eine steuerpflichtige Lieferung von Gegenständen durchführt bzw. eine steuerpflichtige Dienstleistung erbringt, mit Ausnahme der unter den Buchstaben b) und c) genannten Fälle.
…
(3) In den Fällen nach den Absätzen 1 und 2 können die Mitgliedstaaten bestimmen, dass eine andere Person als der Steuerschuldner die Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat.
…“
Deutsches Recht
§ 2 des Umsatzsteuergesetzes in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: UStG) sieht vor:
„(1) Unternehmer ist, wer eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit selbständig ausübt. Das Unternehmen umfasst die gesamte gewerbliche oder berufliche Tätigkeit des Unternehmers. Gewerblich oder beruflich ist jede nachhaltige Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen, auch wenn die Absicht, Gewinn zu erzielen, fehlt oder eine Personenvereinigung nur gegenüber ihren Mitgliedern tätig wird.
(2) Die gewerbliche oder berufliche Tätigkeit wird nicht selbständig ausgeübt,
…
2. wenn eine juristische Person nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert ist (Organschaft). Die Wirkungen der Organschaft sind auf Innenleistungen zwischen den im Inland gelegenen Unternehmensteilen beschränkt. Diese Unternehmensteile sind als ein Unternehmen zu behandeln. Hat der Organträger seine Geschäftsleitung im Ausland, gilt der wirtschaftlich bedeutendste Unternehmensteil im Inland als der Unternehmer.
…“
In § 13a Abs. 1 UStG heißt es:
„Steuerschuldner ist in den Fällen
des § 1 Abs. 1 Nr. 1 und des § 14c Abs. 1 der Unternehmer;
…“
§ 73 der Abgabenordnung in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: AO) bestimmt:
„Eine Organgesellschaft haftet für solche Steuern des Organträgers, für welche die Organschaft zwischen ihnen steuerlich von Bedeutung ist. …“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Die NGD mbH ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung nach deutschem Recht, die durch notarielle Urkunde vom 29. August 2005 errichtet wurde. Ihre Gesellschafter A, eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, und C e. V., ein eingetragener Verein, halten eine Beteiligung von 51 % bzw. 49 %. Im Jahr 2005 war E, der Geschäftsführer der NGD mbH, zugleich Geschäftsführer von A und geschäftsführender Vorstand des C e. V.
§ 7 Abs. 2 des Gesellschaftsvertrags der NGD mbH enthielt folgende Regelung zur Zusammensetzung der Gesellschafterversammlung und zu den Stimmrechten in dieser Versammlung:
„Die Gesellschafterversammlung wird gebildet aus den Mitgliedern des Hilfswerksausschusses der A und des Hauptausschusses des C e. V. Jeder Gesellschafter hat 7 Stimmen und entsendet in die Gesellschafterversammlung bis zu 7 Vertreter/innen, die für diese Gesellschaft ausschließlich ehrenamtlich tätig sind. Vorbehaltlich der nachfolgenden Regelungen hat jeder/e Vertreter/in eine Stimme und entscheidet nach eigenem pflichtgemäßem Ermessen und ist dabei nicht an Vorgaben des ihn entsendenden Gesellschafters gebunden.
Eine Ausnahme gilt nur für Entscheidungen, die unmittelbar das jeweils von einem Gesellschafter der Gesellschaft zur Verfügung gestellte Anlagevermögen betreffen; in diesem Fall können die Stimmen nur pro Gesellschafter einheitlich abgegeben werden und die Vertreter/innen sind an die Anweisungen des entsendenden Gesellschafters gebunden. Können sie sich untereinander nicht einigen, gelten alle 7 Stimmen des betroffenen Gesellschafters als in der Weise abgegeben, wie die Mehrheit der von ihm entsandten Vertreter/innen abgestimmt hat.“
In einer Gesellschafterversammlung, die am 1. Dezember 2005 stattfand, wurde beschlossen, den Gesellschaftsvertrag der NGD mbH zu ändern und seinen § 7 Abs. 2 Unterabs. 2 wie folgt zu formulieren:
„Eine Ausnahme gilt nur für Entscheidungen, die unmittelbar das jeweils von einem Gesellschafter der Gesellschaft zur Verfügung gestellte Anlagevermögen betreffen oder für die ein Gesellschafter einheitliche Stimmabgabe beantragt. In diesem Fall können die Stimmen nur pro Gesellschafter einheitlich abgegeben werden und die Vertreter/innen sind an die Anweisungen des entsendenden Gesellschafters gebunden. Können sie sich untereinander nicht einigen, gelten alle 7 Stimmen des betroffenen Gesellschafters als in der Weise abgegeben, wie die Mehrheit der von ihm entsandten Vertreter/innen abgestimmt hat. Bei einheitlicher Stimmabgabe werden die Stimmen gemäß dem Gesellschaftsanteil gewertet.“
Nach den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts trat diese Änderung jedoch erst nach der Gesellschafterversammlung vom 9. Dezember 2010 in Kraft, als der so geänderte Gesellschaftsvertrag erneut notariell beurkundet und in das Handelsregister eingetragen wurde.
Aus dem Vorlagebeschluss geht hervor, dass der Prüfer im Rahmen einer Außenprüfung bei der NGD mbH annahm, dass es im betreffenden Steuerjahr an einer finanziellen Eingliederung der NGD mbH in die Organträgerin A gefehlt habe. Somit könne bei ihnen nicht von einer „Organschaft“ im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG ausgegangen werden, der die in Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie vorgesehene Möglichkeit im deutschen Recht umsetzen solle.
