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EuGH 12.09.2019 - C-64/18, C-140/18, C-146/18, C-148/18
EuGH 12.09.2019 - C-64/18, C-140/18, C-146/18, C-148/18 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer) - 12. September 2019 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 56 AEUV – Freier Dienstleistungsverkehr – Entsendung von Arbeitnehmern – Bereithaltung und Übersetzung der Lohnunterlagen – Arbeitsgenehmigung – Sanktionen – Verhältnismäßigkeit – Geldstrafen mit im Vorhinein festgelegtem Mindestsatz – Kumulierung – Fehlende Höchstgrenze – Verfahrenskosten – Ersatzfreiheitsstrafe“
Leitsatz
In den verbundenen Rechtssachen C-64/18, C-140/18, C-146/18 und C-148/18
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesverwaltungsgericht Steiermark (Österreich) mit Entscheidungen vom 25. Januar 2018 (C-64/18), vom 31. Januar 2018 (C-140/18) sowie vom 16. Februar 2018 (C-146/18 und C-148/18), beim Gerichtshof eingegangen am 1. Februar 2018 (C-64/18), am 22. Februar 2018 (C-140/18) sowie am 23. Februar 2018 (C-146/18 und C-148/18), in den Verfahren
Zoran Maksimovic (C-64/18),
Humbert Jörg Köfler (C-140/18, C-146/18 und C-148/18),
Wolfgang Leitner (C-140/18 und C-148/18),
Joachim Schönbeck (C-140/18 und C-148/18),
Wolfgang Semper (C-140/18 und C-148/18)
gegen
Bezirkshauptmannschaft Murtal,
Beteiligte:
Finanzpolizei,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin C. Toader sowie der Richter L. Bay Larsen (Berichterstatter) und M. Safjan,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: M. Krausenböck, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. Mai 2019,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
von Herrn Maksimovic, vertreten durch die Rechtsanwälte R. Grilc, R. Vouk, M. Škof, M. Ranc und S. Grilc,
von Herrn Köfler, Herrn Leitner, Herrn Schönbeck und Herrn Semper, vertreten durch die Rechtsanwälte E. Oberhammer und P. Pardatscher,
der Finanzpolizei, vertreten durch B. Schlögl als Bevollmächtigten,
der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Hesse als Bevollmächtigten,
der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil, J. Pavliš und L. Dvořáková als Bevollmächtigte,
der kroatischen Regierung, zunächst vertreten durch T. Galli, dann durch M. Vidović als Bevollmächtigte,
der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, G. Tornyai und G. Koós als Bevollmächtigte,
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
der slowenischen Regierung, vertreten durch A. Grum und J. Morela als Bevollmächtigte,
der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Kellerbauer, L. Malferrari und H. Krämer als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssachen zu entscheiden,
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 56 AEUV, der Art. 47 und 49 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. 1997, L 18, S. 1) sowie der Richtlinie 2014/67/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Durchsetzung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 über die Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe des Binnenmarkt-Informationssystems („IMI-Verordnung“) (ABl. 2014, L 159, S. 11).
Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen Herrn Zoran Maksimovic, Herrn Humbert Jörg Köfler, Herrn Wolfgang Leitner, Herrn Joachim Schönbeck und Herrn Wolfgang Semper einerseits und der Bezirkshauptmannschaft Murtal (Österreich) andererseits über Geldstrafen, die von der Bezirkshauptmannschaft wegen diverser Verstöße gegen Bestimmungen des österreichischen Arbeitsrechts gegen die genannten Personen verhängt wurden.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2006/123/EG
Art. 1 Abs. 6 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (ABl. 2006, L 376, S. 36) lautet:
„Diese Richtlinie berührt nicht das Arbeitsrecht, d. h. gesetzliche oder vertragliche Bestimmungen über Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, einschließlich des Gesundheitsschutzes und der Sicherheit am Arbeitsplatz, und über die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die von den Mitgliedstaaten gemäß nationalem Recht unter Wahrung des Gemeinschaftsrechts angewandt werden. In gleicher Weise berührt die Richtlinie auch nicht die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die soziale Sicherheit.“
Richtlinie 2014/67
Art. 23 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2014/67 sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten erlassen die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie ab dem 18. Juni 2016 nachzukommen. Sie setzen die Kommission hiervon unverzüglich in Kenntnis.“
Österreichisches Recht
§ 7d des Arbeitsvertragsrechts-Anpassungsgesetzes (BGBl. Nr. 459/1993) in seiner auf die Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: AVRAG) sieht vor:
„(1) Arbeitgeber/innen … haben während des Zeitraums der Entsendung insgesamt … den Arbeitsvertrag oder Dienstzettel …, Lohnzettel, Lohnzahlungsnachweise … zur Überprüfung des dem/der entsandten Arbeitnehmers/in für die Dauer der Beschäftigung nach den österreichischen Rechtsvorschriften gebührenden Entgelts in deutscher Sprache am Arbeits(Einsatz)ort bereitzuhalten …
(2) Bei einer grenzüberschreitenden Arbeitskräfteüberlassung trifft die Verpflichtung zur Bereithaltung der Lohnunterlagen den/die inländische/n Beschäftiger/in. Der/Die Überlasser/in hat dem/der Beschäftiger/in die Unterlagen nachweislich bereitzustellen.
