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EuGH 14.05.2020 - C-615/18
EuGH 14.05.2020 - C-615/18 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer) - 14. Mai 2020 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren – Richtlinie 2012/13/EU – Art. 6 – Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf – Strafverfahren wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis – Fahrverbot, das mit einem früheren Strafbefehl angeordnet wurde, von dem der Betroffene keine Kenntnis erlangt hat – Zustellung des Strafbefehls an den Betroffenen nur über einen obligatorischen Bevollmächtigten – Eintritt der Rechtskraft – Etwaige Fahrlässigkeit des Betroffenen“
Leitsatz
In der Rechtssache C-615/18
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Amtsgericht Kehl (Deutschland) mit Entscheidung vom 24. September 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 28. September 2018, in dem Strafverfahren gegen
UY,
Beteiligte:
Staatsanwaltschaft Offenburg,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter I. Jarukaitis, E. Juhász, M. Ilešič und C. Lycourgos (Berichterstatter),
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 16. Oktober 2019,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
der deutschen Regierung, vertreten durch M. Hellmann, T. Henze und A. Berg als Bevollmächtigte,
der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid, R. Troosters und B.-R. Killmann als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Januar 2020
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. 2012, L 142, S. 1) sowie der Art. 21, 45, 49 und 56 AEUV.
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines in Deutschland gegen UY eingeleiteten Strafverfahrens wegen fahrlässigen Fahrens ohne Fahrerlaubnis.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Die Erwägungsgründe 14, 27 und 41 der Richtlinie 2012/13 lauten:
Die vorliegende Richtlinie bezieht sich auf die Maßnahme B [(Maßnahme bezüglich des Rechts auf Belehrung über die Rechte und auf Unterrichtung über die Beschuldigung)] des Fahrplans [zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigten oder Beschuldigten in Strafverfahren]. Sie legt gemeinsame Mindestnormen fest, die bei der Belehrung über die Rechte und bei der Unterrichtung über den Tatvorwurf gegenüber Personen, die der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt werden, anzuwenden sind, um das Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten zu verstärken. Diese Richtlinie baut auf den in der [Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta)] verankerten Rechten auf, insbesondere auf den Artikeln 6, 47 und 48 der Charta, und legt dabei die Artikel 5 und 6 [der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK)] in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zugrunde. In dieser Richtlinie wird der Begriff ‚Tatvorwurf‘ verwendet; er hat denselben Bedeutungsinhalt wie der in Artikel 6 Absatz 1 EMRK verwendete Begriff ‚Anklage‘.
…
Personen, die der Begehung einer Straftat beschuldigt werden, sollten alle Informationen über den Tatvorwurf erteilt werden, die sie benötigen, um ihre Verteidigung vorzubereiten, und die zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens notwendig sind.
…
Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die mit der Charta anerkannt wurden. Mit dieser Richtlinie sollen insbesondere das Recht auf Freiheit, das Recht auf ein faires Verfahren und die Verteidigungsrechte gefördert werden. Sie sollte entsprechend umgesetzt werden.“
Art. 6 („Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf“) der Richtlinie 2012/13 bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen über die strafbare Handlung unterrichtet werden, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden. Diese Unterrichtung erfolgt umgehend und so detailliert, dass ein faires Verfahren und eine wirksame Ausübung ihrer Verteidigungsrechte gewährleistet werden.
(2) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, die festgenommen oder inhaftiert werden, über die Gründe für ihre Festnahme oder Inhaftierung, einschließlich über die strafbare Handlung, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden, unterrichtet werden.
(3) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass[,] spätestens wenn einem Gericht die Anklageschrift vorgelegt wird, detaillierte Informationen über den Tatvorwurf, einschließlich der Art und der rechtlichen Beurteilung der Straftat sowie der Art der Beteiligung der beschuldigten Person, erteilt werden.
(4) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtigen oder beschuldigten Personen Änderungen der ihnen im Rahmen der Unterrichtung gemäß diesem Artikel gegebenen Informationen umgehend mitgeteilt werden, wenn dies erforderlich ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten.“
Deutsches Recht
§ 44 („Fahrverbot“) des Strafgesetzbuchs (StGB) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung bestimmt:
„(1) Wird jemand wegen einer Straftat, die er bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers begangen hat, zu einer Freiheitsstrafe oder einer Geldstrafe verurteilt, so kann ihm das Gericht für die Dauer von einem Monat bis zu drei Monaten verbieten, im Straßenverkehr Kraftfahrzeuge jeder oder einer bestimmten Art zu führen. Ein Fahrverbot ist in der Regel anzuordnen, wenn in den Fällen einer Verurteilung nach § 315c Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a, Abs. 3 oder § 316 die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 unterbleibt.
(2) Das Fahrverbot wird mit der Rechtskraft des Urteils wirksam. Für seine Dauer werden von einer deutschen Behörde ausgestellte nationale und internationale Führerscheine amtlich verwahrt. Dies gilt auch, wenn der Führerschein von einer Behörde eines Mitgliedstaates der Europäischen Union oder eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum ausgestellt worden ist, sofern der Inhaber seinen ordentlichen Wohnsitz im Inland hat. In anderen ausländischen Führerscheinen wird das Fahrverbot vermerkt.
(3) Ist ein Führerschein amtlich zu verwahren oder das Fahrverbot in einem ausländischen Führerschein zu vermerken, so wird die Verbotsfrist erst von dem Tage an gerechnet, an dem dies geschieht. In die Verbotsfrist wird die Zeit nicht eingerechnet, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist.“
§ 44 der Strafprozessordnung (StPO) lautet:
„War jemand ohne Verschulden verhindert, eine Frist einzuhalten, so ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Die Versäumung einer Rechtsmittelfrist ist als unverschuldet anzusehen, wenn die Belehrung nach den § 35a Satz 1 und 2, § 319 Abs. 2 Satz 3 oder nach § 346 Abs. 2 Satz 3 unterblieben ist.“
§ 45 StPO lautet:
„(1) Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist binnen einer Woche nach Wegfall des Hindernisses bei dem Gericht zu stellen, bei dem die Frist wahrzunehmen gewesen wäre. Zur Wahrung der Frist genügt es, wenn der Antrag rechtzeitig bei dem Gericht gestellt wird, das über den Antrag entscheidet.
