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EuGH 01.12.2022 - C-269/20
EuGH 01.12.2022 - C-269/20 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer) - 1. Dezember 2022 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Mehrwertsteuer – Sechste Richtlinie 77/388/EWG – Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 – Steuerpflichtige – Möglichkeit der Mitgliedstaaten, Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln (‚Mehrwertsteuergruppe‘) – Nationale Regelung, die den Organträger der Mehrwertsteuergruppe zum einzigen Steuerpflichtigen bestimmt – Leistungen innerhalb der Mehrwertsteuergruppe – Art. 6 Abs. 2 Buchst. b – Unentgeltlich erbrachte Dienstleistungen – Begriff ‚unternehmensfremde Zwecke‘“
Leitsatz
In der Rechtssache C-269/20
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzhof (Deutschland) mit Entscheidung vom 7. Mai 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Juni 2020, in dem Verfahren
Finanzamt T
gegen
S
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Richter P. G. Xuereb (Berichterstatter), T. von Danwitz und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,
Generalanwältin : L. Medina,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und S. Heimerl als Bevollmächtigte,
der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia und R. Pethke als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 27. Januar 2022
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 4 und Art. 6 Abs. 2 Buchst. b der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. 1977, L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie).
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Finanzamt T (Deutschland) (im Folgenden: Finanzamt) und S, einer deutschen Stiftung öffentlichen Rechts, wegen der Umsatzbesteuerung von S für den Besteuerungszeitraum 2005.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Die Sechste Richtlinie wurde durch die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) mit Wirkung vom 1. Januar 2007 aufgehoben und ersetzt. In Anbetracht des entscheidungserheblichen Zeitraums unterliegt der Ausgangsrechtsstreit jedoch weiterhin der Sechsten Richtlinie.
Art. 2 der Sechsten Richtlinie bestimmte:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen:
1. Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt;
…“
Art. 4 der Sechsten Richtlinie sah vor:
„(1) Als Steuerpflichtiger gilt, wer eine der in Absatz 2 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten selbständig und unabhängig von ihrem Ort ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis.
…
(4) Der in Absatz 1 verwendete Begriff ‚selbständig‘ schließt die Lohn- und Gehaltsempfänger und sonstige Personen von der Besteuerung aus, soweit sie an ihren Arbeitgeber durch einen Arbeitsvertrag oder ein sonstiges Rechtsverhältnis gebunden sind, das hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsentgelts sowie der Verantwortlichkeit des Arbeitgebers ein Verhältnis der Unterordnung schafft.
Vorbehaltlich der Konsultation nach Artikel 29 steht es jedem Mitgliedstaat frei, im Inland ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln.
(5) Staaten, Länder, Gemeinden und sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts gelten nicht als Steuerpflichtige, soweit sie die Tätigkeiten ausüben oder Leistungen erbringen, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, auch wenn sie im Zusammenhang mit diesen Tätigkeiten oder Leistungen Zölle, Gebühren, Beiträge oder sonstige Abgaben erheben.
Falls sie jedoch solche Tätigkeiten ausüben oder Leistungen erbringen, gelten sie für diese Tätigkeiten oder Leistungen als Steuerpflichtige, sofern eine Behandlung als Nicht-Steuerpflichtige zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde.
Die vorstehend genannten Einrichtungen gelten in jedem Fall als Steuerpflichtige in Bezug auf die in Anhang D aufgeführten Tätigkeiten, sofern der Umfang dieser Tätigkeiten nicht unbedeutend ist.
Die Mitgliedstaaten können die Tätigkeiten der vorstehend genannten Einrichtungen, die nach Artikel 13 oder 28 von der Steuer befreit sind, als Tätigkeiten behandeln, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen.“
Art. 6 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie bestimmte:
„Dienstleistungen gegen Entgelt werden gleichgestellt:
die Verwendung eines dem Unternehmen zugeordneten Gegenstands für den privaten Bedarf des Steuerpflichtigen, für den Bedarf seines Personals oder allgemein für unternehmensfremde Zwecke, wenn dieser Gegenstand zum vollen oder teilweisen Abzug der Mehrwertsteuer berechtigt hat;
die unentgeltliche Erbringung von Dienstleistungen durch den Steuerpflichtigen für seinen privaten Bedarf, oder für den Bedarf seines Personals oder allgemein für unternehmensfremde Zwecke.