…“
In § 7i Abs. 4 AVRAG heißt es:
„Wer als
Arbeitgeber/in … entgegen § 7d die Lohnunterlagen nicht bereithält, oder
Überlasser/in im Falle einer grenzüberschreitenden Arbeitskräfteüberlassung entgegen § 7d Abs. 2 die Lohnunterlagen dem/der Beschäftiger/in nicht nachweislich bereitstellt, oder
Beschäftiger/in im Falle einer grenzüberschreitenden Arbeitskräfteüberlassung entgegen § 7d Abs. 2 die Lohnunterlagen nicht bereithält,
begeht eine Verwaltungsübertretung und ist von der Bezirksverwaltungsbehörde für jede/n Arbeitnehmer/in mit einer Geldstrafe von 1000 Euro bis 10000 Euro, im Wiederholungsfall von 2000 Euro bis 20000 Euro, sind mehr als drei Arbeitnehmer/innen betroffen, für jede/n Arbeitnehmer/in von 2000 Euro bis 20000 Euro, im Wiederholungsfall von 4000 Euro bis 50000 Euro zu bestrafen.“
In § 28 Abs. 1 des Ausländerbeschäftigungsgesetzes (BGBl. Nr. 218/1975) in seiner auf die Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: AuslBG) heißt es:
„Sofern die Tat nicht den Tatbestand einer in die Zuständigkeit der Gerichte fallenden strafbaren Handlung bildet (§ 28c), begeht eine Verwaltungsübertretung und ist von der Bezirksverwaltungsbehörde zu bestrafen,
wer
entgegen § 3 einen Ausländer beschäftigt, für den [keine] Beschäftigungsbewilligung erteilt … wurde …
…
bei unberechtigter Beschäftigung von höchstens drei Ausländern für jeden unberechtigt beschäftigten Ausländer mit Geldstrafe von 1000 Euro bis 10000 Euro, im Falle der erstmaligen und weiteren Wiederholung von 2000 Euro bis 20000 Euro, bei unberechtigter Beschäftigung von mehr als drei Ausländern für jeden unberechtigt beschäftigten Ausländer mit Geldstrafe von 2000 Euro bis 20000 Euro, im Falle der erstmaligen und weiteren Wiederholung von 4000 Euro bis 50000 Euro;
…“
§ 52 Abs. 1 und 2 des Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetzes (BGBl. I Nr. 33/2013) in seiner auf die Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung bestimmt:
„(1) In jedem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes, mit dem ein Straferkenntnis bestätigt wird, ist auszusprechen, dass der Bestrafte einen Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens zu leisten hat.
(2) Dieser Beitrag ist für das Beschwerdeverfahren mit 20 % der verhängten Strafe, mindestens jedoch mit zehn Euro zu bemessen; bei Freiheitsstrafen ist zur Berechnung der Kosten ein Tag Freiheitsstrafe gleich 100 Euro anzurechnen. …“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Am 23. März 2014 kam es im Werk der Zellstoff Pöls AG in Pöls (Österreich) zu einer Explosion, bei der große Teile eines Laugenkessels zerstört wurden.
Mit Vertrag vom 11. Juli 2014 beauftragte die Zellstoff Pöls die in Österreich ansässige Andritz AG mit den Arbeiten zur Sanierung und Wiederinbetriebnahme der Kesselanlage.