(2) Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen. Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Handlung nachzuholen. Ist dies geschehen, so kann Wiedereinsetzung auch ohne Antrag gewährt werden.“
§ 132 StPO sieht vor:
„(1) Hat der Beschuldigte, der einer Straftat dringend verdächtig ist, im Geltungsbereich dieses Gesetzes keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt, liegen aber die Voraussetzungen eines Haftbefehls nicht vor, so kann, um die Durchführung des Strafverfahrens sicherzustellen, angeordnet werden, dass der Beschuldigte
1. eine angemessene Sicherheit für die zu erwartende Geldstrafe und die Kosten des Verfahrens leistet und
2. eine im Bezirk des zuständigen Gerichts wohnende Person zum Empfang von Zustellungen bevollmächtigt.
§ 116a Abs. 1 gilt entsprechend.
(2) Die Anordnung dürfen nur der Richter, bei Gefahr im Verzuge auch die Staatsanwaltschaft und ihre Ermittlungspersonen (§ 152 des Gerichtsverfassungsgesetzes) treffen.
(3) Befolgt der Beschuldigte die Anordnung nicht, so können Beförderungsmittel und andere Sachen, die der Beschuldigte mit sich führt und die ihm gehören, beschlagnahmt werden. Die §§ 94 und 98 gelten entsprechend.“
§ 407 StPO sieht vor:
„(1) Im Verfahren vor dem Strafrichter und im Verfahren, das zur Zuständigkeit des Schöffengerichts gehört, können bei Vergehen auf schriftlichen Antrag der Staatsanwaltschaft die Rechtsfolgen der Tat durch schriftlichen Strafbefehl ohne Hauptverhandlung festgesetzt werden. Die Staatsanwaltschaft stellt diesen Antrag, wenn sie nach dem Ergebnis der Ermittlungen eine Hauptverhandlung nicht für erforderlich erachtet. Der Antrag ist auf bestimmte Rechtsfolgen zu richten. Durch ihn wird die öffentliche Klage erhoben.
…
(3) Der vorherigen Anhörung des Angeschuldigten durch das Gericht (§ 33 Abs. 3) bedarf es nicht.“
§ 410 StPO lautet:
„(1) Der Angeklagte kann gegen den Strafbefehl innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung bei dem Gericht, das den Strafbefehl erlassen hat, schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle Einspruch einlegen. Die §§ 297 bis 300 und § 302 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 gelten entsprechend.
(2) Der Einspruch kann auf bestimmte Beschwerdepunkte beschränkt werden.
(3) Soweit gegen einen Strafbefehl nicht rechtzeitig Einspruch erhoben worden ist, steht er einem rechtskräftigen Urteil gleich.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
UY ist ein Berufskraftfahrer von Lastkraftwagen, der die polnische Staatsangehörigkeit und seinen ständigen Wohnsitz in Polen hat.
Mit einem Strafbefehl vom 21. August 2017 verurteilte das Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen (Deutschland) UY wegen einer am 11. Juli 2017 begangenen Straftat, des unerlaubten Entfernens vom Unfallort, zu einer Geldstrafe und ordnete ein Fahrverbot von drei Monaten an.
Am 30. August 2017 wurde der Strafbefehl zusammen mit einer Übersetzung in die polnische Sprache dem Bevollmächtigten von UY zugestellt. UY hatte auf Anordnung eines Staatsanwalts nämlich eine Zustellungsvollmacht gemäß § 132 StPO erteilt. Der Bevollmächtigte von UY, ein Bediensteter des Amtsgerichts Garmisch-Partenkirchen, war UY von der Polizei vorgegeben worden.
Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass das Formular über die Erteilung der Vollmacht, das in deutscher Sprache abgefasst war und UY von einer ihm nahestehenden Person telefonisch übersetzt worden war, den Namen und die Dienstanschrift des Bevollmächtigten sowie den Hinweis enthielt, dass die gesetzlichen Fristen mit dem Tag der Zustellung der zu erlassenden strafrechtlichen Entscheidung an den Bevollmächtigten zu laufen beginnen würden. Dagegen enthielt das Formular keinen Hinweis über die rechtlichen und tatsächlichen Folgen dieser Vollmacht, insbesondere über etwaige Pflichten der betroffenen Person zur Erkundigung bei ihrem Bevollmächtigten. UY wurde eine Abschrift der Vollmacht in deutscher Sprache überlassen.
Der Bevollmächtigte leitete den Strafbefehl mit einfacher Post an die bekannte Anschrift von UY in Polen weiter, ohne dass festgestellt werden konnte, ob dieses Schreiben UY erreicht hat.
Da gegen den Strafbefehl kein Einspruch eingelegt wurde, ist dieser am 14. September 2017 rechtskräftig geworden.
Am 14. Dezember 2017 wurde UY am Steuer eines Lastkraftwagens von der deutschen Polizei im Gebiet der Gemeinde Kehl (Deutschland) kontrolliert.
Im Anschluss an diese Kontrolle beantragte die Staatsanwaltschaft Offenburg (Deutschland) beim Amtsgericht Kehl (Deutschland), UY wegen fahrlässigen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu verurteilen, da er im deutschen Hoheitsgebiet einen Lastkraftwagen geführt habe, obwohl er hätte wissen können und müssen, dass gegen ihn in Deutschland ein Fahrverbot angeordnet worden sei.
Das vorlegende Gericht geht davon aus, dass UY bis zu seiner Kontrolle durch die Polizei am 14. Dezember 2017 keine Kenntnis von dem Strafbefehl des Amtsgerichts Garmisch-Partenkirchen und folglich von dem ihm gegenüber angeordneten Fahrverbot gehabt habe.