Die Mitgliedstaaten können Abweichungen von diesem Absatz vorsehen, sofern solche Abweichungen nicht zu Wettbewerbsverzerrungen führen.“
Art. 17 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie sah vor:
„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige befugt, von der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
die geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert wurden oder geliefert werden bzw. erbracht wurden oder erbracht werden,
…“
Deutsches Recht
§ 2 Abs. 2 des Umsatzsteuergesetzes in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: UStG) bestimmt:
„Die gewerbliche oder berufliche Tätigkeit wird nicht selbständig ausgeübt,
…
2. wenn eine juristische Person nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert ist (Organschaft). Die Wirkungen der Organschaft sind auf Innenleistungen zwischen den im Inland gelegenen Unternehmensteilen beschränkt. Diese Unternehmensteile sind als ein Unternehmen zu behandeln. …
…“
§ 3 Abs. 9a UStG bestimmt:
„Einer sonstigen Leistung gegen Entgelt werden gleichgestellt
1. die Verwendung eines dem Unternehmen zugeordneten Gegenstands, der zum vollen oder teilweisen Vorsteuerabzug berechtigt hat, durch einen Unternehmer für Zwecke, die außerhalb des Unternehmens liegen, oder für den privaten Bedarf seines Personals, sofern keine Aufmerksamkeiten vorliegen; dies gilt nicht, wenn der Vorsteuerabzug nach § 15 Absatz 1b ausgeschlossen oder wenn eine Vorsteuerberichtigung nach § 15a Absatz 6a durchzuführen ist;
2. die unentgeltliche Erbringung einer anderen sonstigen Leistung durch den Unternehmer für Zwecke, die außerhalb des Unternehmens liegen, oder für den privaten Bedarf seines Personals, sofern keine Aufmerksamkeiten vorliegen.“
§ 73 der Abgabenordnung in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: AO) sieht vor:
„Eine Organgesellschaft haftet für solche Steuern des Organträgers, für welche die Organschaft zwischen ihnen steuerlich von Bedeutung ist. …“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
S, eine deutsche Stiftung öffentlichen Rechts, ist Trägerin eines Bereichs Universitätsmedizin und Organträgerin der U-GmbH. Sie unterliegt für die Dienstleistungen, die sie gegen Entgelt erbringt, der Umsatzsteuer, während sie für die Tätigkeiten, die sie im Rahmen der Wahrnehmung ihrer hoheitlichen Aufgaben ausübt, nicht als steuerpflichtig gilt.
In dem im Ausgangsverfahren maßgeblichen Besteuerungszeitraum erbrachte die U-GmbH für S Reinigungs-, Hygiene- und Wäschereileistungen sowie Krankentransportleistungen. Die Reinigungsleistungen umfassten den gesamten Gebäudekomplex des Bereichs Universitätsmedizin, zu dem neben Patientenzimmern, Fluren und Operationssälen auch Hörsäle und Labore gehören.
Nach den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts dient der eigentliche Krankenhausbereich der Versorgung der Patienten und ist damit dem wirtschaftlichen Tätigkeitsbereich von S zuzuordnen, in dem sie als Steuerpflichtige handele. Hingegen würden die Hörsäle und Labore und andere Räume für die Ausbildung der Studierenden und damit für die Tätigkeit von S im Rahmen der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben genutzt, für die sie nicht als Steuerpflichtige gelte. Der Anteil des hoheitlichen Bereichs, für den Reinigungsleistungen erbracht worden seien, habe 7,6 % der Gesamtfläche des fraglichen Gebäudekomplexes betragen. Die U-GmbH habe für ihre Dienstleistungen von S eine Vergütung von insgesamt 76085,48 Euro erhalten.
Im Anschluss an eine Außenprüfung änderte das Finanzamt den Umsatzsteuerbescheid für den fraglichen Besteuerungszeitraum, da es sich bei den Betrieben von S um ein einheitliches Unternehmen handele, für das nur eine Umsatzsteuererklärung abzugeben und dementsprechend nur ein Umsatzsteuerbescheid zu erteilen sei.
Nach Ansicht des Finanzamts wurden die für den hoheitlichen Bereich der Tätigkeit von S erfolgten Reinigungsleistungen von der U-GmbH im Rahmen der zwischen S und der U-GmbH bestehenden Organschaft im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG erbracht. Mit dieser Vorschrift werde im deutschen Recht die in Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie vorgesehene Möglichkeit umgesetzt, Personen, die rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden seien, zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln.
Somit hätten die Reinigungsleistungen einer unternehmensfremden Tätigkeit gedient und eine „unentgeltliche Wertabgabe“ gemäß § 3 Abs. 9a Nr. 2 UStG im Licht von Art. 6 Abs. 2 Buchst. b der Sechsten Richtlinie bei S ausgelöst.
In Anbetracht dieser Umstände ging das Finanzamt unter Berücksichtigung des auf den hoheitlichen Bereich der Tätigkeiten von S entfallenden Anteils von 7,6 % der Fläche des fraglichen Gebäudekomplexes davon aus, dass auf die Reinigung dieses Flächenanteils durch die U-GmbH 5782,50 Euro entfielen. Abzüglich eines Gewinnzuschlags, den das Finanzamt mit 525,66 Euro bezifferte, errechnete es eine Bemessungsgrundlage für die „unentgeltliche Wertabgabe“ in Höhe von 5257 Euro und damit eine um 841,12 Euro höhere Umsatzsteuer.