Am 27. August 2014 beauftragte Andritz die in Kroatien ansässige Bilfinger Duro Dakovic Montaza d.o.o. (im Folgenden: Bilfinger) mit der Demontage und der mechanischen Montage des Kessels. Diese entsandte zur Durchführung der Arbeiten Arbeitnehmer nach Österreich, für die von den zuständigen österreichischen Behörden Entsendebestätigungen ausgestellt wurden.
Nachdem Bilfinger den zum 25. August 2015 geplanten Fertigstellungstermin nicht einhalten konnte, wurde zwischen ihr und Andritz vereinbart, die ursprünglich an Bilfinger vergebenen Arbeiten ersatzweise von der in Kroatien ansässigen Brodmont d.o.o. fertigstellen zu lassen. Ein entsprechender Vertrag wurde am 11. September 2015 abgeschlossen.
Zwischen dem 14. September 2015 und dem 30. Oktober 2015 waren auf der betreffenden Baustelle für Brodmont 217 Arbeitskräfte im Einsatz, wobei diese Gesellschaft sämtliche dort von Bilfinger beschäftigten Arbeiter übernahm.
Am 27. September sowie am 13. und 28. Oktober 2015 führte die österreichische Finanzpolizei Kontrollen auf der Baustelle durch, bei denen ihr nicht die vollständigen Lohnunterlagen aller 217 Arbeiter vorgelegt werden konnten.
Auf der Grundlage von Erhebungen der Finanzpolizei im Zuge dieser Kontrollen verhängte die Bezirkshauptmannschaft Murtal Verwaltungsstrafen gegen die Beschwerdeführer der Ausgangsverfahren. Nach Ansicht dieser Behörde lag keine Arbeitnehmerentsendung vor, sondern eine grenzüberschreitende Arbeitskräfteüberlassung von Brodmont an Andritz. Hingegen wurde ihnen nach den Angaben in den Vorlageentscheidungen kein Verstoß gegen ihre Pflichten in Bezug auf die Leistung des Mindestlohns vorgeworfen.
Mit Bescheid vom 19. April 2017 verhängte die Bezirkshauptmannschaft Murtal eine Geldstrafe in Höhe von insgesamt 3255000 Euro gegen Herrn Maksimovic, den Geschäftsführer von Brodmont. Sie legte Brodmont zur Last, gegen ihre in § 7d AVRAG vorgesehene Verpflichtung als Überlasserin der 217 Arbeitskräfte verstoßen zu haben, der Beschäftigerin Andritz die Lohnunterlagen dieser Arbeitskräfte bereitzustellen.
Mit Bescheiden vom 25. April und vom 5. Mai 2017 verhängte die Behörde ferner Geldstrafen von 2604000 Euro und 2400000 Euro gegen jedes der vier Vorstandsmitglieder von Andritz (Herrn Köfler, Herrn Leitner, Herrn Schönbeck und Herrn Semper) wegen Nichteinhaltung bestimmter Pflichten nach § 7d AVRAG und § 28 Abs. 1 Z 1 lit. a in Verbindung mit § 3 Abs. 1 AuslBG hinsichtlich der Bereithaltung von Lohnunterlagen durch diese Gesellschaft als Beschäftigerin der genannten Arbeiter sowie der Einholung von Beschäftigungsbewilligungen für 200 kroatische, serbische und bosnische Arbeitskräfte. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass diese Geldstrafen im Fall ihrer Uneinbringlichkeit in Ersatzfreiheitsstrafen von 1736 und 1600 Tagen umgewandelt würden.
Die von den Verwaltungsstrafen betroffenen Personen haben gegen die Bescheide Beschwerden beim vorlegenden Gericht erhoben.
Dieses Gericht hegt zunächst Zweifel an der Vereinbarkeit einer Regelung wie der in den Ausgangsverfahren fraglichen, die zwar den Gerichten einen gewissen Ermessensspielraum bei der Strafbemessung einräume, ihn jedoch durch das Zusammenspiel von Kumulationsprinzip, strafsatzändernden Umständen und hohen Mindeststrafen so stark einschränke, dass sich selbst bei Verhängung der niedrigsten möglichen Strafe eine sehr hohe Gesamtstrafe ergebe, mit dem unionsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen.
Weiters möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Möglichkeit der Verhängung einer mehrjährigen Ersatzfreiheitsstrafe im Fall der Uneinbringlichkeit einer Geldstrafe für ein fahrlässig begangenes Verwaltungsdelikt mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang steht.