Es weist darauf hin, dass das Fahrverbot nach § 44 Abs. 2 StGB mit der Rechtskraft des Urteils wirksam werde, und stellt insoweit klar, dass ein Strafbefehl einem rechtskräftigen Urteil gleichstehe, soweit nicht innerhalb der Frist von zwei Wochen nach Zustellung des Strafbefehls, die an den von der betroffenen Person benannten Bevollmächtigten erfolgen könne, Einspruch eingelegt worden sei.
Im deutschen Recht stehe der Umstand, dass die Person des Bevollmächtigten wie im vorliegenden Fall von der Polizei vorgegeben werde und das Formular über die Erteilung der Vollmacht weder Informationen über die telefonische Erreichbarkeit des Bevollmächtigten noch eine Belehrung über die Pflicht des Betroffenen zur Erkundigung bei seinem Bevollmächtigten enthalte, in der Regel der Wirksamkeit der Vollmacht nicht entgegen. Gleiches gelte für den Umstand, dass das Formular lediglich in deutscher Sprache abgefasst sei, sofern dem Beschuldigten, falls er diese Sprache nicht beherrsche, der Inhalt des Formulars mündlich verständlich gemacht werde.
Außerdem könne dem Beschuldigten, der Kenntnis von dem gegen ihn eingeleiteten Strafverfahren habe, Fahrlässigkeit vorgeworfen werden, wenn er sich nicht darum bemühe, bei seinem Bevollmächtigten konkrete Informationen über den Ausgang dieses Verfahrens zu erlangen. In einem solchen Fall könne sich der Beschuldigte nicht darauf berufen, dass ihm die vom Bevollmächtigten an ihn weitergeleiteten Schriftstücke nicht zugegangen seien.
Das vorlegende Gericht zweifelt jedoch, ob die dem Strafbefehl des Amtsgerichts Garmisch-Partenkirchen nach deutschem Recht anzuerkennende Rechtskraft mit der Richtlinie 2012/13 in der Auslegung durch den Gerichtshof in seinen Urteilen vom 15. Oktober 2015, Covaci (C-216/14, EU:C:2015:686), und vom 22. März 2017, Tranca u. a. (C-124/16, C-188/16 und C-213/16, EU:C:2017:228), sowie mit den Art. 21, 45, 49 und 56 AEUV vereinbar ist. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ergibt sich aus diesen Urteilen, dass dem Beschuldigten wegen seiner Pflicht zur Erteilung einer Vollmacht für die Zustellung des ihn betreffenden Strafbefehls generell keine Nachteile entstehen dürften, weil er seinen Wohnsitz nicht in Deutschland, sondern in einem anderen Mitgliedstaat habe. Im vorliegenden Fall bestünden für UY aber solche Nachteile, die nicht ausgeglichen werden könnten.
Da die Zustellung des Strafbefehls über einen Bevollmächtigten erfolge, sei es nämlich wahrscheinlich, dass die Person, gegen die er gerichtet sei und die ihren Wohnsitz im Ausland habe, von ihm keine oder erst viel spätere Kenntnis erlange, als es der Fall wäre, wenn sie ihren Wohnsitz in Deutschland hätte.
Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass Strafbefehle in Deutschland zwar mittels Zustellungsauftrags an die Post zugestellt werden könnten und in einem solchen Fall die persönliche Übergabe des Strafbefehls an den Adressaten nicht erforderlich sei, da die Zustellung in der Wohnung des Adressaten durch Übergabe des Strafbefehls an einen erwachsenen Familienangehörigen, eine in der Familie beschäftigte Person oder einen erwachsenen ständigen Mitbewohner, durch Einlegen in den Briefkasten der Wohnung des Adressaten oder durch Niederlegung erfolgen könne, sofern eine amtliche Bescheinigung zum Nachweis der Zustellung erstellt werde. Durch die strengen Voraussetzungen dieses Verfahrens, deren Vorliegen von Amts wegen durch das Gericht zu prüfen seien, sowie die örtliche und persönliche Nähe des Zustellungsorts und des tatsächlichen Empfängers zur betroffenen Person sei in der Regel jedoch sichergestellt, dass die Zustellung schon bei geringsten Zweifeln an ihrer Ordnungsmäßigkeit als unwirksam angesehen werde.
Umgekehrt habe es der Beschuldigte, wenn der Strafbefehl seinem Bevollmächtigten zugestellt werde, regelmäßig nicht in der Hand, auf welche Weise der Strafbefehl an ihn weitergeleitet werde, auch wenn der Bevollmächtigte ein Bediensteter des Gerichts sei. Der Bevollmächtigte sei gesetzlich nicht verpflichtet, die Weiterleitung des Strafbefehls in einer Weise zu übermitteln, die sicherstelle, dass er den Beschuldigten tatsächlich erreiche, beispielsweise durch ein Einschreiben. Darüber hinaus könne die Weiterleitung eines Strafbefehls ins Ausland erheblich länger dauern und sei die Gefahr des Abhandenkommens des Schreibens größer.
Diese Nachteile würden nach der deutschen Rechtslage nicht durch das Verfahren der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 44 StPO ausgeglichen, das es unter bestimmten Voraussetzungen ermögliche, die Rechtskraft des Strafbefehls aufzuheben und die Frist für einen Einspruch gegen diesen wiederzueröffnen.
Insoweit weist das vorlegende Gericht als Erstes darauf hin, dass die betroffene Person zur rückwirkenden Beseitigung der Rechtskraft des gegen sie ergangenen Strafbefehls selbst dann einen begründeten Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand stellen und Einspruch gegen den Strafbefehl einlegen müsse, wenn sie die Straftat und die sich daraus ergebenden Rechtsfolgen nicht bestreite, um anschließend ihren Einspruch zurückzunehmen, sobald ihr die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt worden sei.
Als Zweites weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand binnen einer Woche nach Wegfall des Hindernisses gestellt werden müsse, dessentwegen die betroffene Person die ihr gesetzte Verfahrensfrist nicht eingehalten habe.