Diese Schlussfolgerung sei damit begründet gewesen, dass A aufgrund der Regelungen in § 7 des Gesellschaftsvertrags der NGD mbH sowohl in der ursprünglichen als auch in der geänderten Fassung nicht über eine Stimmrechtsmehrheit verfügt habe und damit nicht in der Lage gewesen sei, Beschlüsse bei dieser Gesellschaft durchzusetzen, obwohl sie mit 51 % mehrheitlich am Gesellschaftskapital beteiligt gewesen sei. Die von der NGD mbH erzielten Umsätze zum Regelsteuersatz gegenüber Dritten und aus den Leistungen gegenüber A seien damit bei der NGD mbH als „Unternehmerin“ im Sinne von § 2 Abs. 1 UStG zu erfassen.
Mit Bescheid vom 30. Mai 2014 folgte das Finanzamt der Auffassung des Prüfers.
Nachdem das Finanzamt den Einspruch der NGD mbH gegen diesen Bescheid mit Entscheidung vom 3. Februar 2017 zurückgewiesen hatte, erhob die NGD mbH Klage gegen diese Entscheidung.
Das Schleswig-Holsteinische Finanzgericht (Deutschland) gab dieser Klage mit Urteil vom 6. Februar 2018 statt und entschied, dass die Voraussetzung der finanziellen Eingliederung in die Organträgerin A erfüllt sei, und zwar auf der Grundlage sowohl der geänderten Fassung des Gesellschaftsvertrags der NGD mbH als auch dessen ursprünglicher Fassung, die im betreffenden Steuerjahr in Kraft gewesen sei.
Insoweit war das Finanzgericht der Auffassung, aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebe sich, dass ein Unterordnungsverhältnis zwischen einer Organgesellschaft und dem Organträger nicht notwendige Voraussetzung für die Bildung einer Gruppe sei, die aus rechtlich unabhängigen, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbundenen Personen bestehe (im Folgenden: Mehrwertsteuergruppe) (Urteil vom 16. Juli 2015, Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt, C-108/14 und C-109/14, EU:C:2015:496, Rn. 44 und 45), und dass das vom Finanzamt aufgestellte Erfordernis, zusätzlich zu der Mehrheitsbeteiligung über eine Stimmrechtsmehrheit bei den anderen Mitgliedern der Gruppe zu verfügen, demnach über das hinausgehe, was zur Erreichung der Ziele der Verhinderung missbräuchlicher Praktiken oder Verhaltensweisen und der Bekämpfung von Steuerhinterziehung oder -umgehung geeignet und erforderlich sei.
Das Finanzamt legte gegen dieses Urteil Revision beim Bundesfinanzhof (Deutschland) ein und rügte eine Verletzung von § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 UStG, da die für eine Organschaft erforderliche finanzielle Eingliederung der NGD mbH in die Organträgerin A fehle.
Das vorlegende Gericht weist zunächst darauf hin, dass die Revision bei isolierter Beurteilung des Ausgangsrechtsstreits nach dem geltenden nationalen Recht begründet wäre, da nach diesem Recht für die Einstufung als Organschaft die finanzielle Eingliederung erforderlich sei, die verlange, dass der Organträger die Mehrheit der Stimmrechte habe. Auch nachdem das Urteil vom 16. Juli 2015, Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt (C-108/14 und C-109/14,EU:C:2015:496), ergangen sei, sei nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs ein Über- und Unterordnungsverhältnis, das mittlerweile als „Eingliederung mit Durchgriffsrechten“ bezeichnet werde, im Rahmen von § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 UStG weiterhin erforderlich.
Zudem ergebe sich aus der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, dass die Steuerschuld nach nationalem Recht auf den Organträger verlagert werde, der sicherstellen können müsse, dass die Umsätze jedes der im Organkreis zusammengefassten Unternehmen ordnungsgemäß versteuert würden. Somit habe der Organträger die Aufgabe wahrzunehmen, die Umsatzsteuer für alle Leistungen einzunehmen, die diese Unternehmen gegenüber Dritten erbrächten; er allein könne die Steuererklärung für alle diese Unternehmen abgeben.
Schließlich hebt das vorlegende Gericht hervor, dass es im Rahmen der Prüfung, die es im Hinblick auf § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 UStG vorzunehmen habe, per se dem Umstand Rechnung tragen müsse, dass nach dieser Vorschrift die gewerbliche oder berufliche Tätigkeit der Organgesellschaften, die in den Organträger der Gruppe eingegliedert seien, zu der diese Gesellschaften gehörten, nicht als selbständig ausgeübt angesehen werde. Somit würden jegliche Umsätze der Organgesellschaften dem Organträger zugerechnet. Dieser sei Schuldner der auf alle diese Umsätze entfallenden Umsatzsteuer.
Das vorlegende Gericht hegt jedoch Zweifel an der Vereinbarkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung mit Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie in der Auslegung durch den Gerichtshof, insbesondere unter Berücksichtigung der in dieser Regelung aufgestellten Voraussetzung in Bezug auf das Über- und Unterordnungsverhältnis.
Da nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wenn eine Mehrwertsteuergruppe angenommen werde, diese selbst die Mehrwertsteuer schulde, die auf den von sämtlichen ihrer Mitglieder erzielten Umsatz entfalle (Urteile vom 22. Mai 2008, Ampliscientifica und Amplifin, C-162/07, EU:C:2008:301, Rn. 20, und vom 17. September 2014, Skandia America [USA], filial Sverige, C-7/13, EU:C:2014:2225, Rn. 29, 35 und 37 sowie Tenor), schließe es die Verschmelzung einer solchen Mehrwertsteuergruppe zu einem einzigen Steuerpflichtigen im Sinne von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie insbesondere aus, dass die Mitglieder der Gruppe (also auch der Organträger) weiterhin Mehrwertsteuererklärungen abgäben und als individuelle Steuerpflichtige angesehen würden.
