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EuGH 08.05.2024 - C-734/22
EuGH 08.05.2024 - C-734/22 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer) - 8. Mai 2024 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Eigenmittel der Europäischen Union – Aus dem Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) kofinanziertes nationales Programm – In Durchführung dieses Programms vertraglich gewährte Beihilfen – Schutz der finanziellen Interessen der Union – Verordnung (EG) Nr. 2988/95 – Anwendungsbereich – Verfolgung von Unregelmäßigkeiten – Art. 3 – Verjährungsfrist für die Verfolgung – Begriff der die Verjährung unterbrechenden Handlung – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beihilfen nach dem Privatrecht eines Mitgliedstaats“
Leitsatz
In der Rechtssache C-734/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Obersten Gerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 17. Oktober 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 29. November 2022, in dem Verfahren
Republik Österreich
gegen
GM
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Piçarra (Berichterstatter) sowie der Richter N. Jääskinen und M. Gavalec,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
von GM, vertreten durch Rechtsanwälte L. Peissl und J. Reich-Rohrwig,
der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll und E. Samoilova als Bevollmächtigte,
der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Blanc, B. Hofstötter und A. Sauka als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1995, L 312, S. 1) sowie des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Republik Österreich und der natürlichen Person GM über die Verjährungsfrist für die Rückforderung von Beihilfen, die zu Unrecht an GM gezahlt wurden.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
In den Erwägungsgründen 3 und 4 der Verordnung Nr. 2988/95 heißt es:
„… Es ist … wichtig, in allen Bereichen Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der [Europäischen] Gemeinschaften zu bekämpfen.
Um die Bekämpfung des Betrugs zum Nachteil der finanziellen Interessen der Gemeinschaften wirksam zu gestalten, muss ein allen Bereichen der Gemeinschaftspolitik gemeinsamer rechtlicher Rahmen festgelegt werden.“
Art. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 lautet:
„(1) Zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften wird eine Rahmenregelung für einheitliche Kontrollen sowie für verwaltungsrechtliche Maßnahmen und Sanktionen bei Unregelmäßigkeiten in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht getroffen.
(2) Der Tatbestand der Unregelmäßigkeit ist bei jedem Verstoß gegen eine Gemeinschaftsbestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers gegeben, die einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Gemeinschaften oder die Haushalte, die von den Gemeinschaften verwaltet werden, bewirkt hat bzw. haben würde, sei es durch die Verminderung oder den Ausfall von Eigenmitteleinnahmen, die direkt für Rechnung der Gemeinschaften erhoben werden, sei es durch eine ungerechtfertigte Ausgabe.“
Art. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 sieht vor:
„(1) Die Verjährungsfrist für die Verfolgung beträgt vier Jahre ab Begehung der Unregelmäßigkeit nach Artikel 1 Absatz 1. Jedoch kann in den sektorbezogenen Regelungen eine kürzere Frist vorgesehen werden, die nicht weniger als drei Jahre betragen darf.
Bei andauernden oder wiederholten Unregelmäßigkeiten beginnt die Verjährungsfrist an dem Tag, an dem die Unregelmäßigkeit beendet wird. Bei den mehrjährigen Programmen läuft die Verjährungsfrist auf jeden Fall bis zum endgültigen Abschluss des Programms.
Die Verfolgungsverjährung wird durch jede der betreffenden Person zur Kenntnis gebrachte Ermittlungs- oder Verfolgungshandlung der zuständigen Behörde unterbrochen. Nach jeder eine Unterbrechung bewirkenden Handlung beginnt die Verjährungsfrist von neuem.
Die Verjährung tritt jedoch spätestens zu dem Zeitpunkt ein, zu dem eine Frist, die doppelt so lang ist wie die Verjährungsfrist, abläuft, ohne dass die zuständige Behörde eine Sanktion verhängt hat; ausgenommen sind die Fälle, in denen das Verwaltungsverfahren gemäß Artikel 6 Absatz 1 ausgesetzt worden ist.