Als Drittes führt das vorlegende Gericht aus, dass die betroffene Person nachweisen müsse, dass sie an der Fristversäumung kein Verschulden treffe. Insoweit könne sie sich nicht lediglich darauf berufen, sie habe keine Kenntnis von der Zustellung des sie betreffenden Strafbefehls an den Bevollmächtigten gehabt, da von ihr erwartet werde, dass sie sich zeitnah bei ihrem Bevollmächtigten nach etwaigen Schreiben für sie erkundige, ohne dass Sprachschwierigkeiten zu berücksichtigen wären, die bei der Kommunikation mit ihrem Bevollmächtigten auftreten könnten. Außerdem könne eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von Amts wegen nur dann gewährt werden, wenn sich aus der Akte ohne Weiteres ergebe, dass die Versäumung der Frist unverschuldet gewesen sei.
Als Viertes weist das vorlegende Gericht außerdem darauf hin, dass der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand keine aufschiebende Wirkung habe.
Vor diesem Hintergrund geht das vorlegende Gericht davon aus, dass es zu der Annahme berechtigt sei, dass – ungeachtet seines innerstaatlichen Rechts – der vom Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen gegen UY erlassene Strafbefehl erst nach Ablauf einer Frist von zwei Wochen ab dem Zeitpunkt, zu dem UY davon tatsächlich Kenntnis erhalten habe, d. h. zu einem nach seiner Kontrolle wegen fahrlässigen Fahrens ohne Fahrerlaubnis liegenden Zeitpunkt, rechtskräftig geworden sei.
Hilfsweise hält es das vorlegende Gericht zur Vermeidung einer ungerechtfertigten, allein durch den Wohnsitz von UY in Polen bedingten Ungleichbehandlung für erforderlich, ihm keine Sorgfaltspflicht hinsichtlich der Kenntnisnahme verfahrensrelevanter und an ihn gerichteter Schriftstücke aufzuerlegen, deren Verletzung zu einer Strafverfolgung durch das vorlegende Gericht führe und die über die Pflichten hinausgehe, die er hätte, wenn ihm der Strafbefehl in Deutschland mittels des üblichen Zustellungsauftrags zugestellt worden wäre.
Daher hat das Amtsgericht Kehl beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist das Recht der Europäischen Union, insbesondere die Richtlinie 2012/13 sowie die Art. 21, 45, 49 und 56 AEUV, dahin auszulegen, dass es einer Regelung eines Mitgliedstaates entgegensteht, die es erlaubt, in einem Strafverfahren, nur weil der Beschuldigte seinen Wohnsitz nicht in diesem, sondern in einem anderen Mitgliedstaat hat, anzuordnen, dass der Beschuldigte für die Zustellung eines an ihn gerichteten Strafbefehls einen Zustellungsbevollmächtigten zu benennen habe, mit der Folge, dass der Strafbefehl rechtskräftig werden und damit die rechtliche Voraussetzung für die Strafbarkeit eines späteren Handelns des Beschuldigten geschaffen wird (Tatbestandswirkung), auch wenn der Beschuldigte von dem Strafbefehl tatsächlich nichts wusste und die tatsächliche Kenntnisnahme des Strafbefehls durch den Beschuldigten nicht in einem vergleichbarem Maße sichergestellt ist, wie es bei einer Zustellung des Strafbefehls der Fall wäre, wenn der Beschuldigte in dem Mitgliedstaat seinen Wohnsitz hätte?
Für den Fall, dass die erste Frage verneint wird: Ist das Recht der Europäischen Union, insbesondere die Richtlinie 2012/13 sowie die Art. 21, 45, 49 und 56 AEUV, dahin auszulegen, dass es einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die es erlaubt, in einem Strafverfahren, nur weil der Beschuldigte seinen Wohnsitz nicht in diesem, sondern in einem anderen Mitgliedstaat hat, anzuordnen, dass der Beschuldigte für die Zustellung eines an ihn gerichteten Strafbefehls einen Zustellungsbevollmächtigten zu benennen habe, mit der Folge, dass der Strafbefehl rechtskräftig werden und damit die rechtliche Voraussetzung für die Strafbarkeit eines späteren Handelns des Beschuldigten geschaffen wird (Tatbestandswirkung) und bei der Verfolgung dieser Straftat dem Beschuldigten in subjektiver Hinsicht höhere Pflichten auferlegt werden, dafür zu sorgen, von dem Strafbefehl tatsächlich Kenntnis zu nehmen, als sie bestehen würden, wenn der Beschuldigte seinen Wohnsitz in dem Mitgliedstaat hätte, so dass eine Strafverfolgung wegen Fahrlässigkeit des Beschuldigten möglich wird?
Zu den Vorlagefragen
Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 21, 45, 49 und 56 AEUV sowie Art. 6 der Richtlinie 2012/13 dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der sich eine in einem anderen Mitgliedstaat wohnende Person, wenn sie einen Strafbefehl, mit dem ein Fahrverbot gegen sie angeordnet wird, nicht ab dem Zeitpunkt, zu dem dieser Strafbefehl rechtskräftig wird, beachtet, einer strafrechtlichen Sanktion aussetzt, obwohl zum einen die Frist von zwei Wochen für die Einlegung eines Einspruchs gegen den Strafbefehl nicht ab dessen Zustellung an die betroffene Person, sondern an ihren Bevollmächtigten zu laufen beginnt und zum anderen die betroffene Person keine Kenntnis von der Existenz des Strafbefehls hatte, als sie gegen das mit ihm angeordnete Fahrverbot verstoßen hat.
Vorab ist erstens festzustellen, dass das Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen durch einen Strafbefehl gemäß § 407 StPO ein befristetes Fahrverbot gegenüber UY angeordnet hat.
Wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, ist das Strafbefehlsverfahren ein vereinfachtes Verfahren ohne Verhandlung oder kontradiktorische Erörterung. Der Strafbefehl, der auf Antrag der Staatsanwaltschaft von einem Gericht wegen geringfügiger Straftaten erlassen wird, stellt eine vorläufige Entscheidung dar. Er wird gemäß § 410 StPO mit Ablauf einer Frist von zwei Wochen ab seiner Zustellung, gegebenenfalls an die Zustellungsbevollmächtigten der betroffenen Person, rechtskräftig, es sei denn, sie legt vor Ablauf dieser Frist gegen den Strafbefehl Einspruch ein (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Oktober 2015, Covaci, C-216/14, EU:C:2015:686, Rn. 20).
In dem besonderen Fall, dass die betroffene Person keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt im deutschen Hoheitsgebiet hat, kann ihr gegenüber nach § 132 Abs. 1 StPO angeordnet werden, einen Zustellungsbevollmächtigten zu benennen, dem der sie betreffende Strafbefehl zugestellt wird, wodurch die Einspruchsfrist in Lauf gesetzt wird.
Nach § 44 Abs. 2 StGB wird das mit dem Strafbefehl angeordnete Fahrverbot zu dem Zeitpunkt wirksam, zu dem er rechtskräftig wird.
Zweitens ist festzustellen, dass das Ausgangsverfahren ein neues Strafverfahren betrifft, das gegen UY wegen fahrlässigen Fahrens ohne Fahrerlaubnis eingeleitet worden ist. Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass der objektive Tatbestand dieser Straftat in der Nichtbeachtung eines Fahrverbots besteht, das durch einen rechtskräftigen Strafbefehl angeordnet wurde, und dass ihr subjektiver Tatbestand in der Fahrlässigkeit der betroffenen Person besteht.
Im vorliegenden Fall stellt das vorlegende Gericht zunächst zum objektiven Tatbestand der Straftat, derentwegen bei ihm ein Strafverfahren gegen UY anhängig ist, fest, dass UY am 14. Dezember 2017 in Deutschland am Steuer eines Lastkraftwagens kontrolliert worden sei, d. h., nachdem dessen erste Verurteilung durch das Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen rechtskräftig geworden sei, da UY gegen diesen Strafbefehl nicht innerhalb der Frist von zwei Wochen ab dessen Zustellung an seinen Bevollmächtigten Einspruch eingelegt habe.
Sodann stellt das vorlegende Gericht zum subjektiven Tatbestand der Straftat, derentwegen bei ihm ein Strafverfahren gegen UY anhängig ist, fest, dass dessen Bevollmächtigter, ein Bediensteter des Amtsgerichts Garmisch-Partenkirchen, den gegen UY ergangenen Strafbefehl mit einfacher Post an die bekannte Anschrift von UY in Polen habe weiterleiten lassen. Da nach Ansicht des vorlegenden Gerichts nicht nachgewiesen werden kann, dass UY dieses Schreiben tatsächlich erhalten hat, geht es von der Prämisse aus, dass UY von dem Strafbefehl erst Kenntnis erlangt habe, als er am 14. Dezember 2017 von der Polizei kontrolliert worden sei.
In Anbetracht dieser Klarstellungen ist als Erstes zu prüfen, ob Art. 6 der Richtlinie 2012/13 dem entgegensteht, dass die Frist von zwei Wochen für die Einlegung eines Einspruchs gegen einen Strafbefehl wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden mit seiner Zustellung an den Bevollmächtigten der Person, gegen die er gerichtet ist, zu laufen beginnt.
Insoweit ist erstens festzustellen, dass Art. 6 der Richtlinie 2012/13 spezielle Regeln bezüglich des Rechts jeder verdächtigten oder beschuldigten Person festlegt, über die strafbare Handlung, deren sie verdächtigt oder beschuldigt wird, umgehend und so detailliert unterrichtet zu werden, dass ein faires Verfahren und eine wirksame Ausübung ihrer Verteidigungsrechte gewährleistet werden. Art. 6 Abs. 3 sieht ferner vor, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass spätestens dann, wenn einem Gericht die Anklageschrift vorgelegt wird, detaillierte Informationen über den Tatvorwurf erteilt werden.
Zwar erfolgt wegen des summarischen und vereinfachten Charakters des Verfahrens, in dem der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Strafbefehl ergangen ist, dessen Zustellung erst, nachdem das Gericht über den Tatvorwurf entschieden hat.
Gleichwohl hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Entscheidung des Richters im Strafbefehl nur vorläufigen Charakter hat und ihre Zustellung für den Beschuldigten die erste Gelegenheit einer Unterrichtung über den gegen ihn erhobenen Tatvorwurf darstellt, was dadurch bestätigt wird, dass dem Beschuldigten gegen den Strafbefehl kein Rechtsmittel zu einem anderen Gericht eröffnet ist, sondern ein Einspruch, der für ihn in ein gewöhnliches streitiges Verfahren vor demselben Richter mündet, in dem er seine Verteidigungsrechte in vollem Umfang wahrnehmen kann, bevor dieser Richter erneut über den gegen ihn erhobenen Tatvorwurf entscheidet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Oktober 2015, Covaci, C-216/14, EU:C:2015:686, Rn. 60).
Folglich ist die Zustellung eines Strafbefehls nach Art. 6 der Richtlinie 2012/13 als eine Form der Unterrichtung des Beschuldigten über den Tatvorwurf anzusehen, so dass sie den Anforderungen dieses Artikels genügen muss (Urteil vom 15. Oktober 2015, Covaci, C-216/14, EU:C:2015:686, Rn. 61).
Zweitens hat der Gerichtshof auch festgestellt, dass die Richtlinie 2012/13 nicht die Modalitäten der in ihrem Art. 6 vorgesehenen Unterrichtung des Beschuldigten über den Tatvorwurf regelt und dieser Artikel daher grundsätzlich nicht dem entgegensteht, dass der Beschuldigte, der nicht im betreffenden Mitgliedstaat wohnt, im Rahmen eines Strafverfahrens verpflichtet ist, für die Zustellung eines Strafbefehls wie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden einen Bevollmächtigten zu benennen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Oktober 2015, Covaci, C-216/14, EU:C:2015:686, Rn. 62 und 68).
Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich jedoch auch, dass die im Recht der Mitgliedstaaten festgelegten Modalitäten der Unterrichtung über den Tatvorwurf nicht das u. a. mit Art. 6 der Richtlinie 2012/13 verfolgte Ziel beeinträchtigen dürfen, das, wie sich auch aus dem 27. Erwägungsgrund der Richtlinie ergibt, darin besteht, Personen, die der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt werden, die Vorbereitung ihrer Verteidigung zu ermöglichen und ein faires Verfahren zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Oktober 2015, Covaci, C-216/14, EU:C:2015:686, Rn. 63, und vom 22. März 2017, Tranca u. a., C-124/16, C-188/16 und C-213/16, EU:C:2017:228, Rn. 38).
Ein solches Ziel verlangt jedoch ebenso wie die Notwendigkeit der Vermeidung jeder Diskriminierung zwischen den im Anwendungsbereich des betreffenden nationalen Gesetzes wohnhaften Beschuldigten und den nicht dort wohnhaften Beschuldigten, die allein verpflichtet sind, für die Zustellung gerichtlicher Entscheidungen einen Bevollmächtigten zu benennen, dass der Beschuldigte über die volle Frist von zwei Wochen verfügt, um gegen einen Strafbefehl wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Einspruch einzulegen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Oktober 2015, Covaci, C-216/14, EU:C:2015:686, Rn. 65, und vom 22. März 2017, Tranca u. a., C-124/16, C-188/16 und C-213/16, EU:C:2017:228, Rn. 40).
Daher muss der Beschuldigte ab dem Zeitpunkt, zu dem er von einem solchen Strafbefehl tatsächlich Kenntnis erlangt hat, so weit wie möglich in die gleiche Lage versetzt werden, als sei ihm der Strafbefehl persönlich zugestellt worden, und er muss insbesondere über die volle Einspruchsfrist verfügen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. März 2017, Tranca u. a., C-124/16, C-188/16 und C-213/16, EU:C:2017:228, Rn. 47).
Hierzu ist festzustellen, dass ein Strafbefehl wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende zwar rechtskräftig wird, wenn der Beschuldigte dagegen nicht innerhalb einer Frist von zwei Wochen, gerechnet ab Zustellung des Strafbefehls an seinen Bevollmächtigten und nicht ab der tatsächlichen Kenntnisnahme des Beschuldigten von dem Strafbefehl, Einspruch einlegt, die §§ 44 und 45 StPO nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts aber ein Verfahren der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vorsehen, das es ermöglicht, die Rechtskraft des Strafbefehls aufzuheben und trotz des Ablaufs der ursprünglichen Einspruchsfrist gegen diesen Einspruch einzulegen.
Daher ist drittens zu prüfen, ob das im nationalen Recht vorgesehene Verfahren der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und die Voraussetzungen, von denen dieses Recht die Durchführung dieses Verfahrens abhängig macht, mit den Anforderungen des Art. 6 der Richtlinie 2012/13 in Einklang stehen, und insbesondere, ob sie es ermöglichen, dass der betroffenen Person für die Einlegung eines Einspruchs gegen den gegen sie erlassenen Strafbefehl tatsächlich eine Frist von zwei Wochen ab dem Zeitpunkt, zu dem sie von diesem Strafbefehl tatsächlich Kenntnis erlangt hat, zur Verfügung steht.
Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass es in Anbetracht der Ausführungen in der Vorlageentscheidung und der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof nicht ausgeschlossen ist, dass der Beschuldigte in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nach den einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften gegen den Strafbefehl binnen einer Woche, nachdem er von diesem tatsächlich Kenntnis erlangt hat, Einspruch einlegen muss. § 45 StPO lässt sich nämlich offenbar dahin auslegen, dass der Einspruch innerhalb der Frist von einer Woche eingelegt werden muss, die diese Bestimmung für die Beantragung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vorsieht.
Eine solche Pflicht – ihr Vorliegen einmal unterstellt – verstieße gegen Art. 6 der Richtlinie 2012/13, da sie dazu führen würde, dass die Einspruchsfrist, die nach den Ausführungen in den Rn. 50 und 51 des vorliegenden Urteils dem Beschuldigten ab dem Zeitpunkt einzuräumen ist, zu dem er von dem ihn betreffenden Strafbefehl tatsächlich Kenntnis erlangt hat, um die Hälfte verkürzt würde.
Ferner ist festzustellen, dass der Beschuldigte nach den Angaben des vorlegenden Gerichts einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur stellen kann, wenn er nachweisen kann, dass er sich zeitnah bei seinem Zustellungsbevollmächtigten über die Existenz eines ihn betreffenden Strafbefehls erkundigt hat.
Eine solche Pflicht ist aber ebenso wenig mit den Anforderungen vereinbar, die sich aus Art. 6 der Richtlinie 2012/13 ergeben. Wie der Generalanwalt in Nr. 61 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, ergibt sich nämlich sowohl aus dem Wortlaut dieser Bestimmung als auch aus ihrer allgemeinen Systematik und dem mit der Richtlinie verfolgten Ziel, dass die Behörden der Mitgliedstaaten die Beschuldigten über den Tatvorwurf zu unterrichten haben und dass von den Beschuldigten nicht erwartet werden kann, dass sie sich zeitnah über etwaige Entwicklungen des sie betreffenden Strafverfahrens informieren.
Schließlich ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht darauf hinweist, dass der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand keine aufschiebende Wirkung habe.
