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EuGH 14.04.2021 - C-108/20
EuGH 14.04.2021 - C-108/20 - BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer) - 14. April 2021 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Steuerrecht – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 167 und 168 – Recht auf Vorsteuerabzug – Versagung – Steuerhinterziehung – Lieferkette – Versagung des Vorsteuerabzugs, wenn der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteiligt, der in eine Umsatzsteuerhinterziehung einbezogen war“
Leitsatz
In der Rechtssache C-108/20
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Finanzgericht Berlin-Brandenburg (Deutschland) mit Entscheidung vom 5. Februar 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Februar 2020, in dem Verfahren
HR
gegen
Finanzamt Wilmersdorf
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič sowie der Richter E. Juhász und I. Jarukaitis (Berichterstatter),
Generalanwalt: E. Tanchev,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
von HR, vertreten durch Rechtsanwalt M. Wulf,
der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und S. Eisenberg als Bevollmächtigte,
der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und O. Serdula als Bevollmächtigte,
der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Jokubauskaitė und L. Mantl als Bevollmächtigte,
aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,
folgenden
Entscheidungsgründe
Beschluss
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 167 und 168 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1).
Das Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen HR und dem Finanzamt Wilmersdorf (Deutschland) (im Folgenden: Finanzverwaltung) wegen der Versagung des Vorsteuerabzugs für den Erwerb von Getränken in den Steuerjahren 2009 und 2010.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Art. 167 der Richtlinie 2006/112 in Titel X („Vorsteuerabzug“) Kapitel 1 („Entstehung und Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug“) bestimmt:
„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.“
Im selben Kapitel sieht Art. 168 dieser Richtlinie vor:
„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;
...“
Art. 273 Abs. 1 der Richtlinie lautet:
„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.“
Deutsches Recht
§ 15 des Umsatzsteuergesetzes (BGBl. I 2005 S. 386) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung bestimmt in seinem Abs. 1:
„Der Unternehmer kann die folgenden Vorsteuerbeträge abziehen:
die gesetzlich geschuldete Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen, die von einem anderen Unternehmer für sein Unternehmen ausgeführt worden sind. Die Ausübung des Vorsteuerabzugs setzt voraus, dass der Unternehmer eine nach den §§ 14, 14a ausgestellte Rechnung besitzt. …
…“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
In den Jahren 2009 und 2010 betrieb HR – unter Mitarbeit ihres Ehemanns – einen Getränkegroßhandel. In ihren Umsatzsteuererklärungen für diese Steuerjahre machte sie Vorsteuern aus Rechnungen der P GmbH in Höhe von 993164 Euro für das Jahr 2009 und 108417,87 Euro für das Jahr 2010 geltend, die tatsächlich erbrachte Getränkelieferungen betrafen.
Aus zwei mittlerweile rechtskräftigen strafrechtlichen Urteilen geht hervor, dass P die an HR gelieferten Getränke unter Begehung mehrerer Umsatzsteuerhinterziehungen bezogen hat. Nach den strafgerichtlichen Feststellungen wurde P durch den Ehemann von HR in großem Umfang mit Spirituosen, Kaffee und Red Bull beliefert. Der Gesamtumsatz betrug rund 80 Mio. Euro, ohne dass für diese Lieferungen Rechnungen ausgestellt wurden. Ein Mitarbeiter von P stellte Scheinrechnungen über den Einkauf dieser Waren aus. Auf der Grundlage dieser Rechnungen machte P sodann zu Unrecht den Vorsteuerabzug geltend. Der Ehemann von HR stellte P auch Preislisten und potenzielle Abnehmer für diese Waren zur Verfügung. Die Waren wurden an verschiedene Abnehmer, u. a. an HR, weiterveräußert.
Nach der Aufdeckung dieses Sachverhalts versagte die Finanzverwaltung nicht nur P den Vorsteuerabzug, sondern auch HR, die nach Auffassung der Finanzverwaltung mit ihrem Unternehmen Teil der Lieferkette gewesen sei, in der die Umsatzsteuerhinterziehungen begangen worden seien.
Mit ihrer beim vorlegenden Gericht, dem Finanzgericht Berlin-Brandenburg (Deutschland), erhobenen Klage macht HR geltend, dass bei ihr die gesetzlichen Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs vorlägen.