Falls der Gerichtshof entscheiden sollte, dass Art. 4 Abs. 4 der Sechsten Richtlinie der Praxis entgegenstehe, nicht die Mehrwertsteuergruppe selbst, sondern eines ihrer Mitglieder, nämlich ihren Organträger, als einzigen Steuerpflichtigen zu bestimmen, stelle sich anschließend die Frage, ob sich ein Mitglied dieser Gruppe auf die etwaige Unionsrechtswidrigkeit des nationalen Rechts berufen könne. Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass Art. 4 Abs. 4 der Sechsten Richtlinie gemäß dem Urteil vom 16. Juli 2015, Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt (C-108/14 und C-109/14, EU:C:2015:496), keine unmittelbare Wirkung habe, fragt sich aber, ob sich ein Mitglied einer Mehrwertsteuergruppe hierfür nicht möglicherweise auf Art. 21 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie stützen könne.
Außerdem fragt sich das vorlegende Gericht, welcher Maßstab im Rahmen der Prüfung anzulegen ist, die es vorzunehmen habe, um zu bestimmen, ob das Kriterium der finanziellen Eingliederung im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 UStG im vorliegenden Fall erfüllt sei. Insbesondere fragt es sich, ob dieses Kriterium dahin auszulegen ist, dass der Organträger nicht nur über eine Mehrheit der Anteile an den Organgesellschaften, sondern auch über eine Mehrheit der Stimmrechte bei diesen Gesellschaften verfügen muss.
In diesem Kontext weist es darauf hin, dass nach den anwendbaren nationalen Vorschriften der Organträger gegen die Organgesellschaften einen finanziellen Ausgleichsanspruch gegebenenfalls gerichtlich durchsetzen könne, so dass im Innenverhältnis der Gruppe die Steuerlast von jedem ihrer Mitglieder jeweils entsprechend seinem Umsatz, aus dem die zu zahlende Umsatzsteuer herrühre, zu tragen sei.
Das vorlegende Gericht fragt sich auch, ob die deutsche Regelung der Organschaft alternativ durch Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie in Verbindung mit deren Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 1 gerechtfertigt sein könnte. Wäre dies der Fall, wäre die Revision des Finanzamts unabhängig von den Antworten auf die ersten drei Vorlagefragen begründet.
Hierzu vertritt das vorlegende Gericht im Wesentlichen die Auffassung, dass nicht ausgeschlossen werden könne, dass die nach deutschem Recht für die Beurteilung des Bestehens einer Organschaft geltenden sehr strengen Kriterien der Unterordnung der Organgesellschaften gegenüber dem Organträger durch die in der vorstehenden Randnummer genannten Vorschriften zusammen betrachtet gerechtfertigt sein könnten.
In Anbetracht des Umstands, dass bei diesen Gesellschaften nach den anwendbaren nationalen Vorschriften davon ausgegangen werde, dass sie keinen eigenen Willen hätten, weil sie in einem Verhältnis der Unterordnung zum Organträger der Gruppe, der sie angehörten, stünden, erfüllten sie nicht die Voraussetzung der Selbständigkeit im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie. Die Mitgliedstaaten seien berechtigt, Gesellschaften, die die Kriterien der Selbständigkeit nicht erfüllten, nicht als Steuerpflichtige anzusehen, so dass ihr Umsatz und damit die auf diesen entfallende Umsatzsteuer dem Organträger aufgrund des zwischen ihm und diesen Gesellschaften bestehenden Unterordnungsverhältnisses zuzurechnen sei.
Allerdings ist aus Sicht des vorlegenden Gerichts zweifelhaft, ob die Mitgliedstaaten wirklich berechtigt sind, im Wege der Typisierung zu konkretisieren, in welchen Fällen davon auszugehen ist, dass bestimmte Gesellschaften keinen eigenen Willen haben und daher nicht selbständig im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie sind.
Das deutsche Verfassungsrecht billige dem deutschen Gesetzgeber eine derartige Befugnis zur Typisierung zu. Dies sei dadurch gerechtfertigt, dass, da es sich bei der Festlegung, wer Steuerpflichtiger sei, um eine Regelung handele, die sich finanziell belastend auswirken könne, die Gesellschaften, die als Steuerpflichtige eingestuft würden, über ihre steuerlichen Verpflichtungen nicht im Unklaren gelassen werden dürften. Darüber hinaus könnte die vom deutschen Gesetzgeber vorgenommene Typisierung durch eine Auslegung von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie anhand seines Kontextes und seiner Entstehungsgeschichte bestätigt werden.
Zum letztgenannten Aspekt sei im Übrigen zu berücksichtigen, dass Anhang A der Zweiten Richtlinie 67/228/EWG des Rates vom 11. April 1967 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Struktur und Anwendungsmodalitäten des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems (ABl. 1967, L 71, S. 1303) dazu gedient zu haben scheine, die in Deutschland bereits bestehende Organschaftsregelung unionsrechtlich derart zu legitimieren, dass Deutschland diese Regelung beibehalten dürfe.
Vor diesem Hintergrund hat der Bundesfinanzhof (Deutschland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Sind Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 in Verbindung mit Art. 21 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 der Sechsten Richtlinie dahin gehend auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat gestatten, anstelle der Mehrwertsteuergruppe (des Organkreises) ein Mitglied der Mehrwertsteuergruppe (den Organträger) zum Steuerpflichtigen zu bestimmen?
Falls die Frage 1 verneint wird: Sind Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 in Verbindung mit Art. 21 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 der Sechsten Richtlinie insoweit berufbar?