Gegen die Zurückweisung des von S gegen diesen geänderten Besteuerungsbescheid eingelegten Einspruchs wurde beim Finanzgericht (Deutschland) Klage erhoben. Das Finanzgericht gab dieser Klage statt und führte zur Begründung im Wesentlichen aus, dass die Organschaft, die zur Zusammenfassung von S als Organträgerin und der U-GmbH als Organgesellschaft zu einem Unternehmen führe, sich auch auf die Tätigkeiten erstrecke, die S in Wahrnehmung ihrer hoheitlichen Aufgaben ausübe. Die Voraussetzungen einer „unentgeltlichen Wertabgabe“ nach § 3 Abs. 9a Nr. 2 UStG lägen aber nicht vor.
Das Finanzamt legte gegen dieses Urteil Revision beim Bundesfinanzhof (Deutschland) ein.
Das vorlegende Gericht weist eingangs darauf hin, dass nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 UStG bei einer Organgesellschaft, die in das Unternehmen des Organträgers einer Gruppe von Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden seien (im Folgenden: Mehrwertsteuergruppe), eingegliedert sei, davon ausgegangen werde, dass sie ihre wirtschaftliche Tätigkeit nicht selbständig ausübe. Die Organgesellschaft, die bei eigenständiger Betrachtung Steuerpflichtiger wäre, werde aufgrund ihrer finanziellen, wirtschaftlichen und organisatorischen Beziehungen zum Organträger im Ergebnis wie ein Arbeitnehmer des Organträgers behandelt. Dies wirke sich sowohl bei Umsätzen gegenüber Dritten als auch bei Umsätzen zwischen der Organgesellschaft und dem Organträger aus.
Zum einen werde bei Umsätzen, die eine Organgesellschaft gegenüber Dritten ausführe, das Erfordernis eines einzigen Steuerpflichtigen im Sinne von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie gewährleistet, auch wenn nicht die Organgesellschaft, sondern der Organträger der Steuerpflichtige sei. Der Organträger sei daher nicht nur für die von ihm selbst ausgeführten Umsätze steuerpflichtig, sondern ebenso für die von der Organgesellschaft gegenüber Dritten ausgeführten Umsätze. Somit sei im vorliegenden Fall S für die von der U-GmbH gegenüber Dritten ausgeführten Umsätze steuerpflichtig.
Zum anderen gälten Umsätze zwischen Organgesellschaften und dem Organträger einer Mehrwertsteuergruppe als innerhalb eines Steuerpflichtigen erbracht und unterlägen daher nicht dem Anwendungsbereich der Umsatzsteuer. Im vorliegenden Fall handele es sich bei den von der U-GmbH an S erbrachten Reinigungsleistungen um eben solche Innenumsätze.
In Anbetracht dieser Gesichtspunkte fragt sich das vorlegende Gericht, ob die Möglichkeit der Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie, einen einzigen Steuerpflichtigen einer Mehrwertsteuergruppe zu bestimmen, dahin auszulegen ist, dass als Steuerpflichtiger ein Mitglied dieser Gruppe, das für alle Umsätze der anderen Mitglieder der Gruppe umsatzsteuerpflichtig ist, anzusehen ist (Antwortvorschlag A), oder dahin, dass als Steuerpflichtige die von ihren Mitgliedern getrennte Mehrwertsteuergruppe selbst anzusehen ist. In dieser zweiten Konstellation werde eine solche Gruppe als eigens für Mehrwertsteuerzwecke zu schaffende fiktive Einrichtung angesehen (Antwortvorschlag B).
Zwar entspreche der Antwortvorschlag A jahrzehntelanger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, dennoch bestehe Bedarf an zusätzlicher Klärung durch den Gerichtshof, insbesondere im Hinblick auf die Erkenntnisse aus dem Urteil vom 7. September 2014, Skandia America (USA), filial Sverige (C-7/13, EU:C:2014:2225, Rn. 28 und 29), in Bezug auf die Frage, ob Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie dahin ausgelegt werden könne, dass er es einem Mitgliedstaat gestatte, zum einzigen Steuerpflichtigen anstelle der Mehrwertsteuergruppe selbst ein Mitglied dieser Gruppe, nämlich ihren Organträger, zu bestimmen.
Insoweit ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 UStG, indem er die Zahlung der Umsatzsteuer bei einem der Mitglieder der Gruppe konzentriere, die Anwendung des Mehrwertsteuerrechts vereinfache und damit dem mit Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie verfolgten Zweck der „Verwaltungsvereinfachung“ entspreche.
