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EuGH 10.12.2020 - C-620/19
EuGH 10.12.2020 - C-620/19 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer) - 10. Dezember 2020 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Personenbezogene Daten – Verordnung (EU) 2016/679 – Art. 23 – Beschränkung der Rechte der betroffenen Person – Wichtiges finanzielles Interesse – Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche – Nationale Vorschriften, die auf Bestimmungen des Unionsrechts verweisen – Steuerliche Daten betreffend eine juristische Person – Unzuständigkeit des Gerichtshofs“
Leitsatz
In der Rechtssache C-620/19
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 4. Juli 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 20. August 2019, in dem Verfahren
Land Nordrhein-Westfalen
gegen
D.-H. T., handelnd als Insolvenzverwalter über das Vermögen der J & S Service UG,
Beteiligter:
Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, des Richters L. Bay Larsen, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) sowie der Richter M. Safjan und N. Jääskinen,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
des Landes Nordrhein-Westfalen, vertreten durch die Rechtsanwälte M. Kottmann und C. Mensching,
der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und D. Klebs als Bevollmächtigte,
der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, O. Serdula und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch H. Kranenborg, D. Nardi und K. Kaiser, dann durch H. Kranenborg, D. Nardi und F. Erlbacher als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 3. September 2020
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 23 Abs. 1 Buchst. e und j der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. 2016, L 119, S. 1, im Folgenden: DSGVO).
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Land Nordrhein-Westfalen und D.-H. T., handelnd als Insolvenzverwalter über das Vermögen der J & S Service UG, wegen eines Antrags auf Auskunft über steuerliche Daten betreffend diese Gesellschaft.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
In den Erwägungsgründen 2, 4, 14 und 73 der DSGVO heißt es:
Die Grundsätze und Vorschriften zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten sollten gewährleisten, dass ihre Grundrechte und Grundfreiheiten und insbesondere ihr Recht auf Schutz personenbezogener Daten ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit oder ihres Aufenthaltsorts gewahrt bleiben. …
…
Die Verarbeitung personenbezogener Daten sollte im Dienste der Menschheit stehen. Das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten ist kein uneingeschränktes Recht; es muss im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen und unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gegen andere Grundrechte abgewogen werden. Diese Verordnung steht im Einklang mit allen Grundrechten und achtet alle Freiheiten und Grundsätze, die mit der [Charta der Grundrechte der Europäischen Union] anerkannt wurden und in den Europäischen Verträgen verankert sind, insbesondere Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und der Kommunikation, Schutz personenbezogener Daten, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit, unternehmerische Freiheit, Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein faires Verfahren und Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen.
…
… Diese Verordnung gilt nicht für die Verarbeitung personenbezogener Daten juristischer Personen und insbesondere als juristische Person gegründeter Unternehmen, einschließlich Name, Rechtsform oder Kontaktdaten der juristischen Person.
…
Im Recht der Union oder der Mitgliedstaaten können Beschränkungen hinsichtlich bestimmter Grundsätze und hinsichtlich des Rechts auf Unterrichtung, Auskunft zu und Berichtigung oder Löschung personenbezogener Daten, des Rechts auf Datenübertragbarkeit und Widerspruch, Entscheidungen, die auf der Erstellung von Profilen beruhen, sowie Mitteilungen über eine Verletzung des Schutzes personenbezogener Daten an eine betroffene Person und bestimmten damit zusammenhängenden Pflichten der Verantwortlichen vorgesehen werden, soweit dies in einer demokratischen Gesellschaft notwendig und verhältnismäßig ist, um die öffentliche Sicherheit aufrechtzuerhalten, wozu unter anderem der Schutz von Menschenleben insbesondere bei Naturkatastrophen oder vom Menschen verursachten Katastrophen, die Verhütung, Aufdeckung und Verfolgung von Straftaten oder die Strafvollstreckung – was auch den Schutz vor und die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit einschließt – oder die Verhütung, Aufdeckung und Verfolgung von Verstößen gegen Berufsstandsregeln bei reglementierten Berufen, das Führen öffentlicher Register aus Gründen des allgemeinen öffentlichen Interesses sowie die Weiterverarbeitung von archivierten personenbezogenen Daten zur Bereitstellung spezifischer Informationen im Zusammenhang mit dem politischen Verhalten unter ehemaligen totalitären Regimen gehört, und zum Schutz sonstiger wichtiger Ziele des allgemeinen öffentlichen Interesses der Union oder eines Mitgliedstaats, etwa wichtige wirtschaftliche oder finanzielle Interessen, oder die betroffene Person und die Rechte und Freiheiten anderer Personen, einschließlich in den Bereichen soziale Sicherheit, öffentliche Gesundheit und humanitäre Hilfe, zu schützen. Diese Beschränkungen sollten mit der [Charta der Grundrechte] und mit der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Einklang stehen.“
Art. 1 („Gegenstand und Ziele“) der DSGVO lautet:
„(1) Diese Verordnung enthält Vorschriften zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Verkehr solcher Daten.