…
(3) Die Mitgliedstaaten behalten die Möglichkeit, eine längere Frist als die in Absatz 1 bzw. Absatz 2 vorgesehene Frist anzuwenden.“
Österreichisches Recht
§ 1478 („Verjährungszeit. Allgemeine.“) des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: ABGB) sieht für den „bloße[n] Nichtgebrauch eines Rechtes, das an sich schon hätte ausgeübt werden können“, eine Verjährungsfrist von 30 Jahren vor.
§ 1489 ABGB lautet:
„Jede Entschädigungsklage ist in drei Jahren von der Zeit an verjährt, zu welcher der Schade und die Person des Beschädigers dem Beschädigten bekannt wurde, der Schade mag durch Übertretung einer Vertragspflicht oder ohne Beziehung auf einen Vertrag verursacht worden sein. Ist dem Beschädigten der Schade oder die Person des Beschädigers nicht bekannt geworden oder ist der Schade aus einer oder mehreren gerichtlich strafbaren Handlungen, die nur vorsätzlich begangen werden können und mit mehr als einjähriger Freiheitsstrafe bedroht sind, entstanden, so erlischt das Klagerecht nur nach dreißig Jahren.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
In Durchführung des Österreichischen Programms für umweltgerechte Landwirtschaft, das gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1698/2005 des Rates vom 20. September 2005 über die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums durch den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) (ABl. 2005, L 277, S. 1) aus dem Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) kofinanziert und von der Agrarmarkt Austria (im Folgenden: AMA) verwaltet wurde, bot die Republik Österreich Beihilfen für den Zeitraum 2007 bis 2013 an. Diese Beihilfen wurden aufgrund privatrechtlicher Verträge zwischen diesem Mitgliedstaat und den Beihilfewerbern gezahlt, wobei diese hierfür mehrjährige Verpflichtungen eingehen mussten.
Anlässlich einer 2013 bei GM, der eine solche Beihilfe erhalten hatte, durchgeführten Kontrolle, stellte die AMA Abweichungen zwischen den Flächen, für die ein Beihilfeantrag gestellt worden war, und den tatsächlich beihilfefähigen Flächen fest. Sie forderte GM daher auf, die in den Jahren 2008 bis 2010 und 2012 bis 2013 gewährten Prämien zurückzuzahlen.
Nachdem die AMA GM einen Prüfbericht sowie zwei Rückforderungsmitteilungen vom 26. März bzw. 26. Juni 2014 sowie Zahlungserinnerungen vom 11. Mai bzw. 12. November 2015 übermittelt hatte, schickte sie ihm am 16. Dezember 2015 unter Androhung von „rechtlichen Schritten“ eine Mahnung.
Da GM keine Zahlung leistete, erhob die Republik Österreich am 26. April 2019 beim erstinstanzlichen Zivilgericht gegen ihn eine Klage auf Rückzahlung der zu Unrecht gezahlten Beihilfen zuzüglich Zinsen, gegen die GM die Verjährung der Ansprüche einwandte.
Dieses Gericht schränkte den Gegenstand des bei ihm anhängigen Zivilverfahrens auf die Frage der Verjährung ein. In Anwendung von Art. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 stellte es fest, dass im vorliegenden Fall die in dieser Verordnung vorgesehene vierjährige Verjährungsfrist für die Verfolgung am 1. Januar 2014 zu laufen begonnen habe, aber u. a. durch die Zahlungserinnerungen vom 11. Mai bzw. 12. November 2015 und die Mahnung vom 16. Dezember 2015 unterbrochen worden sei, so dass die Ansprüche nicht verjährt seien.
Das von GM mit der Berufung befasste Gericht kam zu dem Ergebnis, dass die Verordnung Nr. 2988/95 nicht anwendbar und die Ansprüche gemäß § 1489 ABGB verjährt seien.