Demgegenüber könne sich aus dem Ansatz, wonach eine eigenständige Mehrwertsteuergruppe im Sinne einer „fiktiven Einrichtung“ geschaffen werden müsse, keine Verwaltungsvereinfachung ergeben.
Des Weiteren seien die Urteile vom 22. Mai 2008, Ampliscientifica und Amplifin (C-162/07, EU:C:2008:301, Rn. 19), vom 9. April 2013, Kommission/Irland (C-85/11, EU:C:2013:217, Rn. 40 und 48), sowie vom 17. September 2014, Skandia America (USA), filial Sverige (C-7/13, EU:C:2014:2225, Rn. 28, 29, 35 und 37), nicht dahin auszulegen, dass es einem Mitgliedstaat nicht gestattet sei, ein repräsentatives Mitglied einer Mehrwertsteuergruppe (den Organträger) zum einzigen Steuerpflichtigen dieser Gruppe zu bestimmen.
Im Übrigen stehe der Umstand, dass ein einziges Mitglied der Mehrwertsteuergruppe für die gesamte Gruppe steuerpflichtig sei, der Mitverantwortlichkeit der anderen Mitglieder der Gruppe nicht entgegen. Insoweit sehe § 73 Satz 1 AO im Wesentlichen die Mithaftung der Organgesellschaften in Bezug auf die Steuerschuld des Organträgers der Gruppe vor.
Falls die in Rn. 23 des vorliegenden Urteils aufgeworfene Frage mit dem in dieser Rn. 23 dargestellten Antwortvorschlag B zu beantworten sei, bedeute dies im Wesentlichen, dass im vorliegenden Fall nicht von einer Organschaft zwischen S als Organträgerin und der U-GmbH als Organgesellschaft ausgegangen werden könnte. Somit wäre die Anwendung von Art. 6 Abs. 2 Buchst. b der Sechsten Richtlinie ausgeschlossen, da die U-GmbH mangels Organschaft als eigenständige Steuerpflichtige anzusehen wäre, die an S Leistungen erbracht habe, für die sie gemäß Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie umsatzsteuerpflichtig wäre.
Für den Fall, dass indessen dem in Rn. 23 des vorliegenden Urteils dargestellten Antwortvorschlag A gefolgt wird, fragt sich das vorlegende Gericht außerdem, ob die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 6 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie, insbesondere nach dem Urteil vom 12. Februar 2009, Vereniging Noordelijke Land- en Tuinbouw Organisatie (C-515/07, EU:C:2009:88), dahin zu verstehen ist, dass in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens – der eine Einrichtung wie S betrifft, die zum einen wirtschaftliche Tätigkeiten ausübt, für die sie besteuert wird, und zum anderen Tätigkeiten im Rahmen der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben, für die sie gemäß Art. 4 Abs. 5 der Sechsten Richtlinie nicht als Mehrwertsteuerpflichtige gilt – die Erbringung einer unentgeltlichen Dienstleistung aus dem Bereich der wirtschaftlichen Tätigkeit der betreffenden Einrichtung an den Bereich ihrer hoheitlichen Tätigkeit nach Art. 6 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie besteuert werden kann.
Sollte die erste Frage entsprechend dem Antwortvorschlag A zu beantworten und somit § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG als mit der Sechsten Richtlinie vereinbar anzusehen sein, sei im vorliegenden Fall gemäß dieser Vorschrift des deutschen Rechts davon auszugehen, dass die U-GmbH ihre Tätigkeit nicht selbständig ausübe, so dass sie mit der Organträgerin S eine einzige Steuerpflichtige bilde. Somit sei von der U-GmbH keine Dienstleistung gegen Entgelt im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Sechsten Richtlinie an S erbracht worden, da die Tätigkeit der U-GmbH wie eine eigene Tätigkeit der Organträgerin zu behandeln sei.
Somit sei zu entscheiden, ob S mit Mitteln ihres Unternehmens – zu dem gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG und Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie auch die Betriebsmittel der U-GmbH gehörten –unentgeltliche Reinigungsleistungen für unternehmensfremde Zwecke im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Buchst. b der Sechsten Richtlinie erbracht habe, da diese Leistungen für den Bereich ihrer hoheitlichen Tätigkeit als „nicht wirtschaftliche Tätigkeit“ erbracht worden seien.
Vor diesem Hintergrund hat der Bundesfinanzhof das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist die in Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie für die Mitgliedstaaten vorgesehene Ermächtigung, in ihrem Gebiet ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln, in der Weise auszuüben,
dass die Behandlung als ein Steuerpflichtiger bei einer dieser Personen erfolgt, die Steuerpflichtige für alle Umsätze dieser Personen ist, oder in der Weise,
dass die Behandlung als ein Steuerpflichtiger zwingend – und damit auch unter Inkaufnahme erheblicher Steuerausfälle – zu einer von den eng miteinander verbundenen Personen getrennten Mehrwertsteuergruppe führen muss, bei der es sich um eine eigens für Mehrwertsteuerzwecke zu schaffende fiktive Einrichtung handelt?