Die Finanzverwaltung ist demgegenüber der Auffassung, dass HR aufgrund der Beteiligung ihres Ehemanns sowie des ungewöhnlichen Geschäftsgebarens hätte erkennen müssen, dass sie mit ihrem Unternehmen Teil einer Lieferkette gewesen sei, in der Umsatzsteuerhinterziehungen begangen worden seien.
Das vorlegende Gericht hat Zweifel, wie der Begriff „Lieferkette“ unter Beachtung der unionsrechtlichen Vorgaben auszulegen ist und ob die Umsatzbeziehungen im Ausgangsverfahren hierunter subsumiert werden können, da weder HR mit der Geltendmachung des Vorsteuerabzugs aus den Getränkelieferungen von P noch P als Lieferer der Waren mit den fraglichen Umsätzen eine Umsatzsteuerhinterziehung begangen hätten.
Denkbar sei, einem Steuerpflichtigen, der von einer Steuerhinterziehung, die auf einer vorhergehenden Umsatzstufe stattgefunden habe, wusste oder hätte wissen müssen, allein aufgrund dieser Tatsache den Vorsteuerabzug zu versagen. Der Begriff „Lieferkette“ werde dann in dem Sinne verstanden, dass es genüge, wenn über denselben Liefergegenstand mehrere aufeinanderfolgende Umsatzgeschäfte vollzogen würden, und die Verknüpfung mit der Steuerhinterziehung bestünde allein aufgrund der Tatsache, dass derselbe Liefergegenstand betroffen sei, ohne dass der Steuerpflichtige die Steuerhinterziehung durch den streitigen Umsatz begünstigt oder gefördert haben müsse.
Das vorlegende Gericht tendiert jedoch dahin, dass eine solche Auslegung des Begriffs „Lieferkette“ unter Berücksichtigung der Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit zu weitgehend wäre. Der Rechtsprechung des Gerichtshofs sei zu entnehmen, dass eine Versagung des Vorsteuerabzugs bei Steuerhinterziehungen nur dann in Betracht komme, wenn sich gerade aus der besonderen Kombination von mehreren aufeinander folgenden Umsätzen der betrügerische Charakter dieser Umsätze in ihrer Gesamtheit ergebe, wie etwa, wenn die aufeinander folgenden Lieferungen Teil eines Gesamtplans seien, mit dem bezweckt werde, die Nachverfolgbarkeit der gelieferten Gegenstände und damit zugleich die Aufdeckung der in der Lieferkette verübten Steuerhinterziehungen zu erschweren. Eine solche Beurteilung könne durch die Rechtsprechung gestützt sein, nach der die Versagung des Abzugs eine „Beteiligung“, „Einbeziehung“ oder „Verknüpfung“ des Steuerpflichtigen voraussetze. Für die Annahme einer Beteiligung an der Steuerhinterziehung oder einer Einbeziehung in diese bzw. eine Verknüpfung mit dieser könne nicht genügen, dass der Steuerpflichtige von der Steuerhinterziehung lediglich gewusst habe oder hätte wissen müssen, denn eine Beteiligung, Einbeziehung oder Verknüpfung setze einen eigenen Beitrag zur Steuerhinterziehung, mindestens im Sinne eines Begünstigens oder Förderns voraus. Die Bösgläubigkeit als rein subjektiver Umstand könne die für eine Beteiligung, Einbeziehung oder Verknüpfung erforderliche aktive Teilnahme nicht ersetzen.