Die Republik Österreich erhob daraufhin gegen dieses Urteil Revision an den Obersten Gerichtshof (Österreich), das vorlegende Gericht, und machte geltend, dass die in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 vorgesehene vierjährige Verjährungsfrist auf die in Rede stehenden Rückzahlungsansprüche anzuwenden sei und dass die oben in Rn. 10 genannten Zahlungserinnerungen als „Ermittlungs- oder Verfolgungshandlungen der zuständigen Behörde“ einzustufen seien, mit der Folge, dass diese Verjährungsfrist gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 dieser Verordnung unterbrochen werde. Die Rückzahlungsansprüche seien daher nicht verjährt. Wäre diese Verordnung nicht anwendbar, wäre die in § 1478 ABGB vorgesehene Verjährungsfrist von 30 Jahren anzuwenden.
GM macht geltend, die Verordnung Nr. 2988/95 sei nicht anwendbar, da sie nur die Ansprüche erfasse, die „mit den Mitteln des öffentlichen Rechts“ zu verfolgen seien. Die fraglichen Beihilfen seien aber aufgrund eines privatrechtlichen Vertrags gezahlt worden, der dem nationalen Recht unterliege. Da die in § 1489 ABGB vorgesehene Frist von drei Jahren zum Zeitpunkt der Erhebung der erstinstanzlichen Klage bereits abgelaufen gewesen sei, sei Verjährung eingetreten. Sollte diese Verordnung anwendbar sein, wäre die Klage gleichwohl verjährt. Die Zahlungsaufforderungen bzw. -erinnerungen könnten nämlich nicht als Ermittlungs- oder Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung eingestuft werden.
Das vorlegende Gericht vertritt die Ansicht, dass die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits davon abhänge, ob die in Art. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 vorgesehene vierjährige Verjährungsfrist anwendbar sei, wenn eine von der Europäischen Union kofinanzierte Beihilfe nicht durch „hoheitliches Verwaltungshandeln“ gewährt worden sei und das Verfahren zur Rückforderung dieser Beihilfe daher dem Privatrecht unterliege. Wäre diese Bestimmung anwendbar, könnte sich GM nicht auf die in § 1489 ABGB vorgesehene dreijährige Verjährungsfrist stützen, ebenso wenig wie sich die Republik Österreich auf die in § 1478 ABGB vorgesehene Verjährungsfrist von 30 Jahren stützen könnte, da diese Frist gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße.
Unter diesen Umständen hat der Oberste Gerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist Art. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 unmittelbar auf solche Ansprüche anzuwenden, mit denen die Republik Österreich Beihilfen, die sie im Rahmen eines Programms, das eine Agrarumweltmaßnahme gemäß Verordnung Nr. 1698/2005 darstellt, den Förderungswerbern vertraglich gewährte, mit den Mitteln des Privatrechts zurückfordert, weil der Förderungsnehmer gegen vertragliche Verpflichtungen verstoßen hat?
Falls die erste Frage bejaht wird: Ist Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 dahin auszulegen, dass eine die Verjährung unterbrechende Ermittlungs- oder Verfolgungshandlung auch dann vorliegt, wenn der Beihilfegeber den Beihilfenehmer nach der ersten außergerichtlichen Einforderung eines Rückzahlungsanspruchs neuerlich, allenfalls auch mehrfach, zur Zahlung auffordert und außergerichtlich mahnt, anstatt seinen Rückzahlungsanspruch gerichtlich geltend zu machen?
Falls die erste Frage verneint wird: Ist die Anwendung einer 30-jährigen Verjährungsfrist des nationalen Zivilrechts auf die in Frage 1 bezeichneten Rückforderungsansprüche mit dem Unionsrecht, insbesondere mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, vereinbar?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Vorlagefrage
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 dahin auszulegen ist, dass die dort vorgesehene vierjährige Verjährungsfrist unmittelbar auf eine sich nach den privatrechtlichen Vorschriften eines Mitgliedstaats richtende Rückforderung von durch die Union kofinanzierten Beihilfen anwendbar ist.