Falls zur ersten Frage der Antwortvorschlag A zutreffend ist: Folgt aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu den unternehmensfremden Zwecken im Sinne von Art. 6 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie (Urteil vom 12. Februar 2009, Vereniging Noordelijke Land- en Tuinbouw Organisatie, C-515/07, EU:C:2009:88), dass bei einem Steuerpflichtigen,
der zum einen eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt und dabei entgeltliche Leistungen im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Sechsten Richtlinie erbringt und
der zum anderen zugleich eine Tätigkeit ausübt, die ihm im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegt (Hoheitstätigkeit), für die er nach Art. 4 Abs. 5 der Sechsten Richtlinie nicht als Steuerpflichtiger gilt,
für die Erbringung einer unentgeltlichen Dienstleistung aus dem Bereich seiner wirtschaftlichen Tätigkeit für den Bereich seiner Hoheitstätigkeit keine Besteuerung nach Art. 6 Abs. 2 Buchst. b der Sechsten Richtlinie vorzunehmen ist?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat verwehrt, nicht die Mehrwertsteuergruppe selbst, sondern ein Mitglied dieser Gruppe, nämlich ihren Organträger, zum einzigen Steuerpflichtigen für Mehrwertsteuerzwecke zu bestimmen.
Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung einer unionsrechtlichen Vorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Kontext und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. u. a. Urteil vom 24. Februar 2022, Airhelp [Verspätung des Alternativflugs], C-451/20, EU:C:2022:123, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Ferner folgt aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes, dass die Begriffe einer unionsrechtlichen Bestimmung, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Europäischen Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. April 2013, Kommission/Schweden, C-480/10, EU:C:2013:263, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Für eine einheitliche Anwendung der Sechsten Richtlinie ist es insbesondere wichtig, dass der Begriff der engen Verbindungen durch finanzielle Beziehungen im Sinne von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 dieser Richtlinie autonom und einheitlich ausgelegt wird. Eine solche Auslegung ist, obwohl die in diesem Artikel vorgesehene Regelung für die Mitgliedstaaten fakultativ ist, geboten, um zu vermeiden, dass es, wenn sie umgesetzt wird, bei ihrer Anwendung Divergenzen zwischen den Mitgliedstaaten gibt (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 15. April 2021, Finanzamt für Körperschaften Berlin, C-868/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:285, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Hierbei ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie, dass er es jedem Mitgliedstaat gestattet, mehrere Einheiten zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln, wenn sie im Gebiet dieses Mitgliedstaats ansässig sind und zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind. Dieser Artikel macht nach seinem Wortlaut seine Anwendung nicht von weiteren Voraussetzungen abhängig. Er sieht für die Mitgliedstaaten auch nicht die Möglichkeit vor, den Wirtschaftsteilnehmern weitere Bedingungen für die Bildung einer Mehrwertsteuergruppe aufzubürden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. April 2013, Kommission/Schweden, C-480/10, EU:C:2013:263, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Die Umsetzung der in Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Regelung verlangt, dass die aufgrund dieser Bestimmung erlassene nationale Regelung es Einheiten, zwischen denen finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen bestehen, gestattet, nicht mehr als getrennte Mehrwertsteuerpflichtige, sondern zusammen als ein Steuerpflichtiger behandelt zu werden. Somit können, wenn ein Mitgliedstaat von dieser Bestimmung Gebrauch macht, die untergeordnete Einheit oder die untergeordneten Einheiten im Sinne dieser Vorschrift nicht als Steuerpflichtiger oder Steuerpflichtige im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie gelten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Mai 2008, Ampliscientifica und Amplifin, C-162/07, EU:C:2008:301, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Daraus folgt, dass die Verschmelzung zu einem einzigen Steuerpflichtigen gemäß Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie es ausschließt, dass die Mitglieder der Mehrwertsteuergruppe weiterhin getrennt Mehrwertsteuererklärungen abgeben und innerhalb und außerhalb ihrer Gruppe weiter als Steuerpflichtige angesehen werden, da nur der einzige Steuerpflichtige befugt ist, diese Erklärungen abzugeben. Diese Vorschrift setzt somit, wenn ein Mitgliedstaat von ihr Gebrauch macht, zwingend voraus, dass die nationale Umsetzungsregelung einen einzigen Steuerpflichtigen vorsieht und dass der Gruppe nur eine Mehrwertsteuernummer zugeteilt wird (Urteil vom 22. Mai 2008, Ampliscientifica und Amplifin, C-162/07, EU:C:2008:301, Rn. 19 und 20).