Ist bei der nach Rn. 46 des Urteils vom 16. Juli 2015, Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt (C-108/14 und C-109/14, EU:C:2015:496, Rn. 44 und 45), vorzunehmenden Prüfung, ob das in § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 UStG enthaltene Erfordernis der finanziellen Eingliederung eine zulässige Maßnahme darstellt, die für die Erreichung der Ziele der Verhinderung missbräuchlicher Praktiken oder Verhaltensweisen und der Vermeidung von Steuerhinterziehung oder -umgehung erforderlich und geeignet ist, ein strenger oder ein großzügiger Maßstab anzulegen?
Sind Art. 4 Abs. 1 und Abs. 4 Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie dahin gehend auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat gestatten, im Wege der Typisierung eine Person als nicht selbständig im Sinne des Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie anzusehen, wenn sie in der Weise finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen eines anderen Unternehmers (Organträgers) eingegliedert ist, dass der Organträger seinen Willen bei der Person durchsetzen und dadurch eine abweichende Willensbildung bei der Person verhindern kann?
Zu den Vorlagefragen
Zur Zulässigkeit
Die deutsche Regierung macht in erster Linie geltend, dass die erste, die zweite und die vierte Frage unzulässig seien, da sie für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht erheblich seien, weil dieser nur die Frage betreffe, ob zwischen der NGD mbH und der Organträgerin A eine hinreichende finanzielle Eingliederung im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 UStG im Licht von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie bestehe.
Nur wenn diese Frage zu bejahen sei, was im Wesentlichen bedeute, dass die beiden oben genannten Einheiten als eine Mehrwertsteuergruppe anzusehen seien – was die deutsche Regierung verneint –, stellten sich die den anderen Vorlagefragen zugrunde liegenden Problematiken.
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen ihm und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts ist, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen. Sofern die vorgelegten Fragen die Auslegung des Unionsrechts betreffen, ist der Gerichtshof somit grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden (vgl. u. a. Urteil vom 22. September 2016, Microsoft Mobile Sales International u. a.,C-110/15, EU:C:2016:717, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. u. a. Urteil vom 22. September 2016, Microsoft Mobile Sales International u. a., C-110/15, EU:C:2016:717, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Dies ist hier jedoch nicht der Fall, da die erste, die zweite und die vierte der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen, die im Übrigen die Auslegung des Unionsrechts betreffen, keineswegs hypothetisch sind und ein Zusammenhang mit den Gegebenheiten des Ausgangsrechtsstreits dargetan ist, denn diese Fragen betreffen die Auslegung von Vorschriften des Unionsrechts, die für die Entscheidung im Ausgangsverfahren maßgeblich sind, worauf das vorlegende Gericht in seinem Vorlagebeschluss ausdrücklich hingewiesen hat.
Insbesondere ist für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits von Interesse, ob die nach der deutschen Regelung für die Bestimmung des einzigen Steuerpflichtigen einer Mehrwertsteuergruppe geltenden Anforderungen sowie die Art und Weise, in der die fehlende Selbständigkeit von Mitgliedern einer solchen Gruppe gegenüber deren Organträger nach dieser Regelung beurteilt wird, mit Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie vereinbar sind, da sich danach bestimmt, ob der Revision des Finanzamts stattzugeben ist.
Die erste, die zweite und die vierte Vorlagefrage sind daher zulässig.
Zur Beantwortung der Vorlagefragen
Zur ersten Frage
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat verwehrt, nicht die Mehrwertsteuergruppe selbst, sondern ein Mitglied dieser Gruppe, nämlich ihren Organträger, zum einzigen Steuerpflichtigen für Mehrwertsteuerzwecke zu bestimmen.
Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Kontext und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. u. a. Urteil vom 24. Februar 2022, Airhelp [Verspätung des Alternativflugs], C-451/20, EU:C:2022:123, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Aus dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie ergibt sich, dass er es jedem Mitgliedstaat gestattet, mehrere Einheiten zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln, wenn sie im Gebiet dieses Mitgliedstaats ansässig sind und zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind. Dieser Artikel macht nach seinem Wortlaut seine Anwendung nicht von weiteren Voraussetzungen abhängig. Er sieht für die Mitgliedstaaten auch nicht die Möglichkeit vor, den Wirtschaftsteilnehmern weitere Bedingungen für die Bildung einer Mehrwertsteuergruppe aufzubürden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. April 2013, Kommission/Schweden,C-480/10, EU:C:2013:263, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Die Umsetzung der in Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Regelung verlangt, dass die aufgrund dieser Bestimmung erlassene nationale Regelung es Einheiten, zwischen denen finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Verbindungen bestehen, gestattet, nicht mehr als getrennte Mehrwertsteuerpflichtige, sondern zusammen als ein Steuerpflichtiger behandelt zu werden. Somit können, wenn ein Mitgliedstaat von dieser Bestimmung Gebrauch macht, die untergeordnete Einheit oder die untergeordneten Einheiten im Sinne dieser Vorschrift nicht als Steuerpflichtiger oder Steuerpflichtige im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie gelten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Mai 2008, Ampliscientifica und Amplifin, C-162/07, EU:C:2008:301, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Daraus folgt, dass die Verschmelzung zu einem einzigen Steuerpflichtigen gemäß Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie es ausschließt, dass die Mitglieder der Mehrwertsteuergruppe weiterhin getrennt Mehrwertsteuererklärungen abgeben und innerhalb und außerhalb ihrer Gruppe weiter als Steuerpflichtige angesehen werden, da nur der einzige Steuerpflichtige befugt ist, diese Erklärungen abzugeben. Diese Vorschrift setzt somit, wenn ein Mitgliedstaat von ihr Gebrauch macht, zwingend voraus, dass die nationale Umsetzungsregelung einen einzigen Steuerpflichtigen vorsieht und dass der Gruppe nur eine Mehrwertsteuernummer zugeteilt wird (Urteil vom 22. Mai 2008, Ampliscientifica und Amplifin, C-162/07, EU:C:2008:301, Rn. 19 und 20).