(2) Diese Verordnung schützt die Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen und insbesondere deren Recht auf Schutz personenbezogener Daten.
(3) Der freie Verkehr personenbezogener Daten in der Union darf aus Gründen des Schutzes natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten weder eingeschränkt noch verboten werden.“
Art. 4 („Begriffsbestimmungen“) der DSGVO bestimmt in seiner Nr. 1, dass der Ausdruck „personenbezogene Daten“ zu verstehen ist als „alle Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person (im Folgenden ‚betroffene Person‘) beziehen; als identifizierbar wird eine natürliche Person angesehen, die direkt oder indirekt, insbesondere mittels Zuordnung zu einer Kennung wie einem Namen, zu einer Kennnummer, zu Standortdaten, zu einer Online-Kennung oder zu einem oder mehreren besonderen Merkmalen, die Ausdruck der physischen, physiologischen, genetischen, psychischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder sozialen Identität dieser natürlichen Person sind, identifiziert werden kann“.
Nach Art. 15 („Auskunftsrecht der betroffenen Person“) Abs. 1 der DSGVO hat die betroffene Person das Recht, von dem Verantwortlichen eine Bestätigung darüber zu verlangen, ob sie betreffende personenbezogene Daten verarbeitet werden; ist dies der Fall, so hat sie ein Recht auf Auskunft über diese personenbezogenen Daten und auf bestimmte in diesem Artikel aufgeführte Informationen.
Art. 23 („Beschränkungen“) der DSGVO bestimmt in seinem Abs. 1:
„Durch Rechtsvorschriften der Union oder der Mitgliedstaaten, denen der Verantwortliche oder der Auftragsverarbeiter unterliegt, können die Pflichten und Rechte gemäß den Artikeln 12 bis 22 und Artikel 34 sowie Artikel 5, insofern dessen Bestimmungen den in den Artikeln 12 bis 22 vorgesehenen Rechten und Pflichten entsprechen, im Wege von Gesetzgebungsmaßnahmen beschränkt werden, sofern eine solche Beschränkung den Wesensgehalt der Grundrechte und Grundfreiheiten achtet und in einer demokratischen Gesellschaft eine notwendige und verhältnismäßige Maßnahme darstellt, die Folgendes sicherstellt:
…
den Schutz sonstiger wichtiger Ziele des allgemeinen öffentlichen Interesses der Union oder eines Mitgliedstaats, insbesondere eines wichtigen wirtschaftlichen oder finanziellen Interesses der Union oder eines Mitgliedstaats, etwa im Währungs-, Haushalts- und Steuerbereich sowie im Bereich der öffentlichen Gesundheit und der sozialen Sicherheit;
…
die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche.“
Deutsches Recht
Abgabenordnung
Die Abgabenordnung (BGBl. 2002 I S. 3866) in ihrer auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Abgabenordnung oder AO) bestimmt in § 2a („Anwendungsbereich der Vorschriften über die Verarbeitung personenbezogener Daten“):
„…
(3) Die Vorschriften dieses Gesetzes und der Steuergesetze über die Verarbeitung personenbezogener Daten finden keine Anwendung, soweit das Recht der Europäischen Union, im Besonderen die [DSGVO] … unmittelbar oder nach Absatz 5 entsprechend gilt.