Folglich sind in einer solchen Situation die von einem Dritten zugunsten eines Mitglieds der Mehrwertsteuergruppe erbrachten Dienstleistungen für die Zwecke der Mehrwertsteuer nicht als zugunsten dieses Mitglieds, sondern vielmehr als zugunsten der Mehrwertsteuergruppe, der es angehört, erbracht anzusehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. November 2020, Kaplan International Colleges UK, C-77/19, EU:C:2020:934, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Was den Kontext von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie betrifft, geht weder aus dieser Vorschrift noch aus der durch diese Richtlinie eingeführten Regelung hervor, dass diese Vorschrift eine Ausnahme- oder Sondervorschrift darstellt, die restriktiv ausgelegt werden müsste. Wie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, darf die Voraussetzung des Vorliegens einer engen Verbindung durch finanzielle Beziehungen nicht restriktiv ausgelegt werden (vgl. entsprechend zu Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie Urteile vom 25. April 2013, Kommission/Schweden, C-480/10, EU:C:2013:263, Rn. 36, und vom 15. April 2021, Finanzamt für Körperschaften Berlin, C-868/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:285, Rn. 45).
Zu den mit Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie verfolgten Zielen ist zunächst darauf hinzuweisen, dass aus der Begründung des Kommissionsvorschlags (KOM[73] 950 endg.), der zum Erlass der Sechsten Richtlinie geführt hat, hervorgeht, dass der Unionsgesetzgeber es den Mitgliedstaaten durch den Erlass dieser Vorschrift ermöglichen wollte, die Eigenschaft des Steuerpflichtigen nicht systematisch an das Merkmal der „rein rechtlichen Selbständigkeit“ zu knüpfen, und zwar aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung oder zur Verhinderung bestimmter Missbräuche, wie z. B. der Aufspaltung eines Unternehmens zwischen mehreren Steuerpflichtigen, um in den Genuss einer Sonderregelung zu gelangen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. April 2013, Kommission/Schweden, C-480/10, EU:C:2013:263, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 15. April 2021, Finanzamt für Körperschaften Berlin, C-868/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:285, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Zwar enthielt die Sechste Richtlinie bis zum Inkrafttreten ihres durch die Richtlinie 2006/69/EG des Rates vom 24. Juli 2006 zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG hinsichtlich bestimmter Maßnahmen zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung oder -umgehung, zur Vereinfachung der Erhebung der Mehrwertsteuer sowie zur Aufhebung bestimmter Entscheidungen über die Genehmigung von Ausnahmeregelungen (ABl. 2006, L 221, S. 9) eingeführten Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 3 keine ausdrücklichen Bestimmungen, durch die den Mitgliedstaaten die Befugnis verliehen worden wäre, zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung oder -umgehung erforderliche Maßnahmen zu erlassen, doch war den Mitgliedstaaten dadurch nicht die Möglichkeit genommen, vor dem Inkrafttreten dieser Bestimmung solche Maßnahmen zu erlassen, da die Bekämpfung von Steuerhinterziehung und -umgehung durch die Mitgliedstaaten ein Ziel darstellt, das von der Sechsten Richtlinie anerkannt und gefördert wird, selbst wenn eine ausdrückliche Ermächtigung durch den Unionsgesetzgeber fehlt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2015, Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt, C-108/14 und C-109/14, EU:C:2015:496, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Daher konnten die Mitgliedstaaten bei der Anwendung von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie im Rahmen ihres Ermessens die Anwendung der Regelung über die Mehrwertsteuergruppe bestimmten Beschränkungen unterwerfen, sofern diese den Zielen der Richtlinie entsprechen, die auf die Verhinderung missbräuchlicher Praktiken oder Verhaltensweisen und die Bekämpfung von Steuerhinterziehung oder -umgehung abzielt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2015, Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt, C-108/14 und C-109/14, EU:C:2015:496, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts und der deutschen Regierung, dass der deutsche Gesetzgeber von der ihm mit Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie eingeräumten Befugnis durch § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG Gebrauch gemacht hat, der vorsieht, dass „Organschaften“ gebildet werden können.
Aus diesen Erläuterungen ergibt sich auch, dass nach deutschem Recht der Organträger einer Mehrwertsteuergruppe zwar als einziger Steuerpflichtiger dieser Gruppe im Sinne von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie angesehen wird, § 73 AO jedoch vorsieht, dass eine Organgesellschaft gegebenenfalls für solche Steuern der anderen Mitglieder der Gruppe, der sie angehört, einschließlich des Organträgers haftet, für die die Organschaft zwischen ihnen steuerlich von Bedeutung ist.