Da sich aus § 44 Abs. 2 StGB offenbar ergibt, dass das mit einem Strafbefehl wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden verbundene Fahrverbot keine Wirkung entfaltet, solange die Einspruchsfrist nicht abgelaufen ist, was zu prüfen jedoch Sache des vorlegenden Gerichts ist, folgt aus den Ausführungen in Rn. 51 des vorliegenden Urteils, dass Art. 6 der Richtlinie 2012/13 verlangt, dass dieses Fahrverbot auch während der Frist von zwei Wochen ab der tatsächlichen Kenntnisnahme der betroffenen Person von dem gegen sie erlassenen Strafbefehl, während derer diese Person in der Lage sein muss, gegen diesen Strafbefehl Einspruch einzulegen, ausgesetzt ist.
Folglich steht Art. 6 der Richtlinie 2012/13 einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegen, nach der die Frist von zwei Wochen für die Einlegung eines Einspruchs gegen einen Strafbefehl wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ab dessen Zustellung an den Bevollmächtigten der Person, gegen die der Strafbefehl erlassen wurde, zu laufen beginnt, sofern diese Person ab ihrer Kenntnisnahme von dem Strafbefehl tatsächlich über eine Frist von zwei Wochen verfügt, um dagegen Einspruch einzulegen, gegebenenfalls im Anschluss an ein Verfahren zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder in dessen Rahmen, ohne dartun zu müssen, dass sie die erforderlichen Schritte unternommen hat, um sich zeitnah bei ihrem Bevollmächtigten über die Existenz dieses Strafbefehls zu erkundigen, und sofern dessen Wirkungen während dieser Frist ausgesetzt sind.
Als Zweites ist zu prüfen, ob Art. 6 der Richtlinie 2012/13 dem entgegensteht, dass eine Person strafrechtlich verurteilt werden kann, weil sie gegen ein Fahrverbot zu einem Zeitpunkt verstoßen hat, als der dieses Verbot anordnende Strafbefehl rechtskräftig war, wenn sie zu diesem Zeitpunkt keine Kenntnis von der Existenz eines solchen Strafbefehls hatte.
Hierzu ist erstens darauf hinzuweisen, dass das in Art. 6 der Richtlinie 2012/13 verankerte Recht die wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte beschuldigter oder strafrechtlich verfolgter Personen gewährleisten soll. Die praktische Wirksamkeit dieses Rechts wäre daher ernsthaft gefährdet, wenn es möglich wäre, sich auf einen Strafbefehl wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zu stützen, um festzustellen, dass dieselbe Person eine neue Straftat zu einem Zeitpunkt begangen hat, zu dem sie mangels Unterrichtung von dem ersten gegen sie eingeleiteten Strafverfahren noch nicht in der Lage war, sich gegen diesen Tatvorwurf zur Wehr zu setzen.
Folglich steht Art. 6 dem entgegen, dass die Nichtbeachtung eines Strafbefehls wie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden einer Person strafrechtlich zur Last gelegt werden kann, wenn er ihr nicht unter Beachtung der in dieser Bestimmung vorgesehenen Anforderungen mitgeteilt worden ist und sie die ihr darin zur Last gelegte Tat nicht gegebenenfalls auf dem im Recht des betreffenden Mitgliedstaats vorgesehenen Rechtsweg und unter Beachtung des Unionsrechts bestreiten konnte.
Wie in Rn. 57 des vorliegenden Urteils ausgeführt, verstieße es jedoch gegen den genannten Art. 6, wenn von der betroffenen Person verlangt würde, dafür zu sorgen, dass sie bei ihrem Zustellungsbevollmächtigten die notwendigen Schritte unternimmt, um sich zu vergewissern, dass er ihr den sie betreffenden Strafbefehl ordnungsgemäß übermittelt hat.
Daher ist Art. 6 der Richtlinie 2012/13 dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass eine Person verurteilt wird, weil sie gegen einen Strafbefehl wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zu einem Zeitpunkt verstoßen hat, zu dem nicht festgestellt werden kann, dass die zuständigen nationalen Behörden dafür gesorgt haben, dass die Person vom Inhalt des Strafbefehls tatsächlich Kenntnis erlangt.
Diese Auslegung von Art. 6 der Richtlinie 2012/13 gilt auch dann, wenn der Strafbefehl zu dem Zeitpunkt rechtskräftig geworden ist, zu dem die Person, an die er gerichtet ist, gegen ihn verstoßen haben soll, und zwar selbst dann, wenn diese Person nicht ab dem Zeitpunkt, zu dem sie von dem Strafbefehl Kenntnis erlangt hat, ein Verfahren zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand eingeleitet hat, um die Aufhebung der Rechtskraft des Strafbefehls zu erwirken.
Diese Auslegung beeinträchtigt nämlich nicht die erforderliche Einhaltung des Grundsatzes der Rechtskraft. Insoweit genügt die Feststellung, dass die Rechtskraft der ein Fahrverbot gegen eine Person anordnenden Verurteilung nicht schon allein deshalb missachtet wird, weil der Verstoß dieser Person gegen dieses Verbot nicht zwangsläufig zur Anordnung einer neuen strafrechtlichen Sanktion führt.
Zweitens ist festzustellen, dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, der besagt, dass das Unionsrecht dem Recht der Mitgliedstaaten vorgeht, alle mitgliedstaatlichen Stellen verpflichtet, den verschiedenen unionsrechtlichen Vorschriften volle Wirksamkeit zu verschaffen, wobei das Recht der Mitgliedstaaten die diesen verschiedenen Vorschriften zuerkannte Wirkung im Hoheitsgebiet dieser Staaten nicht beeinträchtigen darf (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. Juni 2019, Popławski, C-573/17, EU:C:2019:530, Rn. 53 und 54, und vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs], C-585/18, C-624/18 und C-625/18, EU:C:2019:982, Rn. 157 und 158).
Insoweit ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des innerstaatlichen Rechts, wonach es dem nationalen Gericht obliegt, das nationale Recht so weit wie möglich in Übereinstimmung mit dem Unionsrecht auszulegen, dem System der Verträge immanent ist, da dem nationalen Gericht dadurch ermöglicht wird, im Rahmen seiner Zuständigkeit die volle Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen, wenn es über den bei ihm anhängigen Rechtsstreit entscheidet. Außerdem ist jedes im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene nationale Gericht als Organ eines Mitgliedstaats verpflichtet, jede nationale Bestimmung, die einer Bestimmung des Unionsrechts, die in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit unmittelbare Wirkung hat, entgegensteht, unangewendet zu lassen (Urteile vom 24. Juni 2019, Popławski, C-573/17, EU:C:2019:530, Rn. 55 und 61, und vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs], C-585/18, C-624/18 und C-625/18, EU:C:2019:982, Rn. 159 und 161).