Folglich sind in einer solchen Situation die von einem Dritten zugunsten eines Mitglieds der Mehrwertsteuergruppe erbrachten Dienstleistungen für die Zwecke der Mehrwertsteuer nicht als zugunsten dieses Mitglieds, sondern vielmehr als zugunsten der Mehrwertsteuergruppe, der es angehört, erbracht anzusehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. November 2020, Kaplan International Colleges UK, C-77/19, EU:C:2020:934, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Was den Kontext von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie betrifft, geht weder aus dieser Vorschrift noch aus der durch diese Richtlinie eingeführten Regelung hervor, dass diese Vorschrift eine Ausnahme- oder Sondervorschrift darstellt, die restriktiv ausgelegt werden müsste. Wie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, darf die Voraussetzung des Vorliegens einer engen Verbindung durch finanzielle Beziehungen nicht restriktiv ausgelegt werden (vgl. entsprechend zu Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie Urteile vom 25. April 2013, Kommission/Schweden, C-480/10, EU:C:2013:263, Rn. 36, und vom 15. April 2021, Finanzamt für Körperschaften Berlin, C-868/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:285, Rn. 45).
Zu den mit Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie verfolgten Zielen ist zunächst darauf hinzuweisen, dass aus der Begründung des Kommissionsvorschlags (KOM[73] 950 endg.), der zum Erlass der Sechsten Richtlinie geführt hat, hervorgeht, dass der Unionsgesetzgeber es den Mitgliedstaaten durch den Erlass dieser Vorschrift ermöglichen wollte, die Eigenschaft des Steuerpflichtigen nicht systematisch an das Merkmal der „rein rechtlichen Selbständigkeit“ zu knüpfen, und zwar aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung oder zur Verhinderung bestimmter Missbräuche, wie z. B. der Aufspaltung eines Unternehmens zwischen mehreren Steuerpflichtigen, um in den Genuss einer Sonderregelung zu gelangen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. April 2013, Kommission/Schweden, C-480/10, EU:C:2013:263, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 15. April 2021, Finanzamt für Körperschaften Berlin, C-868/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:285, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Zwar enthielt die Sechste Richtlinie bis zum Inkrafttreten ihres durch die Richtlinie 2006/69/EG des Rates vom 24. Juli 2006 zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG hinsichtlich bestimmter Maßnahmen zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung oder -umgehung, zur Vereinfachung der Erhebung der Mehrwertsteuer sowie zur Aufhebung bestimmter Entscheidungen über die Genehmigung von Ausnahmeregelungen (ABl. 2006, L 221, S. 9) eingeführten Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 3 keine ausdrücklichen Bestimmungen, durch die den Mitgliedstaaten die Befugnis verliehen worden wäre, zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung oder -umgehung erforderliche Maßnahmen zu erlassen, doch war den Mitgliedstaaten dadurch nicht die Möglichkeit genommen, vor dem Inkrafttreten dieser Bestimmung solche Maßnahmen zu erlassen, da die Bekämpfung von Steuerhinterziehung und -umgehung durch die Mitgliedstaaten ein Ziel darstellt, das von der Sechsten Richtlinie anerkannt und gefördert wird, selbst wenn eine ausdrückliche Ermächtigung durch den Unionsgesetzgeber fehlt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2015, Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt, C-108/14 und C-109/14, EU:C:2015:496, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Daher konnten die Mitgliedstaaten bei der Anwendung von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie im Rahmen ihres Ermessens die Anwendung der Regelung über die Mehrwertsteuergruppe bestimmten Beschränkungen unterwerfen, sofern diese den Zielen der Richtlinie entsprechen, die auf die Verhinderung missbräuchlicher Praktiken oder Verhaltensweisen und die Bekämpfung von Steuerhinterziehung oder -umgehung abzielt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2015, Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt, C-108/14 und C-109/14, EU:C:2015:496, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts und der deutschen Regierung zunächst, dass der deutsche Gesetzgeber von der ihm mit Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie eingeräumten Befugnis durch § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG Gebrauch gemacht hat, der vorsieht, dass „Organschaften“ gebildet werden können.
Des Weiteren geht aus diesen Erläuterungen hervor, dass nach deutschem Recht der Organträger einer Mehrwertsteuergruppe zwar als einziger Steuerpflichtiger dieser Gruppe im Sinne von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie angesehen wird, § 73 AO jedoch vorsieht, dass eine Organgesellschaft gegebenenfalls für solche Steuern der anderen Mitglieder der Gruppe, der sie angehört, einschließlich des Organträgers haftet, für die die Organschaft zwischen ihnen steuerlich von Bedeutung ist.
Schließlich ergibt sich aus den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts, dass nach deutschem Recht ein Mitglied einer Mehrwertsteuergruppe nur dann als finanziell in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 UStG im Licht von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie angesehen werden kann, wenn der Organträger in der Lage ist, seinen Willen durchzusetzen, was voraussetzte, dass der Organträger an diesem Mitglied sowohl über eine Mehrheitsbeteiligung als auch über eine Stimmrechtsmehrheit verfügt.