Schließlich sei im Fall der Abweisung der Beschwerde gemäß § 52 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz in der auf die Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung den Beschwerdeführern ein Verfahrenskostenbeitrag in Höhe von 20 % der verhängten Geldstrafe aufzuerlegen.
In diesem Zusammenhang hat das Landesverwaltungsgericht Steiermark (Österreich) beschlossen, die Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
In der Rechtssache C-64/18:
Sind Art. 56 AEUV sowie die Richtlinie 96/71 und die Richtlinie 2014/67 dahin gehend auszulegen, dass sie einer nationalen Norm, welche für Verstöße gegen formale Verpflichtungen bei grenzüberschreitendem Arbeitskräfteeinsatz, wie die unterlassene Bereitstellung von Lohnunterlagen seitens des Überlassers an den Beschäftiger, sehr hohe Geldbußen, insbesondere hohe Mindeststrafen vorsieht, welche kumulativ pro betroffenem Arbeitnehmer verhängt werden, entgegenstehen?
Für den Fall, dass nicht schon die Frage 1 bejaht wird:
Sind Art. 56 AEUV sowie die Richtlinie 96/71 und die Richtlinie 2014/67 dahin gehend auszulegen, dass sie der Verhängung kumulativer Geldbußen bei Verstößen gegen formale Verpflichtungen bei grenzüberschreitendem Arbeitskräfteeinsatz ohne absolute Höchstgrenzen entgegenstehen?
In der Rechtssache C-140/18:
Sind Art. 56 AEUV sowie die Richtlinie 96/71 und die Richtlinie 2014/67 dahin gehend auszulegen, dass sie einer nationalen Norm, welche für Verstöße gegen formale Verpflichtungen bei grenzüberschreitendem Arbeitskräfteeinsatz, wie die unterlassene Bereitstellung von Lohnunterlagen seitens des Überlassers an den Beschäftiger, sehr hohe Geldbußen, insbesondere hohe Mindeststrafen vorsieht, welche kumulativ pro betroffenem Arbeitnehmer verhängt werden, entgegenstehen?
Für den Fall, dass nicht schon die Frage 1 bejaht wird:
Sind Art. 56 AEUV sowie die Richtlinie 96/71 und die Richtlinie 2014/67 dahin gehend auszulegen, dass sie der Verhängung kumulativer Geldbußen bei Verstößen gegen formale Verpflichtungen bei grenzüberschreitendem Arbeitskräfteeinsatz ohne absolute Höchstgrenzen entgegenstehen?
Für den Fall, dass nicht schon die Frage 1 oder 2 bejaht wird:
Ist Art. 49 Abs. 3 der Charta dahin gehend auszulegen, dass er einer nationalen Norm, welche für Fahrlässigkeitsdelikte unbeschränkt hohe Geldstrafen und mehrjährige Ersatzfreiheitsstrafen vorsieht, entgegensteht?
In der Rechtssache C-146/18:
Sind die Art. 47 und 49 der Charta dahin gehend auszulegen, dass sie einer nationalen Norm, welche zwingend einen Beitrag als Verfahrenskosten für das Beschwerdeverfahren mit 20 % der verhängten Strafe vorsieht, entgegenstehen?
In der Rechtssache C-148/18:
Ist Art. 49 Abs. 3 der Charta dahin gehend auszulegen, dass er einer nationalen Norm, welche für Fahrlässigkeitsdelikte unbeschränkt hohe Geldbußen, insbesondere hohe Mindeststrafen und mehrjährige Ersatzfreiheitsstrafen vorsieht, entgegensteht?
Mit Beschlüssen des Präsidenten des Gerichtshofs sind die Rechtssachen C-64/18, C-140/18, C-146/18 und C-148/18 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.
Zu den Vorlagefragen
Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 56 AEUV, die Art. 47 und 49 der Charta, die Richtlinie 96/71 sowie die Richtlinie 2014/67 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung wie der in den Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, die für den Fall der Nichteinhaltung arbeitsrechtlicher Verpflichtungen in Bezug auf die Einholung verwaltungsbehördlicher Genehmigungen und auf die Bereithaltung von Lohnunterlagen die Verhängung von Geldstrafen vorsieht,
die einen im Vorhinein festgelegten Betrag nicht unterschreiten dürfen,
die für jeden betreffenden Arbeitnehmer kumulativ und ohne Beschränkung verhängt werden,
zu denen im Fall der Abweisung einer gegen den Strafbescheid erhobenen Beschwerde ein Verfahrenskostenbeitrag in Höhe von 20 % der verhängten Strafe hinzutritt und
die im Fall der Uneinbringlichkeit in Ersatzfreiheitsstrafen umgewandelt werden.