Drittens ist festzustellen, dass die Richtlinie 2012/13 – wie sich im Wesentlichen aus ihren Erwägungsgründen 14 und 41 ergibt – auf die u. a. in Art. 47 der Charta niedergelegten Rechte aufbaut und diese Rechte fördern soll (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2018, Kolev u. a., C-612/15, EU:C:2018:392, Rn. 88).
Insbesondere soll Art. 6 der Richtlinie 2012/13 – wie in Rn. 49 des vorliegenden Urteils ausgeführt – die wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte und ein faires Verfahren gewährleisten. Mit dieser Bestimmung wird somit ausdrücklich ein Aspekt des in Art. 47 der Charta verankerten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf verbürgt.
Folglich ist festzustellen, dass Art. 6 der Richtlinie 2012/13 ebenso wie Art. 47 der Charta, der aus sich heraus Wirkung entfaltet und nicht durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden muss, um dem Einzelnen ein Recht zu verleihen, das er als solches geltend machen kann, unmittelbare Wirkung hat (vgl. entsprechend Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs], C-585/18, C-624/18 und C-625/18, EU:C:2019:982, Rn. 162 und 163).
Daher hat das vorlegende Gericht im Rahmen seiner Zuständigkeit alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die volle Wirksamkeit dieses Art. 6 zu gewährleisten.
Wie in den Rn. 62 und 63 des vorliegenden Urteils ausgeführt, würde die praktische Wirksamkeit von Art. 6 der Richtlinie 2012/13 jedoch ernsthaft gefährdet, wenn eine Person verurteilt würde, weil sie gegen ein Verbot verstoßen hat, das durch einen Strafbefehl wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden angeordnet wurde, der ihr nicht unter Beachtung der Anforderungen dieses Artikels mitgeteilt worden ist.
Unter solchen Umständen hat das vorlegende Gericht im Rahmen seiner Zuständigkeit sein nationales Recht möglichst so auszulegen, dass die praktische Wirksamkeit von Art. 6 der Richtlinie 2012/13 gewahrt bleibt, und andernfalls jede entgegenstehende nationale Bestimmung unangewendet zu lassen.
Hinzuzufügen ist, dass die deutsche Regierung vor dem Gerichtshof geltend gemacht hat, dass denkbar sei, das nationale Recht in Bezug auf die Sorgfaltspflicht eines Beschuldigten, der keinen Wohnsitz im Inland habe, im Einklang mit den Anforderungen von Art. 6 der Richtlinie 2012/13 auszulegen, was zu prüfen jedoch Sache des vorlegenden Gerichts ist.
Nach alledem ist Art. 6 der Richtlinie 2012/13 dahin auszulegen,
dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, nach der die Frist von zwei Wochen für die Einlegung eines Einspruchs gegen einen ein Fahrverbot gegen eine Person anordnenden Strafbefehl mit dessen Zustellung an den Bevollmächtigten dieser Person zu laufen beginnt, sofern diese Person ab ihrer Kenntnisnahme von dem Strafbefehl tatsächlich über eine Frist von zwei Wochen verfügt, um dagegen Einspruch einzulegen, gegebenenfalls im Anschluss an ein Verfahren zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder in dessen Rahmen, ohne dartun zu müssen, dass sie die erforderlichen Schritte unternommen hat, um sich zeitnah bei ihrem Bevollmächtigten über die Existenz dieses Strafbefehls zu erkundigen, und sofern dessen Wirkungen während dieser Frist ausgesetzt sind,
dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der sich eine in einem anderen Mitgliedstaat wohnende Person, wenn sie einen Strafbefehl, mit dem ein Fahrverbot gegen sie angeordnet wird, nicht ab dem Zeitpunkt, zu dem dieser Strafbefehl rechtskräftig geworden ist, beachtet, einer strafrechtlichen Sanktion aussetzt, obwohl diese Person keine Kenntnis von der Existenz des Strafbefehls hatte, als sie gegen das mit ihm angeordnete Fahrverbot verstoßen hat.
In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen braucht nicht geprüft zu werden, ob die übrigen vom vorlegenden Gericht angeführten Bestimmungen des Unionsrechts einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 6 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren ist dahin auszulegen,
dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, nach der die Frist von zwei Wochen für die Einlegung eines Einspruchs gegen einen ein Fahrverbot gegen eine Person anordnenden Strafbefehl mit dessen Zustellung an den Bevollmächtigten dieser Person zu laufen beginnt, sofern diese Person ab ihrer Kenntnisnahme von dem Strafbefehl tatsächlich über eine Frist von zwei Wochen verfügt, um dagegen Einspruch einzulegen, gegebenenfalls im Anschluss an ein Verfahren zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder in dessen Rahmen, ohne dartun zu müssen, dass sie die erforderlichen Schritte unternommen hat, um sich zeitnah bei ihrem Bevollmächtigten über die Existenz dieses Strafbefehls zu erkundigen, und sofern dessen Wirkungen während dieser Frist ausgesetzt sind,
dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der sich eine in einem anderen Mitgliedstaat wohnende Person, wenn sie einen Strafbefehl, mit dem ein Fahrverbot gegen sie angeordnet wird, nicht ab dem Zeitpunkt, zu dem dieser Strafbefehl rechtskräftig geworden ist, beachtet, einer strafrechtlichen Sanktion aussetzt, obwohl diese Person keine Kenntnis von der Existenz des Strafbefehls hatte, als sie gegen das mit ihm angeordnete Fahrverbot verstoßen hat.
Unterschriften
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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