In einem Fall wie dem der beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtssache, in dem keine Verschleierung von Lieferbeziehungen oder Lieferern vorliege, in dem die auf einer vorhergehenden Umsatzstufe begangene Steuerhinterziehung vollständig abgeschlossen sei und somit nicht mehr gefördert oder begünstigt werden könne und in dem ein Gesamtplan fehle, wonach diese Lieferungen Teil einer über mehrere Umsätze erstreckten Steuerhinterziehung sein sollten, dürfe der Vorsteuerabzug nicht versagt werden. Unter diesen Umständen könne der Umsatz zwischen P und HR als Folge der Lieferbeziehung angesehen werden, die unabhängig von dem in die vorausgehende Steuerhinterziehung einbezogenen Umsatz zu beurteilen sei, so dass die Lieferkette bei P geendet habe. Unerheblich sei, ob P die Liste der Abnehmer und der Waren durch den Ehemann von HR vorgegeben worden sei, da dies nichts an dem Umstand ändere, dass die Lieferungen von P an HR keinen Einfluss auf die zuvor von P begangene Steuerhinterziehung hätten. Darüber hinaus sei durch die fraglichen Umsätze kein Umsatzsteuerschaden entstanden, da P die in Rechnung gestellte Umsatzsteuer habe abführen müssen und durch diese Umsätze daher kein Steuervorteil entstanden sei, der den Zielen der Richtlinie 2006/112 zuwiderlaufen könnte.
Unter diesen Umständen würde nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ein Fortwirken der Folgen einer auf einer vorhergehenden Umsatzstufe begangenen Steuerhinterziehung für sämtliche nachfolgenden Umsätze, wenn der Steuerpflichtige von der Steuerhinterziehung lediglich gewusst habe oder hätte wissen müssen, eine unverhältnismäßige Einschränkung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität darstellen, da zu beachten sei, dass die Versagung des Vorsteuerabzugs keinen Sanktionscharakter annehmen dürfe. Für diese Rechtsauffassung könne außerdem sprechen, dass es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs für das Recht des Steuerpflichtigen auf Vorsteuerabzug grundsätzlich unerheblich sei, ob die für die vorausgegangenen oder nachfolgenden Verkäufe der betreffenden Gegenstände geschuldete Mehrwertsteuer tatsächlich an den Fiskus entrichtet worden sei. In diesem Zusammenhang habe der Gerichtshof stets betont, dass die Maßnahmen, die von den Mitgliedstaaten nach Art. 273 der Richtlinie 2006/112 erlassen werden könnten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu verhindern, nicht über das zur Erreichung dieser Ziele Erforderliche hinausgehen dürften. Eine extensive Auslegung des Begriffs „Lieferkette“ sei aber zur Erreichung dieser Ziele wohl kaum geeignet. Schließlich könne eine Versagung des Vorsteuerabzugs unter diesen Umständen auch unzutreffend sein, weil nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs umsatzsteuerlich nicht zwischen erlaubten und unerlaubten Umsätzen zu differenzieren sei.
Unter diesen Umständen hat das Finanzgericht Berlin-Brandenburg das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Sind die Art. 167 und 168 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 dahin gehend auszulegen, dass sie einer nationalen Rechtsanwendung entgegenstehen, nach der ein Vorsteuerabzug auch dann zu versagen ist, wenn auf einer vorhergehenden Umsatzstufe eine Umsatzsteuerhinterziehung begangen wurde und der Steuerpflichtige hiervon Kenntnis hatte oder hätte haben müssen, er mit dem an ihn erbrachten Umsatz aber weder an der Steuerhinterziehung beteiligt noch in diese einbezogen war und die begangene Steuerhinterziehung auch nicht gefördert oder begünstigt hat?
Zur Vorlagefrage
Nach Art. 99 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof u. a. dann, wenn die Antwort auf eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder wenn die Beantwortung einer solchen Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt, auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden.
Diese Bestimmung ist in der vorliegenden Rechtssache anzuwenden.
Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Praxis entgegensteht, nach der einem Steuerpflichtigen, der Waren erworben hat, die Gegenstand einer auf einer vorhergehenden Umsatzstufe der Lieferkette begangenen Umsatzsteuerhinterziehung waren, und der davon wusste oder hätte wissen müssen, das Recht auf Vorsteuerabzug versagt wird, obwohl er an dieser Steuerhinterziehung nicht aktiv beteiligt war.