…
(5) Soweit nichts anderes bestimmt ist, gelten die Vorschriften der [DSVGO], dieses Gesetzes und der Steuergesetze über die Verarbeitung personenbezogener Daten natürlicher Personen entsprechend für Informationen, die sich beziehen auf identifizierte oder identifizierbare
verstorbene natürliche Personen oder
Körperschaften, rechtsfähige oder nicht rechtsfähige Personenvereinigungen oder Vermögensmassen.“
In § 32b („Informationspflicht der Finanzbehörde, wenn personenbezogene Daten nicht bei der betroffenen Person erhoben wurden“) AO heißt es:
„(1) Die Pflicht der Finanzbehörde zur Information der betroffenen Person gemäß Artikel 14 Abs. 1, 2 und 4 der [DSGVO] besteht ergänzend zu den in Artikel 14 Abs. 5 der [DSGVO] und § 31c Absatz 2 genannten Ausnahmen nicht,
soweit die Erteilung der Information
die ordnungsgemäße Erfüllung der in der Zuständigkeit der Finanzbehörden oder anderer öffentlicher Stellen liegenden Aufgaben im Sinne des Artikel 23 Absatz 1 Buchstabe d bis h der [DSGVO] gefährden würde oder
…
und deswegen das Interesse der betroffenen Person an der Informationserteilung zurücktreten muss. § 32a Abs. 2 gilt entsprechend.
…“
§ 32c („Auskunftsrecht der betroffenen Person“) AO bestimmt:
„(1) Das Recht auf Auskunft der betroffenen Person gegenüber einer Finanzbehörde gemäß Artikel 15 der [DSGVO] besteht nicht, soweit
die betroffene Person nach § 32b Absatz 1 oder 2 nicht zu informieren ist,
die Auskunftserteilung den Rechtsträger der Finanzbehörde in der Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung zivilrechtlicher Ansprüche oder in der der Verteidigung gegen ihn geltend gemachter zivilrechtlicher Ansprüche im Sinne des Artikels 23 Absatz 1 Buchstabe j der [DSGVO] beeinträchtigen würde; Auskunftspflichten der Finanzbehörde nach dem Zivilrecht bleiben unberührt,
…“
§ 32e („Verhältnis zu anderen Auskunfts- und Informationszugangsansprüchen“) AO lautet:
„Soweit die betroffene Person oder ein Dritter nach dem Informationsfreiheitsgesetz vom 5. September 2005 (BGBl. I S. 2722) in der jeweils geltenden Fassung oder nach entsprechenden Gesetzen der Länder gegenüber der Finanzbehörde einen Anspruch auf Informationszugang hat, gelten die Artikel 12 bis 15 der [DSGVO] in Verbindung mit den §§ 32a bis 32d entsprechend. Weitergehende Informationsansprüche über steuerliche Daten sind insoweit ausgeschlossen. § 30 Absatz 4 Nummer 2 ist insoweit nicht anzuwenden.“
Insolvenzordnung
§ 129 Abs. 1 der Insolvenzordnung vom 5. Oktober 1994 (BGBl. I S. 2866) in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung lautet:
„Rechtshandlungen, die vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgenommen worden sind und die Insolvenzgläubiger benachteiligen, kann der Insolvenzverwalter nach Maßgabe der §§ 130 bis 146 anfechten.“
Informationsfreiheitsgesetz
§ 2 („Anwendungsbereich“) des Gesetzes über die Freiheit des Zugangs zu Informationen für das Land Nordrhein-Westfalen vom 27. November 2001 in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Informationsfreiheitsgesetz oder IFG) sieht vor:
„(1) Dieses Gesetz gilt für die Verwaltungstätigkeit der Behörden … Behörde im Sinne dieses Gesetzes ist jede Stelle, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt.
…“
§ 4 („Informationsrecht“) IFG lautet:
„(1) Jede natürliche Person hat nach Maßgabe dieses Gesetzes gegenüber den in § 2 genannten Stellen Anspruch auf Zugang zu den bei der Stelle vorhandenen amtlichen Informationen.
(2) Soweit besondere Rechtsvorschriften über den Zugang zu amtlichen Informationen, die Auskunftserteilung oder die Gewährung von Akteneinsicht bestehen, gehen sie den Vorschriften dieses Gesetzes vor. Im Rahmen dieses Gesetzes entfällt die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
D.-H. T, handelnd als Insolvenzverwalter über das Vermögen von J & S Service, einer Gesellschaft deutschen Rechts, begehrte auf der Grundlage von § 4 Abs. 1 des Informationsfreiheitsgesetzes vom Finanzamt Auskunft über steuerliche Daten betreffend diese Gesellschaft, um im Rahmen des Insolvenzverfahrens etwaige Insolvenzanfechtungsklagen prüfen zu können.
