Rechtsdatenbank
Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.
Rechtsdatenbank
Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.
EuGH 15.06.2023 - C-132/22
EuGH 15.06.2023 - C-132/22 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer) - 15. Juni 2023 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Freizügigkeit der Arbeitnehmer – Art. 45 AEUV – Verordnung (EU) Nr. 492/2011 – Art. 3 Abs. 1 – Hindernis – Gleichbehandlung – Einstufungsverfahren zur Vergabe von Stellen an bestimmten nationalen öffentlichen Einrichtungen – Zulassungsbedingung, die an die in diesen Einrichtungen erworbene frühere Berufserfahrung geknüpft ist – Nationale Regelung, nach der die in anderen Mitgliedstaaten erworbene Berufserfahrung nicht berücksichtigt werden darf – Rechtfertigung – Ziel der Bekämpfung von prekärer Beschäftigung“
Leitsatz
In der Rechtssache C-132/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale amministrativo regionale per il Lazio (Regionales Verwaltungsgericht Latium, Italien) mit Entscheidung vom 13. Dezember 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Februar 2022, in dem Verfahren
BM,
NP
gegen
Ministero dell’Istruzione, dell’Università e della Ricerca – MIUR
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. G. Xuereb, des Präsidenten der Ersten Kammer A. Arabadjiev (Berichterstatter) und des Richters A. Kumin,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
von BM und NP, vertreten durch D. Terracciano, Avvocata,
der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von L. Fiandaca und A. Jacoangeli, Avvocati dello Stato,
der Europäischen Kommission, vertreten durch B.-R. Killmann und D. Recchia als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 45 Abs. 1 und 2 AEUV und von Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. 2011, L 141, S. 1).
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen BM und NP, italienische Staatsangehörige, die in anderen Mitgliedstaaten als der Italienischen Republik Berufserfahrung erworben haben, auf der einen Seite und dem Ministero dell’Istruzione, dell’Università e della Ricerca – MIUR (Ministerium für Bildung, Hochschulen und Forschung, Italien) (im Folgenden: Ministerium) auf der anderen Seite über die Rechtmäßigkeit eines Ministerialdekrets, wonach zum Verfahren für die Aufnahme in Ranglisten für die Einstellung von Personal in öffentlichen Hochschuleinrichtungen für Kunst, Musik und Tanz in Italien mittels unbefristeter und befristeter Arbeitsverträge nur Bewerber zugelassen werden, die eine gewisse Berufserfahrung an diesen Einrichtungen erworben haben.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung Nr. 492/2011
Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 492/2011 bestimmt:
„Die folgenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften oder Verwaltungspraktiken eines Mitgliedstaats finden im Rahmen dieser Verordnung keine Anwendung:
…
Vorschriften, die, ohne auf die Staatsangehörigkeit abzustellen, ausschließlich oder hauptsächlich bezwecken oder bewirken, dass Angehörige der übrigen Mitgliedstaaten von der angebotenen Stelle ferngehalten werden.
…“
Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge
Paragraf 5 („Maßnahmen zur Vermeidung von Missbrauch“) der am 18. März 1999 geschlossenen Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge im Anhang der Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge (ABl. 1999, L 175, S. 43) lautet:
„1. Um Missbrauch durch aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge oder -verhältnisse zu vermeiden, ergreifen die Mitgliedstaaten nach der gesetzlich oder tarifvertraglich vorgeschriebenen oder in dem Mitgliedstaat üblichen Anhörung der Sozialpartner und/oder die Sozialpartner, wenn keine gleichwertigen gesetzlichen Maßnahmen zur Missbrauchsverhinderung bestehen, unter Berücksichtigung der Anforderungen bestimmter Branchen und/oder Arbeitnehmerkategorien eine oder mehrere der folgenden Maßnahmen:
sachliche Gründe, die die Verlängerung solcher Verträge oder Verhältnisse rechtfertigen;
die insgesamt maximal zulässige Dauer aufeinanderfolgender Arbeitsverträge oder -verhältnisse;
die zulässige Zahl der Verlängerungen solcher Verträge oder Verhältnisse.