Der Gerichtshof hat wiederholt darauf hingewiesen, dass die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ein Ziel ist, das von der Richtlinie 2006/112 anerkannt und gefördert wird. Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht nicht erlaubt ist und die nationalen Behörden und Gerichte daher das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen haben, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Juli 2006, Kittel und Recolta Recycling, C-439/04 und C-440/04, EU:C:2006:446, Rn. 54 und 55, sowie vom 16. Oktober 2019, Glencore Agriculture Hungary, C-189/18, EU:C:2019:861, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Der Gerichtshof hat auch mehrfach festgestellt, dass das Recht auf Vorsteuerabzug nicht nur zu versagen ist, wenn der Steuerpflichtige selbst eine Hinterziehung begeht, sondern auch, wenn feststeht, dass der Steuerpflichtige, dem die Gegenstände geliefert oder die Dienstleistungen erbracht wurden, die als Grundlage für die Begründung des Rechts auf Vorsteuerabzug dienen, wusste oder hätte wissen müssen, dass er mit seinem Erwerb an einem Umsatz teilnahm, der in eine Umsatzsteuerhinterziehung einbezogen war (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Juli 2006, Kittel und Recolta Recycling, C-439/04 und C-440/04, EU:C:2006:446, Rn. 59, vom 21. Juni 2012, Mahagében und Dávid, C-80/11 und C-142/11, EU:C:2012:373, Rn. 45, sowie vom 16. Oktober 2019, Glencore Agriculture Hungary, C-189/18, EU:C:2019:861, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Insoweit wurde angenommen, dass ein solcher Steuerpflichtiger für die Zwecke der Richtlinie 2006/112 als an der Hinterziehung Beteiligter anzusehen ist, und zwar unabhängig davon, ob er im Rahmen seiner besteuerten Ausgangsumsätze aus dem Weiterverkauf der Gegenstände oder der Verwendung der Dienstleistungen einen Gewinn erzielt, so dass der Steuerpflichtige in einer solchen Situation den Urhebern der Hinterziehung zur Hand geht und sich einer solchen mitschuldig macht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Juli 2006, Kittel und Recolta Recycling, C-439/04 und C-440/04, EU:C:2006:446, Rn. 56 und 57, vom 21. Juni 2012, Mahagében und Dávid, C-80/11 und C-142/11, EU:C:2012:373, Rn. 46, vom 6. Dezember 2012, Bonik, C-285/11, EU:C:2012:774, Rn. 39, vom 13. Februar 2014, Maks Pen, C-18/13, EU:C:2014:69, Rn. 27, und vom 22. Oktober 2015, PPUH Stehcemp, C-277/14, EU:C:2015:719, Rn. 48).
Ebenso hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass in Fällen, in denen die materiellen Voraussetzungen für das Recht auf Vorsteuerabzug erfüllt sind, einem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug nur dann versagt werden kann, wenn aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass dieser Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit dem Erwerb dieser Gegenstände oder der Inanspruchnahme dieser Dienstleistungen, die als Grundlage für die Begründung des Rechts auf Vorsteuerabzug dienen, an einem Umsatz beteiligt hat, der in eine solche vom Lieferer bzw. Leistenden oder von einem anderen Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden oder nachfolgenden Umsatzstufe der Liefer- oder Leistungskette begangene Steuerhinterziehung einbezogen war (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Dezember 2012, Bonik, C-285/11, EU:C:2012:774, Rn. 40, und vom 13. Februar 2014, Maks Pen, C-18/13, EU:C:2014:69, Rn. 28, sowie Beschluss vom 3. September 2020, Vikingo Fővállalkozó, C-610/19, EU:C:2020:673, Rn. 53).
Der Gerichtshof hat insoweit nämlich entschieden, dass es mit der Vorsteuerabzugsregelung der Richtlinie 2006/112 nicht vereinbar ist, einen Steuerpflichtigen, der weder wusste noch wissen konnte, dass der betreffende Umsatz in eine vom Lieferer begangene Steuerhinterziehung einbezogen war oder dass in der Lieferkette bei einem anderen Umsatz, der dem vom Steuerpflichtigen getätigten Umsatz vorausging oder nachfolgte, Umsatzsteuer hinterzogen wurde, durch die Versagung dieses Rechts mit einer Sanktion zu belegen, da die Einführung eines Systems der verschuldensunabhängigen Haftung über das hinausginge, was erforderlich ist, um die Ansprüche des Fiskus zu schützen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Juni 2012, Mahagében und Dávid, C-80/11 und C-142/11, EU:C:2012:373, Rn. 47 und 48, und vom 6. Dezember 2012, Bonik, C-285/11, EU:C:2012:774, Rn. 41 und 42, sowie Beschluss vom 3. September 2020, Vikingo Fővállalkozó, C-610/19, EU:C:2020:673, Rn. 52).