Diese Daten betrafen die Androhung von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen gegen J & S Service, die Erteilung von Vollstreckungsaufträgen, erhaltene Zahlungen sowie den Zeitpunkt, zu dem das Finanzamt von der Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft Kenntnis erlangt hatte. D.-H. T. begehrte ferner die Übersendung von Speicherkontenauszügen aller vom Finanzamt geführten Steuerarten für den Veranlagungszeitraum März 2014 bis Juni 2015.
Nachdem das Finanzamt diesen Antrag abgelehnt hatte, wandte sich D.-H. T. an das zuständige Verwaltungsgericht (Deutschland), das seiner Klage im Wesentlichen stattgab.
Das zuständige Oberverwaltungsgericht (Deutschland) wies die gegen das erstinstanzliche Urteil eingelegte Berufung des Landes Nordrhein-Westfalen zurück. Es führte aus, dass der Informationsanspruch auf der Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes nicht durch bereichsspezifische steuerrechtliche Regelungen verdrängt werde und ihm kein Ausschlussgrund entgegenstehe.
Da die Verfügungsbefugnis über die steuerlichen Daten im Rahmen des Insolvenzverfahrens auf den Insolvenzverwalter übergegangen sei, erstrecke sich dieser Übergang auch auf Geschäftsgeheimnisse und steuerliche Daten, soweit dies für die ordnungsgemäße Verwaltung der Insolvenzmasse erforderlich sei. Obwohl die begehrten Auskünfte unter das Steuergeheimnis fielen, sei D.-H. T. in seiner Eigenschaft als Insolvenzverwalter deshalb berechtigt, von J & S Service alle das Insolvenzverfahren betreffenden Informationen zu verlangen. Die Mitwirkungspflicht des Insolvenzschuldners umfasse auch die Verpflichtung, das Finanzamt vom Steuergeheimnis zu befreien.
Gegen die Entscheidung des zuständigen Oberverwaltungsgerichts legte das Land Nordrhein-Westfalen Revision beim Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) ein.
Das vorlegende Gericht führt zunächst aus, dass die DSGVO im vorliegenden Fall nicht unmittelbar anwendbar sei, da der Ausgangsrechtsstreit weder personenbezogene Daten einer natürlichen Person im Sinne von Art. 1 Abs. 1 und Art. 4 Nr. 1 der DSGVO noch den Auskunftsanspruch der betroffenen Person nach Art. 15 dieser Verordnung betreffe. Der Auskunftsanspruch nach Art. 15 der DSGVO sei ein höchstpersönliches Recht der von der Verarbeitung personenbezogener Daten betroffenen Person, das nicht Teil der Insolvenzmasse werde und daher nicht vom Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis auf den Insolvenzverwalter erfasst sei.
Es weist allerdings darauf hin, dass der Gerichtshof, um eine einheitliche Auslegung des Unionsrechts zu gewährleisten, seine Zuständigkeit bereits für solche Vorabentscheidungsersuchen bejaht habe, die Vorschriften des Unionsrechts in rein innerstaatlichen Sachverhalten betroffen hätten, in denen die unionsrechtlichen Vorschriften durch das nationale Recht unmittelbar und unbedingt für anwendbar erklärt worden seien.
Diese Voraussetzung sei im vorliegenden Fall erfüllt, da § 2a Abs. 5 AO hinsichtlich der Verarbeitung personenbezogener Daten juristischer Personen auf die Bestimmungen der DSGVO verweise.
In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage wissen, ob eine Finanzbehörde den Zugang zu steuerlichen Daten eines Steuerschuldners auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 1 Buchst. j der DSGVO beschränken darf, auf den § 32c Abs. 1 Nr. 2 AO ausdrücklich verweist.
Sollten sich die Finanzbehörden auf Art. 23 Abs. 1 Buchst. j der DSGVO berufen können, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der in dieser Bestimmung enthaltene Ausdruck „Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche“ auch die Verteidigung gegen zivilrechtliche Ansprüche erfasst.
Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, dass im nationalen Recht § 32c Abs. 1 Nr. 2 AO die Verteidigung gegen zivilrechtliche Ansprüche ausdrücklich einschließe, um das Auskunftsrecht der betroffenen Person zu beschränken. Diese Vorschrift solle sicherstellen, dass die Finanzbehörden nicht anders behandelt würden als andere Schuldner oder Gläubiger. Die den Finanzbehörden obliegenden Auskunftspflichten sollten sich somit allein nach dem Zivilrecht richten und der Voraussetzung unterliegen, dass ein Insolvenzanfechtungsanspruch dem Grunde nach feststehe und es nur noch um die nähere Bestimmung von Art und Umfang dieses Anspruchs gehe.