Was zunächst die Frage betrifft, ob Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie der deutschen Praxis entgegensteht, nicht die Mehrwertsteuergruppe selbst, sondern eines ihrer Mitglieder, nämlich ihren Organträger, zum einzigen Steuerpflichtigen zu bestimmen, ist zu präzisieren, dass der Gerichtshof in den Urteilen vom 22. Mai 2008, Ampliscientifica und Amplifin (C-162/07, EU:C:2008:301, Rn. 19 und 20), und vom 17. September 2014, Skandia America (USA), filial Sverige (C-7/13, EU:C:2014:2225, Rn. 34, 35 und 37), zwar im Wesentlichen entschieden hat, dass die Mehrwertsteuergruppe als Steuerpflichtige die Mehrwertsteuer schuldet, doch muss es, wenn mehrere rechtlich selbständige Mitglieder einer Mehrwertsteuergruppe zusammen einen einzigen Steuerpflichtigen bilden, einen einzigen Ansprechpartner geben, der die Pflichten der Mehrwertsteuergruppe gegenüber den Steuerbehörden wahrnimmt. Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie enthält jedoch weder eine Vorgabe zur Bestimmung des Mitglieds, das die Mehrwertsteuergruppe vertritt, noch zu der Form, in der dieses die steuerlichen Pflichten einer solchen Gruppe wahrnimmt.
Insoweit können die in Rn. 43 genannten Ziele es unabhängig von der Möglichkeit, eine Vertretung der Mehrwertsteuergruppe durch eines ihrer Mitglieder vorzusehen, rechtfertigen, dass der Organträger der Mehrwertsteuergruppe zum einzigen Steuerpflichtigen bestimmt wird, wenn dieser Organträger in der Lage ist, seinen Willen bei den anderen Mitgliedern dieser Gruppe durchzusetzen, und somit eine genaue Erhebung der Mehrwertsteuer ermöglicht wird.
Der Umstand, dass nicht die Mehrwertsteuergruppe selbst, sondern ihr Organträger, der sie vertritt, die Rolle des einzigen Steuerpflichtigen im Sinne von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie wahrnimmt, darf jedoch nicht zur Gefahr von Steuerverlusten führen.
Indessen ergibt sich aus den in Rn. 28 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Erläuterungen des vorlegenden Gerichts und den Erläuterungen der deutschen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen, dass insofern, als sich die Erklärungspflicht, der dieser Organträger unterliegt, auf die Leistungen erstreckt, die von allen Mitgliedern und an alle Mitglieder der Mehrwertsteuergruppe erbracht werden, und die sich daraus ergebende Steuerschuld sämtliche dieser Leistungen umfasst, das Ergebnis dasselbe ist, wie wenn diese Gruppe selbst Steuerpflichtige wäre.
Aus diesen Erläuterungen ergibt sich auch, dass, selbst wenn nach deutschem Recht sämtliche mehrwertsteuerlichen Pflichten auf dem Organträger als Vertreter der Mehrwertsteuergruppe vor den zuständigen Finanzbehörden lasten, sich diese gestützt auf § 73 AO gegebenenfalls an die anderen Mitglieder dieser Gruppe halten können.
Nach diesen Erwägungen ist Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, nicht die Mehrwertsteuergruppe selbst, sondern ein Mitglied dieser Gruppe, nämlich ihren Organträger, zum einzigen Steuerpflichtigen für Mehrwertsteuerzwecke zu bestimmen, wenn dieser Organträger in der Lage ist, seinen Willen bei den anderen Mitgliedern dieser Gruppe durchzusetzen, und unter der Voraussetzung, dass diese Bestimmung nicht zur Gefahr von Steuerverlusten führt.
Zur zweiten Frage
Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob im Fall einer Einheit, die die einzige Steuerpflichtige einer Mehrwertsteuergruppe ist und die zum einen wirtschaftliche Tätigkeiten ausübt, für die sie der Steuer unterliegt, und zum anderen Tätigkeiten im Rahmen der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben, für die sie gemäß Art. 4 Abs. 5 der Sechsten Richtlinie nicht als mehrwertsteuerpflichtig gilt, die Erbringung einer Dienstleistung im Zusammenhang mit dieser hoheitlichen Tätigkeit durch ein Mitglied dieser Gruppe als Dienstleistung aus dem Bereich der wirtschaftlichen Tätigkeit dieser einzigen Steuerpflichtigen für den Bereich ihrer hoheitlichen Tätigkeit anzusehen ist, die gemäß Art. 6 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie besteuert werden kann.
Eingangs ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 6 Abs. 2 Buchst. b der Sechsten Richtlinie die unentgeltliche Erbringung von Dienstleistungen durch den Steuerpflichtigen für seinen privaten Bedarf oder für den Bedarf seines Personals oder allgemein für unternehmensfremde Zwecke Dienstleistungen gegen Entgelt gleichgestellt wird.
Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass es Art. 6 Abs. 2 Buchst. b der Sechsten Richtlinie nicht zulässt, dass ein Steuerpflichtiger oder Angehörige seines Personals Dienstleistungen des Steuerpflichtigen, für die eine Privatperson Mehrwertsteuer hätte zahlen müssen, steuerfrei erhalten (Urteil vom 20. Januar 2005, Hotel Scandic Gåsabäck, C-412/03, EU:C:2005:47, Rn. 23).
Hingegen sollte mit Art. 6 Abs. 2 Buchst. b der Sechsten Richtlinie keine allgemeine Regel eingeführt werden, nach der Tätigkeiten, die nicht in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer fallen, als Tätigkeiten betrachtet werden können, die für „unternehmensfremde“ Zwecke im Sinne dieser Vorschrift ausgeführt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Februar 2009, Vereniging Noordelijke Land- en Tuinbouw Organisatie, C-515/07, EU:C:2009:88, Rn. 38).
Wird an einen einzigen Steuerpflichtigen einer Mehrwertsteuergruppe von einem Mitglied dieser Gruppe eine Dienstleistung erbracht, die für den Bereich der hoheitlichen Tätigkeit dieses Steuerpflichtigen bestimmt ist, käme folglich die Annahme, dass eine solche Dienstleistung gemäß Art. 6 Abs. 2 Buchst. b der Sechsten Richtlinie steuerbar ist, der Annahme gleich, dass diese Dienstleistung zu unternehmensfremden Zwecken erbracht wird, und führte somit dazu, die hoheitliche Tätigkeit, die gemäß Art. 4 Abs. 5 der Sechsten Richtlinie nicht in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer fällt, einer solchen Tätigkeit gleichzustellen.
Eine solche Auslegung nähme sowohl Art. 2 Nr. 1 als auch Art. 4 Abs. 5 der Sechsten Richtlinie ihren Sinn.
Außerdem betrifft Art. 6 Abs. 2 Buchst. b der Sechsten Richtlinie jedenfalls nur die „unentgeltlichen“ Umsätze, die für die Zwecke der Mehrwertsteuer entgeltlichen Umsätzen gleichgestellt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Januar 2005, Hotel Scandic Gåsabäck, C-412/03, EU:C:2005:47, Rn. 24).
Im vorliegenden Fall geht jedoch, wie in den Rn. 13 und 17 des vorliegenden Urteils ausgeführt und wie die Generalanwältin in Nr. 50 ihrer Schlussanträge ebenfalls festgestellt hat, aus dem Vorlagebeschluss klar hervor, dass die Organträgerin S für die von der U-GmbH erbrachten Reinigungsleistungen ein Entgelt gezahlt hat, und zwar sowohl im Bereich ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit als auch im Bereich ihrer hoheitlichen Tätigkeit.
Da die betreffenden Dienstleistungen im Sinne von Art. 2 der Sechsten Richtlinie gegen Entgelt erbracht werden, findet deren Art. 6 Abs. 2 Buchst. b somit keine Anwendung.
Nach diesen Erwägungen ist auf die zweite Frage zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass im Fall einer Einheit, die die einzige Steuerpflichtige einer Mehrwertsteuergruppe ist und die zum einen wirtschaftliche Tätigkeiten ausübt, für die sie der Steuer unterliegt, und zum anderen Tätigkeiten im Rahmen der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben, für die sie gemäß Art. 4 Abs. 5 der Sechsten Richtlinie nicht als mehrwertsteuerpflichtig gilt, die Erbringung einer Dienstleistung im Zusammenhang mit dieser hoheitlichen Tätigkeit durch ein Mitglied dieser Gruppe nicht gemäß Art. 6 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie besteuert werden darf.
Kosten
Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage
ist dahin auszulegen, dass
er es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, zum einzigen Steuerpflichtigen einer Gruppe von Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, den Organträger dieser Gruppe zu bestimmen, wenn dieser in der Lage ist, seinen Willen bei den anderen Mitgliedern dieser Gruppe durchzusetzen, und unter der Voraussetzung, dass diese Bestimmung nicht zur Gefahr von Steuerverlusten führt.
Das Unionsrecht
ist dahin auszulegen, dass
im Fall einer Einheit, die die einzige Steuerpflichtige einer Gruppe von Personen ist, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, und die zum einen wirtschaftliche Tätigkeiten ausübt, für die sie der Steuer unterliegt, und zum anderen Tätigkeiten im Rahmen der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben, für die sie gemäß Art. 4 Abs. 5 der Sechsten Richtlinie nicht als mehrwertsteuerpflichtig gilt, die Erbringung einer Dienstleistung im Zusammenhang mit dieser hoheitlichen Tätigkeit durch ein Mitglied dieser Gruppe nicht gemäß Art. 6 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie besteuert werden darf.
Arabadjiev
Xuereb
von Danwitz
Kumin
Ziemele
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 1. Dezember 2022.
Der Kanzler
A. Calot Escobar
Der Kammerpräsident
A. Arabadjiev
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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