Es ist darauf hinzuweisen, dass Verordnungen aufgrund ihrer Rechtsnatur und ihrer Funktion im Rechtsquellensystem des Unionsrechts im Allgemeinen unmittelbare Wirkung in den nationalen Rechtsordnungen haben, ohne dass nationale Durchführungsmaßnahmen erforderlich wären (Urteile vom 24. Juni 2004, Handlbauer, C-278/02, EU:C:2004:388, Rn. 25, sowie vom 7. April 2022, IFAP, C-447/20 und C-448/20, EU:C:2022:265, Rn. 88).
Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 legt für die Verfolgung von Unregelmäßigkeiten eine allgemeine Verjährungsfrist von vier Jahren fest, die mit dem Zeitpunkt der Begehung der Unregelmäßigkeit beginnt. Nach Art. 1 Abs. 2 dieser Verordnung bezeichnet der Begriff „Unregelmäßigkeit“ jeden „Verstoß gegen eine [Union]sbestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers …, die einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der [Union] … bewirkt hat bzw. haben würde“.
Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Verordnung stellt auch klar, dass diese Verjährungsfrist von vier Jahren anwendbar ist, wenn es keine – auf Unionsebene und nicht auf nationaler Ebene erlassenen – „sektorbezogenen Regelungen“ gibt, in denen „eine kürzere Frist vorgesehen [ist], die nicht weniger als drei Jahre betragen darf“ (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 29. Januar 2009, Josef Vosding Schlacht-, Kühl- und Zerlegebetrieb u. a., C-278/07 bis C-280/07, EU:C:2009:38, Rn. 44, sowie vom 22. Dezember 2010, Corman, C-131/10, EU:C:2010:825, Rn. 41).
Im Wortlaut dieser Bestimmung deutet nichts darauf hin, dass die Anwendung der dort vorgesehenen vierjährigen Verjährungsfrist von der Rechtsnatur der Instrumente abhängt, auf die die nationalen Behörden zum Schutz der finanziellen Interessen der Union und zur Beseitigung aufgedeckter Unregelmäßigkeiten zurückgreifen.
Außerdem würde eine Auslegung dieser Bestimmung, nach der die Anwendung der Verordnung Nr. 2988/95 davon abhinge, ob es sich bei den Instrumenten, auf die die nationalen Behörden zum Schutz der finanziellen Interessen der Union zurückgreifen, um öffentlich-rechtliche oder privatrechtliche Instrumente handelt, die praktische Wirksamkeit dieser Verordnung begrenzen, deren im Wesentlichen in ihren Erwägungsgründen 3 und 4 niedergelegtes Ziel darin besteht, in allen Bereichen Handlungen zum Nachteil dieser finanziellen Interessen zu bekämpfen, indem ein allen Bereichen der Unionspolitik gemeinsamer Rahmen festgelegt wird.
Daraus folgt, dass Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Verordnung mangels „sektorbezogener Regelungen“ dahin auszulegen ist, dass die dort vorgesehene allgemeine Verjährungsfrist von vier Jahren auf Ansprüche auf Rückzahlung einer Beihilfe anwendbar ist, die geltend gemacht werden, weil der Beihilfeempfänger eine vertragliche Verpflichtung verletzt und dadurch gegen eine Bestimmung des Unionsrechts verstoßen hat, die einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Union bewirkt hat bzw. haben würde.
Diese Auslegung wird durch die Systematik der Verordnung Nr. 2988/95 bestätigt. Art. 3 steht nämlich in Titel I („Grundsätze“) dieser Verordnung und nicht in deren Titel II, der speziell „Verwaltungsrechtliche Maßnahmen und Sanktionen“ betrifft.
Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 dahin auszulegen ist, dass die dort vorgesehene vierjährige Verjährungsfrist unmittelbar auf eine sich nach den privatrechtlichen Vorschriften eines Mitgliedstaats richtende Rückforderung von durch die Union kofinanzierten Beihilfen anwendbar ist.
Zur dritten Vorlagefrage
Mit seiner dritten Frage, die als Zweites zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen ist, dass er es verwehrt, dass nach Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 auf Rückforderungen von durch die Union kofinanzierten Beihilfen eine durch eine privatrechtliche Bestimmung eines Mitgliedstaats eingeführte Verjährungsfrist von 30 Jahren angewandt wird.
Nach Art. 3 Abs. 3 dieser Verordnung behalten die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, längere Verjährungsfristen als die in Abs. 1 vorgesehene Mindestfrist von vier Jahren vorzusehen. Der Unionsgesetzgeber wollte nämlich die auf diesem Gebiet geltenden Fristen nicht vereinheitlichen, so dass die Mitgliedstaaten durch das Inkrafttreten der Verordnung Nr. 2988/95 nicht gezwungen sein konnten, die bisher wegen des Fehlens unionsrechtlicher Bestimmungen auf diesem Gebiet angewandten Verjährungsvorschriften auf vier Jahre zu verkürzen. Die Mitgliedstaaten verfügen zwar über ein weites Ermessen hinsichtlich der Festlegung längerer Verjährungsfristen für den Fall einer die finanziellen Interessen der Union beeinträchtigenden Unregelmäßigkeit (Urteil vom 17. September 2014, Cruz & Companhia, C-341/13, EU:C:2014:2230, Rn. 54 und 55), jedoch müssen diese Fristen den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts entsprechen, zu denen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehört (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. März 2017, Glencore Céréales France, C-584/15, EU:C:2017:160, Rn. 72).
Nach diesem Grundsatz darf eine solche Frist nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des Ziels, die finanziellen Interessen der Union zu schützen, erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. März 2011, AJD Tuna, C-221/09, EU:C:2011:153, Rn. 79, vom 5. Mai 2011, Ze Fu Fleischhandel und Vion Trading, C-201/10 und C-202/10, EU:C:2011:282, Rn. 38, sowie vom 7. April 2022, IFAP, C-447/20 und C-448/20, EU:C:2022:265, Rn. 116).
Der Gerichtshof hat entschieden, dass die Anwendung einer Verjährungsfrist von zehn Jahren, die sich aus einer nationalen privatrechtlichen Bestimmung ergibt, im Hinblick auf das Ziel des Schutzes der finanziellen Interessen der Union nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt. Im Hinblick auf dieses Ziel, für das mit der Verordnung Nr. 2988/95 eine Verjährungsfrist von vier Jahren eingeführt worden ist, um den nationalen Behörden die Verfolgung einer die finanziellen Interessen der Union beeinträchtigenden Unregelmäßigkeit und letztlich insbesondere die Rückforderung eines zu Unrecht erlangten Vorteils zu ermöglichen, geht eine Verjährungsfrist von 30 Jahren jedoch über das für eine sorgfältige Verwaltung Erforderliche hinaus (Urteil vom 17. September 2014, Cruz & Companhia, C-341/13, EU:C:2014:2230, Rn. 60 und 61).
Die Mitgliedstaaten haben nämlich nach Art. 4 Abs. 3 EUV eine allgemeine Sorgfaltspflicht, aufgrund deren Maßnahmen zur raschen Behebung von Unregelmäßigkeiten ergriffen werden müssen und die nationale Verwaltung zu prüfen hat, ob die von ihr geleisteten, den Haushalt der Union belastenden Zahlungen ordnungsgemäß erfolgt sind. Den Mitgliedstaaten die Möglichkeit zuzugestehen, der Verwaltung zum Tätigwerden eine viel längere Frist als die in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 vorgesehene einzuräumen, könnte unter diesen Umständen die nationalen Behörden dazu ermutigen, die Verfolgung von „Unregelmäßigkeiten“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 dieser Verordnung aufzuschieben, und gleichzeitig die Wirtschaftsteilnehmer zum einen einer langen Zeit der Rechtsunsicherheit und zum anderen der Gefahr aussetzen, nach Ablauf eines solchen Zeitraums nicht mehr beweisen zu können, dass die fraglichen Vorgänge rechtmäßig waren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. September 2014, Cruz & Companhia, C-341/13, EU:C:2014:2230, Rn. 62).