Schließlich möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine nationale Vorschrift, nach der das Auskunftsrecht gemäß Art. 15 der DSGVO zur Abwehr möglicher Insolvenzanfechtungsansprüche gegen die Finanzbehörde beschränkt wird, auf Art. 23 Abs. 1 Buchst. e der DSGVO gestützt werden kann.
Insoweit führt das vorlegende Gericht aus, dass das Regelungsziel des § 32c Abs. 1 Nr. 2 AO darin bestehe, die Finanzbehörde bei zivilrechtlichen Forderungen wie andere Gläubiger und Schuldner zu behandeln sowie eine gleichmäßige und gesetzmäßige Besteuerung und mithin die Sicherung des Steueraufkommens zu fördern. Diese Ziele könnten wichtige Ziele des allgemeinen öffentlichen Interesses im Haushalts- und Steuerbereich im Sinne von Art. 23 Abs. 1 Buchst. e der DSGVO darstellen.
Der nationale Gesetzgeber habe jedoch durch § 32c Abs. 1 Nr. 2 AO primär von der Beschränkung in Art. 23 Abs. 1 Buchst. j DSGVO Gebrauch gemacht. Die begehrten steuerlichen Informationen seien nämlich nicht für die materiell-rechtlichen Steueransprüche, sondern für die insolvenzrechtlich relevanten Zahlungsflüsse als gegebenenfalls anfechtbare Rechtshandlungen im Sinne der Insolvenzordnung vom 5. Oktober 1994 in ihrer auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung von Interesse.
Unter diesen Umständen hat das Bundesverwaltungsgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Dient Art. 23 Abs. 1 Buchst. j der DSGVO auch dem Schutz der Interessen von Finanzbehörden?
Falls ja, erfasst die Formulierung „Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche“ auch die Verteidigung der Finanzbehörde gegen zivilrechtliche Ansprüche und müssen diese bereits geltend gemacht sein?
Erlaubt die Regelung des Art. 23 Abs. 1 Buchst. e der DSGVO zum Schutz eines wichtigen finanziellen Interesses eines Mitgliedstaats im Steuerbereich eine Beschränkung des Auskunftsrechts nach Art. 15 der DSGVO zur Abwehr von zivilrechtlichen Insolvenzanfechtungsansprüchen gegen die Finanzbehörde?
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteile vom 18. Oktober 1990, Dzodzi, C-297/88 und C-197/89, EU:C:1990:360, Rn. 34 und 35, sowie vom 14. Februar 2019, Milivojević, C-630/17, EU:C:2019:123, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Allerdings hat der Gerichtshof ebenfalls nach ständiger Rechtsprechung zur Prüfung seiner eigenen Zuständigkeit die Umstände zu untersuchen, unter denen er von dem nationalen Gericht angerufen wird (Urteil vom 16. Juni 2016, Rodríguez Sánchez, C-351/14, EU:C:2016:447, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Dabei hat der Gerichtshof wiederholt seine Zuständigkeit für die Entscheidung über Vorabentscheidungsersuchen bejaht, die Unionsvorschriften in Fällen betrafen, in denen der jeweilige Sachverhalt des Ausgangsverfahrens nicht unter das Unionsrecht und daher allein in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fiel, aber die betreffenden Unionsvorschriften durch einen Verweis im nationalen Recht auf ihren Inhalt für anwendbar erklärt worden waren (Urteil vom 12. Juli 2012, SC Volksbank România, C-602/10, EU:C:2012:443, Rn. 86 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Diese Zuständigkeit wird durch das offensichtliche Interesse der Unionsrechtsordnung daran begründet, dass die aus dem Unionsrecht übernommenen Bestimmungen einheitlich ausgelegt werden, um künftige Auslegungsunterschiede zu vermeiden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Oktober 1990, Dzodzi, C-297/88 und C-197/89, EU:C:1990:360, Rn. 37, sowie vom 12. Dezember 2019, G. S. und V. G. [Gefährdung der öffentlichen Ordnung], C-381/18 und C-382/18, EU:C:2019:1072, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Die Zuständigkeit des Gerichtshofs beschränkt sich jedoch auf die Prüfung der Bestimmungen des Unionsrechts. Er kann in seiner Antwort an das vorlegende Gericht nicht die allgemeine Systematik der Vorschriften des nationalen Rechts berücksichtigen, die gleichzeitig mit der Verweisung auf das Unionsrecht den Umfang dieser Verweisung festlegen. Für die Berücksichtigung der Grenzen, die der nationale Gesetzgeber der Anwendung des Unionsrechts auf rein interne Sachverhalte, auf die es nur mittelbar kraft des nationalen Gesetzes anwendbar ist, setzen wollte, gilt das innerstaatliche Recht, so dass dafür ausschließlich die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Oktober 1990, Dzodzi, C-297/88 und C-197/89, EU:C:1990:360, Rn. 42).
Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Ausführungen des vorlegenden Gerichts, dass aufgrund des Verweises in § 2a Abs. 5 Nr. 2 AO die Bestimmungen der DSGVO hinsichtlich der Verarbeitung personenbezogener Daten natürlicher Personen für juristische Personen entsprechend gelten.
Insbesondere ist die Finanzbehörde nach § 32b AO für den Fall, dass personenbezogene Daten nicht bei der betroffenen Person erhoben wurden, nicht zur Erteilung von Informationen verpflichtet, wenn diese Informationen die ordnungsgemäße Erfüllung der in ihrer Zuständigkeit oder in der Zuständigkeit anderer öffentlicher Stellen liegenden Aufgaben im Sinne des Art. 23 Abs. 1 Buchst. d bis h der DSGVO gefährden könnten.
Gemäß § 32c Abs. 1 Nr. 2 AO besteht das Recht auf Auskunft der betroffenen Person gegenüber einer Finanzbehörde gemäß Art. 15 der DSGVO nicht, soweit die Auskunftserteilung den Rechtsträger der Finanzbehörde in der Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung zivilrechtlicher Ansprüche oder in der Verteidigung gegen ihn geltend gemachter zivilrechtlicher Ansprüche im Sinne des Art. 23 Abs. 1 Buchst. j der DSGVO beeinträchtigen würde.
Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vorschriften der Abgabenordnung auf Art. 23 der DSGVO verweisen, um für die Informationspflicht der Finanzbehörde und das Auskunftsrecht der betroffenen Person gegenüber dieser Behörde einen Rahmen zu schaffen, und zwar mit dem Ziel, die Benachteiligung dieser Behörde im Verhältnis zu privatrechtlichen Gläubigern im Insolvenzverfahren auszugleichen und damit zur Sicherung des Steueraufkommens beizutragen.
Im Ausgangsverfahren ist die von den begehrten Auskünften betroffene Person eine juristische Person, nämlich ein Unternehmen in Insolvenz.
Wie aus Art. 1 Abs. 1 der DSGVO hervorgeht, enthält diese Verordnung jedoch Bestimmungen zum Schutz personenbezogener Daten natürlicher Personen und erfasst nicht die Daten, die juristische Personen betreffen.
Art. 23 der DSGVO, um dessen Auslegung das vorlegende Gericht ersucht, regelt die Fälle, in denen durch Rechtsvorschriften der Union oder der Mitgliedstaaten, denen der Verantwortliche oder der Auftragsverarbeiter unterliegt, der Umfang der den betroffenen Personen, die als identifizierte oder identifizierbare natürliche Personen definiert sind, gewährten Rechte und der entsprechenden Pflichten der Verantwortlichen beschränkt werden kann.
Im vorliegenden Fall betreffen die Vorlagefragen die Auslegung von Art. 23 Abs. 1 der DSGVO in einem Fall, in dem diese Bestimmungen auf juristische Personen für anwendbar erklärt wurden, um einen Rahmen für die Informationspflichten der Behörden nach dem Informationsfreiheitsgesetz zu schaffen.
Allerdings beschränken sich die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vorschriften der Abgabenordnung nicht darauf, die Bestimmungen der DSGVO außerhalb des Anwendungsbereichs dieser Verordnung für anwendbar zu erklären, sondern verändern deren Ziel und Tragweite.