2. Die Mitgliedstaaten, nach Anhörung der Sozialpartner, und/oder die Sozialpartner legen gegebenenfalls fest, unter welchen Bedingungen befristete Arbeitsverträge oder Beschäftigungsverhältnisse:
als ‚aufeinanderfolgend‘ zu betrachten sind;
als unbefristete Verträge oder Verhältnisse zu gelten haben.“
Italienisches Recht
Art. 1 Abs. 653 und 655 der Legge n. 205 – Bilancio di previsione dello Stato per l’anno finanziario 2018 e bilancio pluriennale per il triennio 2018-2020 (Gesetz Nr. 205 – Haushaltsplan des Staates für das Haushaltsjahr 2018 und mehrjähriger Haushaltsplan für den Dreijahreszeitraum 2018–2020) vom 27. Dezember 2017 (GURI Nr. 302 vom 29. Dezember 2017) (im Folgenden: Gesetz Nr. 205/2017) sieht vor:
„653. Um die prekäre Lage in Hochschuleinrichtungen für Kunst, Musik und Tanz zu beseitigen, werden 1 Mio. Euro für das Jahr 2018, 6,6 Mio. Euro für das Jahr 2019, 11,6 Mio. Euro für das Jahr 2020, 15,9 Mio. Euro für das Jahr 2021, 16,4 Mio. Euro für das Jahr 2022, 16,8 Mio. Euro für jedes Jahr 2023 bis 2025, 16,9 Mio. Euro für das Jahr 2026, 17,5 Mio. Euro für das Jahr 2027, 18,1 Mio. Euro für das Jahr 2028 und 18,5 Mio. Euro pro Jahr ab dem Jahr 2029 bereitgestellt. …
…
655. Lehrkräfte, die in den in Abs. 653 genannten Einrichtungen noch über keinen unbefristeten Vertrag verfügen, ein Auswahlverfahren für die Aufnahme in die Rangliste der Schulen bestanden haben und in den letzten acht akademischen Jahren bis einschließlich des akademischen Jahres 2020/2021 eine, nicht zwingend ununterbrochene, Lehrtätigkeit von mindestens drei akademischen Jahren an einer dieser Einrichtungen in den in Art. 3 der Regelung im Sinne des Dekrets Nr. 212 des Präsidenten der Republik vom 8. Juli 2005 vorgesehenen Lehrgängen und in den in Art. 3 Abs. 3 der Durchführungsverordnung zum Dekret Nr. 249 des Ministers für Bildung, Hochschulen und Forschung vom 10. September 2010 vorgesehenen Fortbildungslehrgängen nachweisen können, wird im Rahmen der verfügbaren freien Stellen in besondere nationale Ranglisten für die Vergabe von unbefristeten und befristeten Lehrstellen aufgenommen, wobei diese Ranglisten den bestehenden, auf der Grundlage von Befähigungsnachweisen erstellten und in Abs. 653 des Gesetzes vorgesehenen nationalen Ranglisten nachgeordnet sind. Ein Erlass des Ministers für Bildung, Hochschulen und Forschung regelt die Modalitäten für die Aufnahme in die Ranglisten.“
Art. 2 Abs. 1 des Decreto ministeriale n. 597 – Costituzione graduatorie riservate per il personale docente delle Istituzioni AFAM (Ministerialdekret Nr. 597 über die Erstellung von Ranglisten für Lehrkräfte an Hochschuleinrichtungen für Kunst, Musik und Tanz) vom 14. August 2018 (im Folgenden: Ministerialdekret Nr. 597/2018), bestimmt, dass an diesem Verfahren nur Bewerber mit einer Beschäftigungszeit von mindestens drei akademischen Jahren in den in Art. 3 des Dekrets Nr. 212 des Präsidenten der Republik vom 8. Juli 2005 genannten Lehrgängen oder in den in Art. 3 Abs. 3 des Dekrets Nr. 249 des Ministers für Bildung, Hochschulen und Forschung vom 10. September 2010 vorgesehenen Fortbildungslehrgängen teilnehmen dürfen.
Art. 8 Abs. 1 Buchst. A des Ministerialdekrets Nr. 597/2018 sieht die Möglichkeit vor, bei der Bewertung der Qualifikationen der zur Teilnahme an diesem Verfahren zugelassenen Bewerber die Berufserfahrung zu berücksichtigen, die bei im Ausland ansässigen Einrichtungen gleichen Niveaus wie die italienischen Einrichtungen für Kunst, Musik und Tanz erworben wurde.