Anders als das vorlegende Gericht in seiner Auslegung der Rechtsprechung des Gerichtshofs meint, geht aus der in den Rn. 21 bis 25 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung klar hervor, dass erstens allein die Tatsache, dass der Steuerpflichtige Gegenstände oder Dienstleistungen erworben hat, obwohl er in irgendeiner Weise wusste, dass er mit diesem Erwerb an einem Umsatz teilnahm, der in eine auf einer vorhergehenden Umsatzstufe der Liefer- oder Leistungskette begangene Umsatzsteuerhinterziehung einbezogen war, für die Zwecke der Richtlinie 2006/112 als Beteiligung an dieser Steuerhinterziehung gilt. Wie die deutsche Regierung geltend macht, besteht die einzige für die Versagung eines Abzugsrechts in einer solchen Situation entscheidende aktive Handlung in dem Erwerb dieser Gegenstände oder Dienstleistungen. Somit bedarf es, um eine solche Versagung zu begründen, keines Nachweises dafür, dass dieser Steuerpflichtige in irgendeiner Form aktiv an der Steuerhinterziehung beteiligt gewesen ist, und sei es nur, indem er diese aktiv gefördert oder begünstigt hat. Ebenso wenig kommt es darauf an, dass er seine Lieferbeziehungen und Lieferer nicht verschleiert hat.
Dies gilt umso mehr, als nach dieser Rechtsprechung auch demjenigen Steuerpflichtigen das Recht auf Abzug versagt wird, der hätte wissen müssen, dass er mit seinem Erwerb an einem Umsatz teilnimmt, der auf einer vorhergehenden Umsatzstufe der Liefer- oder Leistungskette in eine Umsatzsteuerhinterziehung einbezogen war. In einer solchen Situation ist es die Missachtung bestimmter Sorgfaltspflichten, die dazu führt, dass das Recht auf Vorsteuerabzug versagt wird.
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits mehrfach festgestellt hat, dass es nicht gegen das Unionsrecht verstößt, wenn von einem Wirtschaftsteilnehmer gefordert wird, dass er alle Maßnahmen ergreift, die vernünftigerweise verlangt werden können, um sicherzustellen, dass der von ihm getätigte Umsatz nicht zu seiner Beteiligung an einer Steuerhinterziehung führt, wobei es wesentlich von den jeweiligen Umständen abhängt, welche Maßnahmen im konkreten Fall vernünftigerweise von einem Steuerpflichtigen, der sein Recht auf Vorsteuerabzug ausüben möchte, verlangt werden können, um sicherzustellen, dass dessen Umsätze nicht in einen von einem Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden Umsatzstufe begangenen Steuerhinterziehung einbezogen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Juni 2012, Mahagében und Dávid, C-80/11 und C-142/11, EU:C:2012:373, Rn. 54 und 59, sowie vom 19. Oktober 2017, Paper Consult, C-101/16, EU:C:2017:775, Rn. 52).
Der Gerichtshof hat ausgeführt, dass ein verständiger Wirtschaftsteilnehmer, wenn Anhaltspunkte für Unregelmäßigkeiten oder Steuerhinterziehung vorliegen, nach den Umständen des konkreten Falls verpflichtet sein kann, über einen anderen Wirtschaftsteilnehmer, von dem er Gegenstände oder Dienstleistungen zu erwerben beabsichtigt, Auskünfte einzuholen, um sich von dessen Zuverlässigkeit zu überzeugen (Urteil vom 21. Juni 2012, Mahagében und Dávid, C-80/11 und C-142/11, EU:C:2012:373, Rn. 60, sowie Beschlüsse vom 16. Mai 2013, Hardimpex, C-444/12, nicht veröffentlicht, EU:C:2013:318, Rn. 25, und vom 3. September 2020, Vikingo Fővállalkozó, C-610/19, EU:C:2020:673, Rn. 55).