Was zunächst die Frage betrifft, ob Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie der deutschen Praxis entgegensteht, nicht die Mehrwertsteuergruppe selbst, sondern eines ihrer Mitglieder, nämlich ihren Organträger, zum einzigen Steuerpflichtigen zu bestimmen, ist zu präzisieren, dass der Gerichtshof in den Urteilen vom 22. Mai 2008, Ampliscientifica und Amplifin (C-162/07, EU:C:2008:301, Rn. 19 und 20), und vom 17. September 2014, Skandia America (USA), filial Sverige (C-7/13, EU:C:2014:2225, Rn. 34, 35 und 37), zwar im Wesentlichen entschieden hat, dass die Mehrwertsteuergruppe als Steuerpflichtige die Mehrwertsteuer schuldet, doch muss es, wie die Generalanwältin in Nr. 79 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, wenn mehrere rechtlich selbständige Mitglieder einer Mehrwertsteuergruppe zusammen einen einzigen Steuerpflichtigen bilden, einen einzigen Ansprechpartner geben, der die mehrwertsteuerrechtlichen Pflichten der Gruppe gegenüber den Steuerbehörden wahrnimmt. Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie enthält jedoch weder eine Vorgabe zur Bestimmung des Mitglieds, das die Mehrwertsteuergruppe vertritt, noch zu der Form, in der dieses die steuerlichen Pflichten einer solchen Gruppe wahrnimmt.
Insoweit können die in Rn. 49 genannten Ziele es unabhängig von der Möglichkeit, eine Vertretung der Mehrwertsteuergruppe durch eines ihrer Mitglieder vorzusehen, rechtfertigen, dass der Organträger der Mehrwertsteuergruppe zum einzigen Steuerpflichtigen bestimmt wird, wenn dieser Organträger in der Lage ist, seinen Willen bei den anderen Mitgliedern dieser Gruppe durchzusetzen, und somit eine genaue Erhebung der Mehrwertsteuer ermöglicht wird.
Der Umstand, dass nicht die Mehrwertsteuergruppe selbst, sondern ihr Organträger, der sie vertritt, die Rolle des einzigen Steuerpflichtigen im Sinne von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie wahrnimmt, darf jedoch nicht zur Gefahr von Steuerverlusten führen.
Indessen ergibt sich aus den in Rn. 27 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Erläuterungen des vorlegenden Gerichts und den Erläuterungen der deutschen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen, dass insofern, als sich die Erklärungspflicht, der dieser Organträger unterliegt, auf die Leistungen erstreckt, die von allen Mitgliedern und an alle Mitglieder der Mehrwertsteuergruppe erbracht werden, und die sich daraus ergebende Steuerschuld alle diese Leistungen umfasst, das Ergebnis dasselbe ist, wie wenn diese Gruppe selbst Steuerpflichtige wäre.
Aus diesen Erläuterungen ergibt sich auch, dass, selbst wenn nach deutschem Recht sämtliche mehrwertsteuerlichen Pflichten auf dem Organträger als Vertreter der Mehrwertsteuergruppe vor den Finanzbehörden lasten, sich diese gestützt auf § 73 AO gegebenenfalls an die anderen Mitglieder dieser Gruppe halten können.
Nach diesen Erwägungen ist Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, nicht die Mehrwertsteuergruppe selbst, sondern ein Mitglied dieser Gruppe, nämlich ihren Organträger, zum einzigen Steuerpflichtigen für Mehrwertsteuerzwecke zu bestimmen, wenn dieser Organträger in der Lage ist, seinen Willen bei den anderen Mitgliedern dieser Gruppe durchzusetzen, und unter der Voraussetzung, dass diese Bestimmung nicht zur Gefahr von Steuerverlusten führt.
Zur zweiten Frage
Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie in Verbindung mit deren Art. 21 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 unmittelbare Wirkung hat, auf die sich die Steuerpflichtigen gegenüber ihrem Mitgliedstaat berufen können, falls dessen Rechtsvorschriften nicht mit diesen Vorschriften im Einklang stehen und nicht in einer mit diesen konformen Weise ausgelegt werden können. Das vorlegende Gericht hat die zweite Frage nur für den Fall gestellt, dass die Antwort auf die erste Frage lautet, dass Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat verwehrt, nicht die Mehrwertsteuergruppe selbst, sondern eines ihrer Mitglieder, nämlich ihren Organträger, zum Mehrwertsteuerpflichtigen zu bestimmen.
Angesichts der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage nicht zu beantworten.
Zur dritten Frage
Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Möglichkeit einer Einheit, mit dem Unternehmen des Organträgers eine Mehrwertsteuergruppe zu bilden, an die Bedingung knüpft, dass der Organträger zusätzlich zu einer Mehrheitsbeteiligung an dieser Einheit über eine Stimmrechtsmehrheit bei ihr verfügt.
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die in Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie aufgestellte Voraussetzung, wonach die Bildung einer Mehrwertsteuergruppe davon abhängt, dass zwischen den betreffenden Personen enge Verbindungen in finanzieller, wirtschaftlicher und organisatorischer Hinsicht bestehen, einer Präzisierung auf nationaler Ebene bedarf. Diese Vorschrift hat daher insoweit einen bedingten Charakter, als sie die Anwendung nationaler Rechtsvorschriften voraussetzt, die den konkreten Umfang solcher Verbindungen bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2015, Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt, C-108/14 und C-109/14, EU:C:2015:496, Rn. 50).