Vorbemerkungen
Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts bestimmt die in den Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung nicht unmittelbar die nach den österreichischen Rechtsvorschriften anwendbaren Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, sondern soll zur Sicherstellung der Wirksamkeit der Kontrollen dienen, die von den zuständigen österreichischen Behörden zur Wahrung der Einhaltung dieser Bedingungen durchgeführt werden können.
Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass derartige Kontrollmaßnahmen nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 96/71 fallen, denn diese dient zur Koordinierung der nationalen materiellen Regelungen über die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen der entsandten Arbeitnehmer, unabhängig von verwaltungsrechtlichen Nebenbestimmungen, die die Überwachung der Einhaltung dieser Bedingungen erlauben sollen (Urteil vom 3. Dezember 2014, De Clercq u. a., C-315/13, EU:C:2014:2408, Rn. 47).
Ferner ergibt sich aus den Vorlageentscheidungen, dass die Sachverhalte der Ausgangsverfahren die Monate September und Oktober 2015 betreffen. Daraus folgt, dass die Richtlinie 2014/67, deren Umsetzungsfrist nach ihrem Art. 23 am 18. Juni 2016 ablief und die mit einem im Juni 2016 erlassenen und am 1. Januar 2017 in Kraft getretenen Gesetz in österreichisches Recht umgesetzt wurde, vorliegend nicht anwendbar ist (vgl. entsprechend Urteil vom 13. November 2018, Čepelnik, C-33/17, EU:C:2018:896, Rn. 27).
Schließlich ist, da manche Beteiligte in ihren Erklärungen vor dem Gerichtshof die Auffassung vertreten haben, dass er seine Beantwortung der Vorlagefragen auch auf die Richtlinie 2006/123 gründen solle, darauf hinzuweisen, dass diese Richtlinie gemäß ihrem Art. 1 Abs. 6 nicht den Erlass einer nationalen Regelung mit abschreckenden Maßnahmen zur Durchsetzung von materiellem Arbeitsrecht berührt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. November 2018, Čepelnik, C-33/17, EU:C:2018:896, Rn. 29 bis 35).
Angesichts dessen ist davon auszugehen, dass die Richtlinien 96/71, 2014/67 und 2006/123 für die Beantwortung der vom vorlegenden Gericht zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen nicht maßgebend sind.
Zur Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs
Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind alle Maßnahmen, die die Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs untersagen, behindern oder weniger attraktiv machen, als Beschränkungen dieser Freiheit zu verstehen. Ferner verleiht Art. 56 AEUV nicht nur dem Erbringer von Dienstleistungen selbst, sondern auch ihrem Empfänger Rechte (Urteil vom 13. November 2018, Čepelnik, C-33/17, EU:C:2018:896, Rn. 37 und 38 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
Überdies hat der Gerichtshof entschieden, dass eine nationale Regelung, die im Rahmen einer Arbeitnehmerentsendung die Verpflichtung vorsieht, im Aufnahmemitgliedstaat bestimmte Arbeits- und Sozialunterlagen zu erstellen und zu führen, für die in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Unternehmen zusätzliche administrative und wirtschaftliche Kosten und Belastungen verursachen kann und somit eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. November 1999, Arblade u. a., C-369/96 und C-376/96, EU:C:1999:575, Rn. 58 und 59, vom 18. Juli 2007, Kommission/Deutschland, C-490/04, EU:C:2007:430, Rn. 66 bis 69, sowie vom 7. Oktober 2010, dos Santos Palhota u. a., C-515/08, EU:C:2010:589, Rn. 42 bis 44).