Soweit das vorlegende Gericht ausführt, dass die Bösgläubigkeit des Steuerpflichtigen kein Kriterium sei, das die aktive Teilnahme dieses Steuerpflichtigen ersetzen könne, ist außerdem darauf hinzuweisen, dass es nicht gegen das Unionsrecht verstößt, von einem Wirtschaftsteilnehmer zu fordern, dass er in gutem Glauben handelt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. März 2019, Vinš, C-275/18, EU:C:2019:265, Rn. 33, und vom 17. Oktober 2019, Unitel, C-653/18, EU:C:2019:876, Rn. 33).
Allerdings muss die Bösgläubigkeit des Steuerpflichtigen nicht erwiesen sein, um ihm das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen, da nach der in den Rn. 21 bis 25 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung und den vorstehenden Gründen die Tatsache, dass der Steuerpflichtige Gegenstände oder Dienstleistungen erworben hat, obwohl er aufgrund von Maßnahmen, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden konnten, um sicherzustellen, dass er sich durch diesen Umsatz nicht an einer Steuerhinterziehung beteiligte, wusste oder hätte wissen müssen, dass er mit diesem Erwerb an einem Umsatz teilnahm, der in eine Steuerhinterziehung einbezogen war, ausreicht, um für die Zwecke der Richtlinie 2006/112 anzunehmen, dass der Steuerpflichtige sich an dieser Steuerhinterziehung beteiligt hat, und um ihm das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen.
Zweitens kann nicht der Auslegung gefolgt werden, wonach zum einen der Begriff „Lieferkette“ dahin zu verstehen ist, dass er sich nur auf die Fälle bezieht, in denen die Steuerhinterziehung auf eine besondere Kombination aufeinanderfolgender Umsätze oder auf einen Gesamtplan zurückgeht, nach dem diese Lieferungen Teil einer über mehrere Umsätze erstreckten Steuerhinterziehung sein sollen, und zum anderen der vom Steuerpflichtigen bewirkte Umsatz und der auf der vorhergehenden Umsatzstufe bewirkte und in eine Umsatzsteuerhinterziehung einbezogene Umsatz in allen anderen Fällen als unabhängige Umsätze anzusehen sind, insbesondere wenn die Begehung der Steuerhinterziehung zum Zeitpunkt des ersten Umsatzes vollendet war, so dass diese nicht mehr begünstigt oder gefördert werden konnte.
Durch eine solche Auslegung würden nämlich zusätzliche Voraussetzungen für die Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug bei Steuerhinterziehungen geschaffen, die sich nicht aus der in den Rn. 21 bis 25 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung ergeben. Die Tatsache, dass der Steuerpflichtige Gegenstände oder Dienstleistungen erworben hat, obwohl er wusste oder hätte wissen müssen, dass er mit dem Erwerb dieser Gegenstände oder Dienstleistungen an einem Umsatz teilnahm, der in eine auf einer vorhergehenden Umsatzstufe begangene Steuerhinterziehung einbezogen war, ist – wie in Rn. 31 des vorliegenden Beschlusses ausgeführt – ausreichend, um eine Beteiligung des Steuerpflichtigen an dieser Steuerhinterziehung anzunehmen und um ihm das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen.
Zudem lässt eine solche Auslegung außer Acht, dass eine auf einer vorhergehenden Umsatzstufe der Liefer- oder Leistungskette begangene Steuerhinterziehung sich auf die nachfolgenden Stufen dieser Kette auswirkt, wenn der Betrag der erhobenen Mehrwertsteuer aufgrund des infolge der nicht erhobenen Vorsteuer geringeren Preises der Gegenstände oder Dienstleistungen nicht dem geschuldeten Betrag entspricht. Wie der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens veranschaulicht, wird jedenfalls dadurch, dass der Steuerpflichtige Waren, die Gegenstand eines in eine Umsatzsteuerhinterziehung einbezogenen vorhergehenden Umsatzes waren, deren Absatz ermöglicht, was wiederum – worauf die tschechische Regierung hinweist – die Steuerhinterziehung begünstigt.