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
Mit gesonderten Klagen, die im Jahr 2018 beim Tribunale amministrativo regionale per il Lazio (Regionales Verwaltungsgericht Latium, Italien), dem vorlegenden Gericht, erhoben worden waren, beantragten die Kläger des Ausgangsverfahrens die Nichtigerklärung des Ministerialdekrets Nr. 597/2018 und machten u. a. geltend, dass dieses Dekret gegen Art. 45 AEUV und Art. 3 der Verordnung Nr. 492/2011 verstoße, da danach für die Teilnahme an Verfahren im Sinne von Art. 1 Abs. 655 des Gesetzes Nr. 205/2017 zur Vergabe von unbefristeten und befristeten Lehrstellen an öffentlichen Hochschuleinrichtungen für Kunst, Musik und Tanz in Italien Berufserfahrung von mindestens drei akademischen Jahren bei in anderen Mitgliedstaaten als der Italienischen Republik ansässigen Einrichtungen gleichen Niveaus nicht anerkannt werde.
Das Ministerium macht geltend, dass das Ministerialdekret Nr. 597/2018 nicht als rechtswidrig angesehen werden könne, da es auf der Grundlage des Gesetzes Nr. 205/2017 erlassen worden sei, mit dem, wie sich aus seinem Art. 1 Abs. 653 ergebe, die historisch prekäre Lage im Bereich der Hochschulausbildung für Kunst, Musik und Tanz beseitigt werden solle, und das Ministerium eine gebundene Befugnis habe. Außerdem liege weder ein Verstoß gegen Art. 45 AEUV noch gegen die Verordnung Nr. 492/2011 vor. Es liege nämlich keine Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit der Bewerber vor, da das Verfahren nach Art. 1 Abs. 655 des Gesetzes Nr. 205/2017 sowohl italienischen als auch ausländischen Bürgern offenstehe. Würde man Personen, die eine Erfahrung in anderen Mitgliedstaaten erworben haben, die Möglichkeit geben, sich an diesem Verfahren zu beteiligen, so würde dies im Übrigen der Logik der fraglichen nationalen Rechtsvorschriften zuwiderlaufen, mit denen die Beseitigung prekärer Beschäftigungsverhältnisse an den italienischen öffentlichen Hochschuleinrichtungen für Kunst, Musik und Tanz durch die Erstellung von Ranglisten von Lehrkräften, die ihre Berufserfahrung an diesen Einrichtungen und nicht im Ausland erworben haben, begünstigt werden soll.
Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass sich das Ministerium beim Erlass des Ministerialdekrets Nr. 597/2018 auf die Bestimmungen des Gesetzes Nr. 205/2017 habe beziehen müssen, um die Bedingungen für die Teilnahme an dem in Art. 1 Abs. 655 dieses Gesetzes genannten Verfahren zu ermitteln.
Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts scheint das Gesetz Nr. 205/2017 die Arbeitnehmerfreizügigkeit zu beschränken, da es den Zugang zu einem Verfahren zur Vergabe unbefristeter und befristeter Lehrerstellen an italienischen öffentlichen Hochschuleinrichtungen für Kunst, Musik und Tanz beschränke, indem es ihn Lehrkräften mit einer mindestens dreijährigen vorherigen Erfahrung an diesen Einrichtungen vorbehalte.
Aus den Urteilen vom 10. Oktober 2019, Krah (C-703/17, EU:C:2019:850), und vom 23. April 2020, Land Niedersachsen (Einschlägige Vordienstzeiten) (C-710/18, EU:C:2020:299), ergebe sich jedoch, dass Maßnahmen, die die Arbeitnehmerfreizügigkeit beschränkten, zulässig sein könnten, wenn sie auf die Verfolgung eines der im AEU-Vertrag genannten Ziele gerichtet seien oder aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt seien und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachteten.
Zu der Frage, ob das im Gesetz Nr. 205/2017 genannte Ziel, „das Phänomen der prekären Beschäftigung“ in den italienischen öffentlichen Hochschuleinrichtungen für Kunst, Musik und Tanz unter Kontrolle zu bringen, eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung darstellt, die diese Beschränkung rechtfertigen kann, und ob sie im Hinblick auf dieses Ziel verhältnismäßig ist, weist das vorlegende Gericht erstens darauf hin, dass sich aus dem Urteil vom 26. November 2014, Mascolo u. a. (C-22/13, C-61/13 bis C-63/13 und C-418/13, EU:C:2014:2401), ergebe, dass mit dem Erlass von Maßnahmen durch die Mitgliedstaaten zur Bekämpfung des Phänomens der prekären Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung, das sich aus dem wiederholten Abschluss befristeter Verträge ergebe, nicht nur den nationalen Interessen, sondern auch den Interessen der Europäischen Union Rechnung getragen werden solle.