Zur Entsendung drittstaatsangehöriger Arbeitnehmer durch ein in einem Mitgliedstaat der Union ansässiges Dienstleistungsunternehmen hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass eine nationale Regelung, die die Erbringung von Dienstleistungen im Inland durch ein in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenes Unternehmen von der Erteilung einer behördlichen Erlaubnis abhängig macht, eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs im Sinne von Art. 56 AEUV darstellt (Urteil vom 14. November 2018, Danieli & C. Officine Meccaniche u. a., C-18/17, EU:C:2018:904, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Somit ist eine nationale Regelung, die vorsieht, dass im Fall der Nichteinhaltung von Verpflichtungen, die für sich genommen den freien Dienstleistungsverkehr beschränken, sowohl gegen den Erbringer von Dienstleistungen als auch gegen ihren Empfänger Sanktionen verhängt werden, geeignet, die Ausübung dieser Freiheit weniger attraktiv zu machen.
Folglich stellt eine nationale Regelung wie die in den Ausgangsverfahren fragliche eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs dar.
Zur Rechtfertigung der Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs
Nach gefestigter Rechtsprechung des Gerichtshofs können nationale Maßnahmen, die geeignet sind, die Ausübung der durch den AEU-Vertrag garantierten Grundfreiheiten zu behindern oder weniger attraktiv zu machen, dennoch zulässig sein, wenn sie zwingenden Gründen des Allgemeininteresses entsprechen, wenn sie geeignet sind, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Ziels zu gewährleisten, und wenn sie nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (Urteil vom 13. November 2018, Čepelnik, C-33/17, EU:C:2018:896, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Im vorliegenden Fall ist die österreichische Regierung der Auffassung, dass die in den Ausgangsverfahren fragliche Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs durch die Ziele des sozialen Schutzes der Arbeitnehmer sowie der Bekämpfung von Betrug, insbesondere Sozialbetrug, und der Verhinderung von Missbräuchen gerechtfertigt sei.
Der soziale Schutz der Arbeitnehmer sowie die Bekämpfung von Betrug, insbesondere Sozialbetrug, und die Verhinderung von Missbräuchen sind Ziele, die zu den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gehören, mit denen eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs gerechtfertigt werden kann (Urteil vom 13. November 2018, Čepelnik, C-33/17, EU:C:2018:896, Rn. 44).
In diesem Zusammenhang kann eine Regelung wie die in den Ausgangsverfahren fragliche, die Sanktionen für Verstöße gegen arbeitsrechtliche Verpflichtungen vorsieht, mit denen die genannten Ziele erreicht werden sollen, als zur Sicherstellung der Einhaltung solcher Verpflichtungen und damit zur Erreichung der verfolgten Ziele geeignet angesehen werden.
Insoweit ist hinsichtlich der Erforderlichkeit einer Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs wie der in den Ausgangsverfahren fraglichen darauf hinzuweisen, dass die Härte der verhängten Sanktion der Schwere des mit ihr geahndeten Verstoßes entsprechen muss. Außerdem dürfen die nach den nationalen Rechtsvorschriften zulässigen administrativen oder repressiven Maßnahmen nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit diesen Rechtsvorschriften in legitimer Weise verfolgten Ziele erforderlich ist (vgl. entsprechend Urteil vom 31. Mai 2018, Zheng, C-190/17, EU:C:2018:357, Rn. 41 und 42 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
In diesem Zusammenhang ist erstens festzustellen, dass mit einer Regelung wie der in den Ausgangsverfahren fraglichen die Nichteinhaltung arbeitsrechtlicher Vorschriften über die Einholung verwaltungsbehördlicher Genehmigungen sowie die Bereithaltung von Lohnunterlagen geahndet werden soll.
Zweitens erscheint eine Regelung, die Sanktionen vorsieht, deren Höhe von der Zahl der von der Nichteinhaltung bestimmter arbeitsrechtlicher Verpflichtungen betroffenen Arbeitnehmer abhängt, für sich genommen nicht unverhältnismäßig (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juli 2015, Chmielewski, C-255/14, EU:C:2015:475, Rn. 26).
Der hohe Betrag der zur Ahndung der Nichteinhaltung solcher Verpflichtungen vorgesehenen Geldstrafen kann allerdings in Verbindung damit, dass es für sie keine Obergrenze gibt, wenn der Verstoß mehrere Arbeitskräfte betrifft, zur Verhängung beträchtlicher Geldstrafen führen, die sich, wie im vorliegenden Fall, auf mehrere Millionen Euro belaufen können.
Zudem kann der Umstand, dass die Geldstrafen einen im Vorhinein festgelegten Mindestbetrag jedenfalls nicht unterschreiten dürfen, dazu führen, dass solche Sanktionen in Fällen verhängt werden, in denen nicht erwiesen ist, dass der beanstandete Sachverhalt von besonderer Schwere ist.