Für eine einheitliche Anwendung der Sechsten Richtlinie ist es jedoch wichtig, dass der Begriff der engen Verbindungen durch finanzielle Beziehungen im Sinne von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 dieser Richtlinie autonom und einheitlich ausgelegt wird. Eine solche Auslegung ist, obwohl die in diesem Artikel vorgesehene Regelung für die Mitgliedstaaten fakultativ ist, geboten, um zu vermeiden, dass es, wenn sie umgesetzt wird, bei ihrer Anwendung Divergenzen zwischen den Mitgliedstaaten gibt (vgl. entsprechend Urteil vom 15. April 2021, Finanzamt für Körperschaften Berlin, C-868/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:285, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Wie in den Rn. 44 und 51 des vorliegenden Urteils ausgeführt, sieht Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie zwar für die Mitgliedstaaten nicht die ausdrückliche Möglichkeit vor, den Wirtschaftsteilnehmern weitere Bedingungen für die Bildung einer Mehrwertsteuergruppe aufzuerlegen; sie können jedoch im Rahmen ihres Ermessens die Anwendung der Regelung über die Mehrwertsteuergruppe bestimmten Beschränkungen unterwerfen, sofern diese den Zielen der Richtlinie entsprechen, die auf die Verhinderung missbräuchlicher Praktiken oder Verhaltensweisen und die Bekämpfung von Steuerhinterziehung oder -umgehung abzielt, und sofern das Unionsrecht und seine allgemeinen Grundsätze, insbesondere die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität, beachtet werden (vgl. entsprechend Urteil vom 15. April 2021, Finanzamt für Körperschaften Berlin, C-868/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:285, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Es ist auch darauf hinzuweisen, dass nach der in Rn. 48 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung die Voraussetzung des Bestehens einer engen Verbindung durch finanzielle Beziehungen nicht restriktiv auszulegen ist.
Insbesondere hat der Gerichtshof in Anbetracht des Wortlauts von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie bereits klargestellt, dass der bloße Umstand, dass es sich um enge Verbindungen zwischen den zu einer Mehrwertsteuergruppe gehörenden Einheiten handeln muss, in Ermangelung weiterer Anforderungen nicht zu der Annahme führen kann, dass der Unionsgesetzgeber die Inanspruchnahme der Regelung über die Mehrwertsteuergruppe allein den Einheiten vorbehalten wollte, die in einem Unterordnungsverhältnis zum Organträger der betreffenden Unternehmensgruppe stehen. Das Vorliegen eines solchen Unterordnungsverhältnisses lässt zwar vermuten, dass zwischen den betreffenden Einheiten enge Verbindungen bestehen, doch kann es nicht grundsätzlich als eine für die Bildung einer Mehrwertsteuergruppe notwendige Voraussetzung angesehen werden. Etwas anderes gälte nur in den Ausnahmefällen, in denen eine solche Bedingung in einem bestimmten nationalen Kontext eine für die Erreichung der Ziele der Verhinderung missbräuchlicher Praktiken oder Verhaltensweisen und der Bekämpfung von Steuerhinterziehung oder -umgehung sowohl erforderliche als auch geeignete Maßnahme ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2015, Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt, C-108/14 und C-109/14, EU:C:2015:496, Rn. 44 und 45).
Daraus folgt, dass das Erfordernis der Stimmenmehrheit, das im Rahmen des Erfordernisses der finanziellen Eingliederung im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 UStG zusätzlich zu dem Erfordernis der Mehrheitsbeteiligung aufgestellt wird, nicht von vornherein eine Maßnahme darstellt, die zur Erreichung der Ziele der Verhinderung missbräuchlicher Praktiken oder Verhaltensweisen und der Bekämpfung von Steuerhinterziehung oder -umgehung erforderlich und geeignet ist – was jedoch vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist –, und daher nach Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie grundsätzlich nicht verlangt werden kann.
In diesem Zusammenhang ist nicht ohne Belang, dass die deutsche Regierung, wie aus ihrer Antwort auf die schriftlichen Fragen des Gerichtshofs hervorgeht, im Wesentlichen einräumt, dass keine der beiden in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Anforderungen unbedingt erforderlich sei, solange der Organträger in der Lage sei, seinen Willen bei den anderen Mitgliedern der Mehrwertsteuergruppe durchzusetzen.
In Anbetracht dieser Erwägungen ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Möglichkeit einer Einheit, mit dem Unternehmen des Organträgers eine Mehrwertsteuergruppe zu bilden, an die Bedingung knüpft, dass der Organträger zusätzlich zu einer Mehrheitsbeteiligung an dieser Einheit über eine Stimmrechtsmehrheit bei ihr verfügt.
Zur vierten Frage
Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 4 der Sechsten Richtlinie in Verbindung mit deren Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat nicht gestattet, Einheiten im Wege der Typisierung als nicht selbständig anzusehen, wenn sie finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in den Organträger einer Mehrwertsteuergruppe eingegliedert sind.
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie als Steuerpflichtiger gilt, wer eine der in Abs. 2 dieser Vorschrift genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten selbständig ausübt.
Nach Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie schließt der Begriff ‚selbständig‘ die Lohn- und Gehaltsempfänger und sonstige Personen von der Besteuerung aus, soweit sie an ihren Arbeitgeber durch einen Arbeitsvertrag oder ein sonstiges Rechtsverhältnis gebunden sind, das hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsentgelts sowie der Verantwortlichkeit des Arbeitgebers ein Verhältnis der Unterordnung schafft.
Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie sieht vor, dass es jedem Mitgliedstaat vorbehaltlich der Konsultation nach Art. 29 freisteht, im Inland ansässige Personen, die zwar „rechtlich unabhängig“, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln.