Wenn sich die Anwendung einer allgemeinen Verjährungsfrist auf die Rückforderung von zu Unrecht erlangten Beihilfen im Hinblick auf das Ziel, die finanziellen Interessen der Union zu schützen, als unverhältnismäßig erweist, muss sie also unangewandt bleiben, und es ist die allgemeine Verjährungsfrist von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 anzuwenden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2011, Ze Fu Fleischhandel und Vion Trading, C-201/10 und C-202/10, EU:C:2011:282, Rn. 51).
Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen ist, dass er es verwehrt, dass nach Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 auf Rückforderungen von durch die Union kofinanzierten Beihilfen eine durch eine privatrechtliche Bestimmung eines Mitgliedstaats eingeführte Verjährungsfrist von 30 Jahren angewandt wird.
Zur zweiten Vorlagefrage
Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 dahin auszulegen ist, dass der Begriff der der betreffenden Person zur Kenntnis gebrachten „Ermittlungs- oder Verfolgungshandlung“ der zuständigen Behörde, die zur Unterbrechung der „Verfolgungsverjährung“ führt, außergerichtliche Handlungen wie einen Prüfbericht, eine Rückforderungsmitteilung, eine Zahlungserinnerung oder eine Mahnung umfasst.
Nach dieser Bestimmung wird die Verfolgungsverjährung durch jede der betreffenden Person zur Kenntnis gebrachte Ermittlungs- oder Verfolgungshandlung der zuständigen Behörde unterbrochen.
Es ist darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung keine unterschiedliche rechtliche Regelung vorsieht, je nachdem, ob die Handlungen der zuständigen Behörde im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens oder im Rahmen eines außergerichtlichen Verfahrens erfolgen.
Außerdem hat der Unionsgesetzgeber mit dem Erlass von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 eine allgemeine Verjährungsregelung eingeführt, in der eine in allen Mitgliedstaaten geltende Mindestfrist festgelegt und die Rückforderung von zu Unrecht aus dem Unionshaushalt erlangten Beträgen nach Ablauf von vier Jahren seit Begehung der die streitigen Zahlungen betreffenden Unregelmäßigkeit ausgeschlossen werden sollte (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. September 2014, Cruz & Companhia, C-341/13, EU:C:2014:2230, Rn. 49, sowie vom 3. Oktober 2019, Westphal, C-378/18, EU:C:2019:832, Rn. 28).
Eine solche Verjährungsfrist soll somit die Rechtssicherheit gewährleisten. Diese Funktion würde in Frage gestellt, wenn der Lauf dieser Frist durch jede allgemeine, keinen Zusammenhang mit dem Verdacht von Unregelmäßigkeiten in Bezug auf hinreichend genau umschriebene Vorgänge aufweisende Prüfungshandlung der nationalen Behörden unterbrochen werden könnte (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. Juni 2004, Handlbauer, C-278/02, EU:C:2004:388, Rn. 40, sowie vom 11. Juni 2015, Pfeifer & Langen, C-52/14, EU:C:2015:381, Rn. 41).
Folglich kann eine solche Handlung nur dann als Ermittlungs- oder Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung Nr. 2988/95, die die Verfolgungsverjährung unterbrechen kann, eingestuft werden, wenn sie die Vorgänge, auf die sich der Verdacht von Unregelmäßigkeiten bezieht, hinreichend genau umschreibt. Dieses Erfordernis der Genauigkeit bedeutet aber nicht, dass in der Handlung die Möglichkeit, gegen den Beihilfeempfänger eine Sanktion zu verhängen oder eine besondere verwaltungsrechtliche Maßnahme zu erlassen, erwähnt werden muss (Urteil vom 11. Juni 2015, Pfeifer & Langen, C-52/14, EU:C:2015:381, Rn. 43).