Zweitens stelle die Teilnahme am Verfahren nach Art. 1 Abs. 655 des Gesetzes Nr. 205/2017 nicht den einzigen Weg dar, um eine unbefristete oder befristete Lehrerstelle an den italienischen öffentlichen Hochschuleinrichtungen für Kunst, Musik und Tanz zu erhalten. Bis zur Hälfte des ständigen Personals dieser Einrichtungen werde nämlich auf der Grundlage besonderer nationaler Ranglisten eingestellt, während das übrige Personal nach öffentlichen Auswahlverfahren aufgrund von Befähigungsnachweisen und Prüfungen eingestellt werde. Außerdem würden befristete Arbeitsverträge in erster Linie mit den in diese Listen aufgenommenen Lehrkräften geschlossen. Wenn es nicht möglich sei, alle freien Stellen auf diese Weise zu besetzen, könnten die betreffenden Einrichtungen Aufforderungen zur Einreichung von Bewerbungen veröffentlichen, um spezifische Listen für jede einzelne Einrichtung zu erstellen.
Drittens ergebe sich aus der Rechtsprechung der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien), dass Vorschriften, die wie die in dem Rechtsstreit, mit dem das vorlegende Gericht befasst ist, in Rede stehenden außerordentliche Auswahlverfahren vorsähen, grundsätzlich im Einklang mit der italienischen Verfassung stünden, da sie erlassen worden seien, um das ordnungsgemäße Funktionieren der Verwaltung zu gewährleisten, den Rechtsbeziehungen Sicherheit zu verleihen und der prekären Beschäftigung abzuhelfen, und da sie das Recht auf Zugang zu einer Beschäftigung im öffentlichen Dienst und den Grundsatz allgemeiner Auswahlverfahren nicht unangemessen beschränkten.
Unter diesen Umständen hat das Tribunale amministrativo regionale per il Lazio (Regionales Verwaltungsgericht Latium) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Sind Art. 45 Abs. 1 und 2 AEUV und Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 – unter Berücksichtigung des besonderen Zwecks der Bekämpfung prekärer nationaler Beschäftigungsverhältnisse, den ein Verfahren zur Aufnahme in Ranglisten für die anschließende Vergabe unbefristeter und befristeter Lehraufträge an den italienischen Hochschuleinrichtungen für Kunst, Musik und Tanz verfolgt – dahin auszulegen, dass sie einer Regelung wie der in Art. 1 Abs. 655 der Legge n. 205/2017 (Gesetz Nr. 205/2017) vorgesehenen entgegenstehen, nach der für die Teilnahme an dem in Rede stehenden Verfahren nur die von den Bewerbern an diesen nationalen Einrichtungen und nicht auch die an in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Einrichtungen des gleichen Niveaus erworbene Berufserfahrung berücksichtigt wird, und – falls der Gerichtshof nicht feststellt, dass die italienische Regelung abstrakt mit dem Unionsrecht unvereinbar ist – können die in dieser Regelung vorgesehenen Maßnahmen im Hinblick auf diesen im Allgemeininteresse liegenden Zweck konkret als verhältnismäßig angesehen werden?
Zur Vorlagefrage
Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 45 AEUV und Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 492/2011 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die vorsieht, dass nur Bewerber, die eine bestimmte Berufserfahrung an nationalen öffentlichen Hochschuleinrichtungen für Kunst, Musik und Tanz erworben haben, zu einem Verfahren zur Aufnahme in Ranglisten, die erstellt werden, um mittels unbefristeter und befristeter Arbeitsverträge Personal in diese Einrichtungen einzustellen, zugelassen werden können und die somit verhindert, dass für die Zwecke der Zulassung zu diesem Verfahren die in anderen Mitgliedstaaten erworbene Berufserfahrung berücksichtigt wird.
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Freizügigkeit insgesamt den Angehörigen der Mitgliedstaaten die Ausübung von beruflichen Tätigkeiten aller Art im Gebiet der Union erleichtern sollen und Maßnahmen entgegenstehen, die die Staatsangehörigen benachteiligen könnten, wenn sie eine wirtschaftliche Tätigkeit im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats ausüben wollen (Urteile vom 23. April 2020, Land Niedersachsen [Einschlägige Vordienstzeiten], C-710/18, EU:C:2020:299, Rn. 24, und vom 28. April 2022, Gerencia Regional de Salud de Castilla y León, C-86/21, EU:C:2022:310, Rn. 21).
Aus der Rechtsprechung geht hervor, dass unter Art. 45 AEUV die Einstellungsbedingungen fallen, die insbesondere für andere als die in Abs. 4 dieser Bestimmung genannte Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung gelten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Mai 1982, Kommission/Belgien, 149/79, EU:C:1982:195, Rn. 11, und vom 11. Februar 2021, Katoen Natie Bulk Terminals und General Services Antwerp, C-407/19 und C-471/19, EU:C:2021:107, Rn. 82).