Drittens führt das vorlegende Gericht aus, dass nach der in den Ausgangsverfahren anwendbaren innerstaatlichen Regelung im Fall der Abweisung der Beschwerde gegen den Bescheid, mit dem eine solche Sanktion verhängt wird, der Beschwerdeführer einen Verfahrenskostenbeitrag in Höhe von 20 % der Sanktion leisten muss.
Viertens ergibt sich aus den Vorlageentscheidungen, dass die in den Ausgangsverfahren fragliche Regelung für den Fall der Uneinbringlichkeit der verhängten Geldstrafe die Verhängung einer Ersatzfreiheitsstrafe vorsieht, die angesichts der daraus resultierenden Folgen für den Betroffenen besonders schwerwiegend ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. Juli 1980, Pieck, 157/79, EU:C:1980:179, Rn. 19, vom 29. Februar 1996, Skanavi und Chryssanthakopoulos, C-193/94, EU:C:1996:70, Rn. 36, und vom 26. Oktober 2017, I, C-195/16, EU:C:2017:815, Rn. 77).
In Anbetracht dessen steht eine Regelung wie die in den Ausgangsverfahren fragliche nicht in angemessenem Verhältnis zur Schwere der geahndeten Verstöße, die in der Nichteinhaltung arbeitsrechtlicher Verpflichtungen in Bezug auf die Einholung verwaltungsbehördlicher Genehmigungen und die Bereithaltung von Lohnunterlagen bestehen.
Im Übrigen könnte die wirksame Durchsetzung der Verpflichtungen, deren Nichteinhaltung durch diese Regelung geahndet wird, auch mit weniger einschränkenden Maßnahmen wie der Auferlegung von Geldstrafen in geringerer Höhe oder einer Höchstgrenze für solche Strafen gewährleistet werden, und ohne sie zwangsläufig mit Ersatzfreiheitsstrafen zu verknüpfen.
Somit ist davon auszugehen, dass eine Regelung wie die in den Ausgangsverfahren fragliche über die Grenzen dessen hinausgeht, was zur Gewährleistung der Einhaltung der arbeitsrechtlichen Verpflichtungen in Bezug auf die Einholung verwaltungsbehördlicher Genehmigungen und die Bereithaltung von Lohnunterlagen sowie zur Sicherstellung der Erreichung der verfolgten Ziele erforderlich ist.
Angesichts dieser Erwägungen ist die Vereinbarkeit einer solchen Regelung mit den Art. 47 und 49 der Charta nicht zu prüfen.
Nach alledem ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der in den Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die für den Fall der Nichteinhaltung arbeitsrechtlicher Verpflichtungen in Bezug auf die Einholung verwaltungsbehördlicher Genehmigungen und auf die Bereithaltung von Lohnunterlagen die Verhängung von Geldstrafen vorsieht,
die einen im Vorhinein festgelegten Betrag nicht unterschreiten dürfen,
die für jeden betreffenden Arbeitnehmer kumulativ und ohne Beschränkung verhängt werden,
zu denen im Fall der Abweisung einer gegen den Strafbescheid erhobenen Beschwerde ein Verfahrenskostenbeitrag in Höhe von 20 % der verhängten Strafe hinzutritt und
die im Fall der Uneinbringlichkeit in Ersatzfreiheitsstrafen umgewandelt werden.
Kosten
Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:
Art. 56 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der in den Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die für den Fall der Nichteinhaltung arbeitsrechtlicher Verpflichtungen in Bezug auf die Einholung verwaltungsbehördlicher Genehmigungen und auf die Bereithaltung von Lohnunterlagen die Verhängung von Geldstrafen vorsieht,
die einen im Vorhinein festgelegten Betrag nicht unterschreiten dürfen,
die für jeden betreffenden Arbeitnehmer kumulativ und ohne Beschränkung verhängt werden,
zu denen im Fall der Abweisung einer gegen den Strafbescheid erhobenen Beschwerde ein Verfahrenskostenbeitrag in Höhe von 20 % der verhängten Strafe hinzutritt und
die im Fall der Uneinbringlichkeit in Ersatzfreiheitsstrafen umgewandelt werden.
Toader
Bay Larsen
Safjan
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 12. September 2019.
Der Kanzler
A. Calot Escobar
Die Präsidentin der Sechsten Kammer
C. Toader
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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