Es ist auch darauf hinzuweisen, dass, wie die Kommission in Abschnitt 3.2 Abs. 1 und 2 ihrer Mitteilung KOM(2009) 325 endgültig ausgeführt hat, durch die Bildung einer Mehrwertsteuergruppe nach Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie mehrere eng miteinander verbundene Mehrwertsteuerpflichtige zu einem neuen einzigen Steuerpflichtigen verschmolzen werden. Die Kommission hat außerdem präzisiert, dass „eine [Mehrwertsteuergruppe] als eine für Mehrwertsteuerzwecke geschaffene ‚fiktive Einrichtung‘ betrachtet werden [könnte], wobei dem ökonomischen Wesensgehalt Vorrang vor der Rechtsform gegeben wird. Eine [Mehrwertsteuergruppe] stellt eine besondere Form eines Steuerpflichtigen dar, die nur im Hinblick auf die Mehrwertsteuer besteht. Sie basiert auf den tatsächlichen finanziellen, wirtschaftlichen und organisatorischen Beziehungen zwischen Unternehmen. Während jedes Mitglied der Gruppe seine eigene Rechtsform behält, hat die [Mehrwertsteuergruppe] – nur im Hinblick auf die Mehrwertsteuer – Vorrang vor Rechtsformen, die z. B. auf dem Zivilrecht oder dem Gesellschaftsrecht basieren. …“
Außerdem ist nach ständiger Rechtsprechung eine Leistung nur dann steuerbar, wenn zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger ein Rechtsverhältnis besteht, in dessen Rahmen gegenseitige Leistungen ausgetauscht werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. September 2014, Skandia America [USA], filial Sverige, C-7/13, EU:C:2014:2225, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Zur Klärung der Frage, ob ein solches Rechtsverhältnis zwischen einem Mitglied einer Mehrwertsteuergruppe und den anderen Mitgliedern dieser Gruppe einschließlich ihres Organträgers besteht, so dass die von diesem Mitglied erbrachten Leistungen der Mehrwertsteuer unterliegen, ist zu untersuchen, ob dieses Mitglied einer selbständigen Wirtschaftstätigkeit nachgeht. Dazu ist zu prüfen, ob es insoweit als selbständig angesehen werden kann, als es seine Tätigkeiten im eigenen Namen, auf eigene Rechnung und in eigener Verantwortung ausübt und das mit der Ausübung dieser Tätigkeiten einhergehende wirtschaftliche Risiko trägt (vgl. entsprechend Urteile vom 17. September 2014, Skandia America [USA], filial Sverige, C-7/13, EU:C:2014:2225, Rn. 25, und vom 13. Juni 2019, IO [Mehrwertsteuer – Tätigkeit als Mitglied eines Aufsichtsrats], C-420/18, EU:C:2019:490, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Im vorliegenden Fall ist die Organträgerin A als einzige Steuerpflichtige und Vertreterin der Mehrwertsteuergruppe zwar damit betraut, die Steuererklärung im Namen aller Mitglieder dieser Gruppe einschließlich der NGD mbH abzugeben, doch tragen diese Mitglieder, wie aus den Rn. 27 und 57 bis 59 des vorliegenden Urteils hervorgeht, die mit ihrer jeweiligen wirtschaftlichen Tätigkeit einhergehenden wirtschaftlichen Risiken selbst. Folglich ist davon auszugehen, dass diese Mitglieder selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeiten nachgehen und daher nicht im Wege der Typisierung aufgrund ihrer bloßen Zugehörigkeit zu einer Mehrwertsteuergruppe als „nicht selbständig“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 und Abs. 4 Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie eingestuft werden können.
Diese Auslegung wird außerdem dadurch bestätigt, dass nach Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie Einheiten, die eine Mehrwertsteuergruppe bilden können, zwar durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sein müssen, diese Vorschrift jedoch nicht vorsieht, dass das Bestehen dieser Beziehungen dazu führt, dass ein Mitglied dieser Gruppe, das nicht der Organträger ist, eine nicht selbständige wirtschaftliche Tätigkeit ausübt. Somit ergibt sich aus dieser Vorschrift nicht, dass dieses Mitglied aufgrund seiner bloßen Zugehörigkeit zu der Mehrwertsteuergruppe keine selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeiten im Sinne von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 1 dieser Richtlinie mehr ausübte.
Nach diesen Erwägungen ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie in Verbindung mit deren Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat nicht gestattet, Einheiten im Wege der Typisierung als nicht selbständig anzusehen, wenn sie finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in den Organträger einer Mehrwertsteuergruppe eingegliedert sind.
Kosten
Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der durch die Richtlinie 2000/65/EG des Rates vom 17. Oktober 2000 geänderten Fassung
ist dahin auszulegen, dass
er es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, zum einzigen Steuerpflichtigen einer Gruppe von Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, den Organträger dieser Gruppe zu bestimmen, wenn dieser in der Lage ist, seinen Willen bei den anderen Mitgliedern dieser Gruppe durchzusetzen, und unter der Voraussetzung, dass diese Bestimmung nicht zur Gefahr von Steuerverlusten führt.
Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388 in der durch die Richtlinie 2000/65 geänderten Fassung
ist dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Möglichkeit einer Einheit, mit dem Unternehmen des Organträgers eine Gruppe von Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zu bilden, an die Bedingung knüpft, dass der Organträger zusätzlich zu einer Mehrheitsbeteiligung an dieser Einheit über eine Stimmrechtsmehrheit bei ihr verfügt.
Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388 in der durch die Richtlinie 2000/65 geänderten Fassung ist in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 77/388 in geänderter Fassung
dahin auszulegen, dass
er es einem Mitgliedstaat nicht gestattet, Einheiten im Wege der Typisierung als nicht selbständig anzusehen, wenn sie finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in den Organträger einer Gruppe von Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, eingegliedert sind.
Arabadjiev
Xuereb
von Danwitz
Kumin
Ziemele
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 1. Dezember 2022.
Der Kanzler
A. Calot Escobar
Der Kammerpräsident
A. Arabadjiev
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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