Zwar werden einige Bestimmungen der DSGVO in den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vorschriften der Abgabenordnung nahezu wörtlich wiedergegeben, doch unterscheiden sich der Zweck dieser Verordnung und der Kontext, in dem sie erlassen wurde, wesentlich von Zweck und Kontext der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden innerstaatlichen Regelung; denn mit der DSGVO soll insbesondere die Wahrung der Grundrechte natürlicher Personen sichergestellt werden, wobei diese Rechte zugleich gegen die Notwendigkeit abgewogen werden sollen, andere legitime Interessen in einer demokratischen Gesellschaft zu schützen.
Insoweit ist erstens festzustellen, dass der Begriff „Informationen, die sich auf Körperschaften beziehen“ streng von dem unionsrechtlich definierten Begriff der personenbezogenen Daten natürlicher Personen zu unterscheiden ist. Das Recht natürlicher Personen auf Schutz ihrer personenbezogenen Daten ist ein Grundrecht, das durch Art. 8 Abs. 1 der Charta der Grundrechte garantiert wird. Folglich müssen Beschränkungen dieses Rechts, wie in Art. 23 Abs. 1 der DSGVO ausgeführt wird, gesetzlich vorgesehen sein, den Wesensgehalt der Grundrechte und Grundfreiheiten achten und in einer demokratischen Gesellschaft eine notwendige und verhältnismäßige Maßnahme darstellen, um den Schutz bestimmter öffentlicher und privater Interessen sicherzustellen. Dagegen werden Informationen, die juristische Personen betreffen, im Unionsrecht nicht in vergleichbarer Weise geschützt.
Somit bezieht sich das deutsche Recht in Wirklichkeit nicht auf den im Unionsrecht durch die DSGVO geregelten Schutz personenbezogener Daten natürlicher Personen, sondern auf ein dem nationalen Recht eigenes Konzept des Schutzes personenbezogener Daten juristischer Personen. Unter diesen Umständen betreffen die Vorlagefragen nicht die Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts, die durch eine Vorschrift des innerstaatlichen Rechts über ihren Anwendungsbereich hinaus für anwendbar erklärt worden ist, sondern ein Konzept des innerstaatlichen Rechts, das im Unionsrecht kein Äquivalent hat.
Zweitens soll Art. 23 Abs. 1 der DSGVO, wie der Generalanwalt im Wesentlichen in den Nrn. 86 und 88 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Achtung der Grundrechte natürlicher Personen, die von der Verarbeitung personenbezogener Daten betroffen sind, und die Notwendigkeit des Schutzes anderer berechtigter Interessen in einer demokratischen Gesellschaft miteinander in einen angemessenen Ausgleich bringen. Die Auslegung der in dieser Bestimmung vorgesehenen Beschränkungen erfordert daher eine Abwägung der Grundrechte, die natürlichen Personen zuerkannt sind, gegen die Interessen, zu deren Wahrung diese Beschränkungen beitragen.
Folglich kann Art. 23 der DSGVO nicht unter Außerachtlassung des Umstands ausgelegt werden, dass er gerade der Gewährleistung der Grundrechte natürlicher Personen dient.
Eine Auslegung von Bestimmungen dieser Verordnung kann daher hinsichtlich natürlicher Personen und hinsichtlich juristischer Personen, deren Recht auf Datenschutz durch die DSGVO nicht definiert wurde, nicht in gleicher Weise erfolgen. Entgegen der Auffassung des vorlegenden Gerichts kann daher nicht der Schluss gezogen werden, dass im vorliegenden Fall ein offensichtliches Interesse an der Auslegung dieser Bestimmungen durch den Gerichtshof besteht, um sicherzustellen, dass diese einheitlich erfolgt.
Unter diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Vorschriften des Unionsrechts, die dem Gerichtshof zur Auslegung unterbreitet worden sind, als solche durch das nationale Recht, und sei es auch außerhalb des Anwendungsbereichs der Verordnung, für anwendbar erklärt worden sind (vgl. entsprechend Urteil vom 28. März 1995, Kleinwort Benson, C-346/93, EU:C:1995:85, Rn. 19).
Nach alledem ist festzustellen, dass der Gerichtshof für die Beantwortung der vom Bundesverwaltungsgericht gestellten Fragen nicht zuständig ist.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
Der Gerichtshof ist für die Beantwortung der vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 4. Juli 2019 gestellten Fragen nicht zuständig.
Bonichot
Bay Larsen
Toader
Safjan
Jääskinen
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 10. Dezember 2020.
Der Kanzler
A. Calot Escobar
Der Präsident der Ersten Kammer
J.-C. Bonichot
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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