So stellt ein von der zuständigen Behörde übermittelter Bericht, aus dem hervorgeht, an welcher Unregelmäßigkeit der Beihilfeempfänger im Zusammenhang mit einem bestimmten Vorgang mitgewirkt haben soll, und mit dem vom Beihilfeempfänger ergänzende Informationen zu diesem Vorgang verlangt werden oder im Zusammenhang mit diesem eine Sanktion gegen den Beihilfeempfänger verhängt wird, eine hinreichend bestimmte Ermittlungs- oder Verfolgungshandlung dar und kann daher die Verjährungsfrist für die Verfolgung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 unterbrechen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Dezember 2011, Chambre de commerce et d’industrie de l’Indre, C-465/10, EU:C:2011:867, Rn. 61, und vom 11. Juni 2015, Pfeifer & Langen, C-52/14, EU:C:2015:381, Rn. 42).
Ebenso kann ein Schreiben, mit dem der Empfänger einer aus dem ELER kofinanzierten Beihilfe über die Rechtswidrigkeit dieser Beihilfe informiert wird, die in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Verordnung vorgesehene Verjährungsfrist für die Verfolgung unterbrechen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. März 2019, Eesti Pagar, C-349/17, EU:C:2019:172, Rn. 24 und 127).
Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden außergerichtlichen Handlungen die Vorgänge, auf die sich der Verdacht von Unregelmäßigkeiten bezieht, hinreichend genau umschreiben und damit unter den Begriff „Ermittlungs- oder Verfolgungshandlung“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 dieser Verordnung fallen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juni 2015, Pfeifer & Langen, C-52/14, EU:C:2015:381, Rn. 46 und 47).
Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 dahin auszulegen ist, dass der Begriff der der betreffenden Person zur Kenntnis gebrachten „Ermittlungs- oder Verfolgungshandlung“ der zuständigen Behörde, die zur Unterbrechung der „Verfolgungsverjährung“ führt, außergerichtliche Handlungen wie einen Prüfbericht, eine Rückforderungsmitteilung, eine Zahlungserinnerung oder eine Mahnung umfasst, soweit der Adressat dieser Handlungen aus ihnen die Vorgänge, auf die sich der Verdacht von Unregelmäßigkeiten bezieht, hinreichend genau entnehmen kann.
Kosten
Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften
ist dahin auszulegen, dass
die dort vorgesehene vierjährige Verjährungsfrist unmittelbar auf eine sich nach den privatrechtlichen Vorschriften eines Mitgliedstaats richtende Rückforderung von durch die Europäische Union kofinanzierten Beihilfen anwendbar ist.
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist dahin auszulegen, dass
er es verwehrt, dass nach Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 auf Rückforderungen von durch die Europäische Union kofinanzierten Beihilfen eine durch eine privatrechtliche Bestimmung eines Mitgliedstaats eingeführte Verjährungsfrist von 30 Jahren angewandt wird.
Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung Nr. 2988/95
ist dahin auszulegen, dass
der Begriff der der betreffenden Person zur Kenntnis gebrachten „Ermittlungs- oder Verfolgungshandlung“ der zuständigen Behörde, die zur Unterbrechung der „Verfolgungsverjährung“ führt, außergerichtliche Handlungen wie einen Prüfbericht, eine Rückforderungsmitteilung, eine Zahlungserinnerung oder eine Mahnung umfasst, soweit der Adressat dieser Handlungen aus ihnen die Vorgänge, auf die sich der Verdacht von Unregelmäßigkeiten bezieht, hinreichend genau entnehmen kann.
Unterschriften
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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