Drittens ist es für die Beurteilung der Frage, ob der Steuerpflichtige sich an einer Steuerhinterziehung beteiligt hat, irrelevant, ob er durch diesen Umsatz einen Steuervorteil erlangt hat. Anders als bei den Entscheidungen zu missbräuchlichen Praktiken (Urteile vom 21. Februar 2006, Halifax u. a., C-255/02, EU:C:2006:121, Rn. 74 und 75, vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses, C-419/14, EU:C:2015:832, Rn. 36, sowie vom 10. Juli 2019, Kuršu zeme, C-273/18, EU:C:2019:588, Rn. 35) hängt die Feststellung der Beteiligung des Steuerpflichtigen an einer Umsatzsteuerhinterziehung nicht davon ab, dass er durch diesen Umsatz einen Steuervorteil erlangt hat, dessen Gewährung dem mit der Richtlinie 2006/112 verfolgten Ziel zuwiderläuft. Wie in den Rn. 23 und 34 des vorliegenden Beschlusses ausgeführt, ist es ebenso unerheblich, dass der Umsatz dem Steuerpflichtigen keinen wirtschaftlichen Vorteil verschafft hat.
Schließlich ergibt sich aus den Erwägungen in den Rn. 23 und 25 des vorliegenden Beschlusses, wonach zum einen die Einführung eines Systems der verschuldensunabhängigen Haftung über das hinausginge, was zum Schutz der Ansprüche des Fiskus erforderlich ist, und zum anderen der Steuerpflichtige, der wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich durch seinen Erwerb an einem Umsatz beteiligt hat, der in eine Steuerhinterziehung einbezogen war, den Urhebern der Steuerhinterziehung zur Hand geht und sich einer solchen mitschuldig macht, dass es sich bei einer solchen Beteiligung um eine Pflichtverletzung handelt, für die der Steuerpflichtige verantwortlich ist.
Durch diese Auslegung kann betrügerischen Umsätzen entgegengewirkt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Juli 2006, Kittel und Recolta Recycling, C-439/04 und C-440/04, EU:C:2006:446, Rn. 58), indem sie u. a. den Waren und Dienstleistungen, die Gegenstand eines in eine Steuerhinterziehung einbezogenen Umsatzes waren, den Absatzmarkt nimmt und somit zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung beiträgt; diese stellt, wie in Rn. 21 des vorliegenden Beschlusses ausgeführt, ein von der Richtlinie 2006/112 anerkanntes und gefördertes Ziel dar. Der Gerichtshof ist, da er in ständiger Rechtsprechung entschieden hat, dass das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen ist, wenn der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Erwerb an einem in eine Steuerhinterziehung einbezogenen Umsatz beteiligt hat, denknotwendig davon ausgegangen, dass eine unter diesen Voraussetzungen ausgesprochene Versagung nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist. So hat er zwangsläufig auch entschieden, dass eine solche Versagung nicht als ein Verstoß gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität angesehen werden kann, auf den sich im Übrigen ein Steuerpflichtiger, der sich an einer Steuerhinterziehung beteiligt hat, für die Zwecke des Vorsteuerabzugs nicht berufen kann (vgl. entsprechend Urteile vom 28. März 2019, Vinš, C-275/18, EU:C:2019:265, Rn. 33, und vom 17. Oktober 2019, Unitel, C-653/18, EU:C:2019:876, Rn. 33).
Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Praxis nicht entgegensteht, nach der einem Steuerpflichtigen, der Waren erworben hat, die Gegenstand einer auf einer vorhergehenden Umsatzstufe der Lieferkette begangenen Umsatzsteuerhinterziehung waren, und der davon wusste oder hätte wissen müssen, das Recht auf Vorsteuerabzug versagt wird, obwohl er an dieser Steuerhinterziehung nicht aktiv beteiligt war.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:
Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Praxis nicht entgegensteht, nach der einem Steuerpflichtigen, der Waren erworben hat, die Gegenstand einer auf einer vorhergehenden Umsatzstufe der Lieferkette begangenen Umsatzsteuerhinterziehung waren, und der davon wusste oder hätte wissen müssen, das Recht auf Vorsteuerabzug versagt wird, obwohl er an dieser Steuerhinterziehung nicht aktiv beteiligt war.
Luxemburg, den 14. April 2021
Der Kanzler
A. Calot Escobar
Der Präsident der Zehnten Kammer
M. Ilešič
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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