Nationale Bestimmungen, die einen Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, daran hindern oder davon abhalten, sein Herkunftsland zu verlassen, um von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen, stellen Beeinträchtigungen dieser Freiheit dar, auch wenn sie unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Arbeitnehmer angewandt werden (Urteil vom 28. April 2022, Gerencia Regional de Salud de Castilla y León, C-86/21, EU:C:2022:310, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Mit Art. 45 AEUV soll außerdem insbesondere verhindert werden, dass ein Arbeitnehmer, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat und in mehr als einem Mitgliedstaat beschäftigt war, ohne objektiven Grund schlechter gestellt wird als ein Arbeitnehmer, der seine gesamte berufliche Laufbahn in einem einzigen Mitgliedstaat zurückgelegt hat (Urteil vom 28. April 2022, Gerencia Regional de Salud de Castilla y León, C-86/21, EU:C:2022:310, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Die Freizügigkeit wäre nämlich nicht voll verwirklicht, wenn die Mitgliedstaaten die Anwendung dieser Bestimmung denjenigen ihrer Staatsangehörigen versagen dürften, die von den im Unionsrecht vorgesehenen Erleichterungen Gebrauch gemacht und dank dieser Erleichterungen berufliche Qualifikationen in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen erworben haben, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen (Urteil vom 28. April 2022, Gerencia Regional de Salud de Castilla y León, C-86/21, EU:C:2022:310, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Der Gerichtshof hat somit entschieden, dass eine nationale Regelung, die nicht alle in einem anderen als dem Herkunftsmitgliedstaat des Wanderarbeitnehmers zurückgelegten gleichwertigen Vordienstzeiten anrechnet, geeignet ist, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer unter Verstoß gegen Art. 45 Abs. 1 AEUV weniger attraktiv zu machen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 30. September 2003, Köbler, C-224/01, EU:C:2003:513, Rn. 74; vom 10. Oktober 2019, Krah, C-703/17, EU:C:2019:850, Rn. 54; vom 23. April 2020, Land Niedersachsen [Einschlägige Vordienstzeiten], C-710/18, EU:C:2020:299, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 28. April 2022, Gerencia Regional de Salud de Castilla y León, C-86/21, EU:C:2022:310, Rn. 26).
Außerdem ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass, wenn eine öffentliche Einrichtung eines Mitgliedstaats bei der Einstellung von Personal für Stellen, die nicht in den Anwendungsbereich von Art. 45 Abs. 4 AEUV fallen, die Berücksichtigung der früheren Berufstätigkeiten der Bewerber in einer öffentlichen Verwaltung vorsieht, diese Einrichtung nicht danach unterscheiden darf, ob diese Tätigkeiten im öffentlichen Dienst dieses oder in dem eines anderen Mitgliedstaats ausgeübt wurden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. Februar 1994, Scholz, C-419/92, EU:C:1994:62, Rn. 12, und vom 12. Mai 2005, Kommission/Italien, C-278/03, EU:C:2005:281, Rn. 14).
Es ist darauf hinzuweisen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung geeignet ist, einen Arbeitnehmer davon abzuhalten, von seinem in Art. 45 AEUV vorgesehenen Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen, da sie eine Mindestberufserfahrung als Bedingung für die Aufnahme von Bewerbern in die gemäß dem Ministerialdekret Nr. 597/2018 erstellten Ranglisten im Hinblick auf die Einstellung von Personal mittels befristeter und unbefristeter Arbeitsverträge an den italienischen öffentlichen Hochschuleinrichtungen für Kunst, Musik und Tanz aufstellt, aber verhindert, dass zu diesem Zweck die in anderen Mitgliedstaaten als der Italienischen Republik erworbene Berufserfahrung berücksichtigt wird.
Ein solcher Arbeitnehmer kann nämlich davon abgehalten werden, seinen Herkunftsmitgliedstaat zu verlassen, um in einem anderen Mitgliedstaat zu arbeiten oder sich dort niederzulassen, wenn ihm dieser Umstand die Möglichkeit nimmt, dass seine im zweiten Mitgliedstaat erworbene Berufserfahrung bei seiner Rückkehr in den ersten Mitgliedstaat für die Aufnahme in diese Listen berücksichtigt wird.
Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 45 Abs. 2 AEUV die Freizügigkeit der Arbeitnehmer die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen umfasst (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. April 2022, Gerencia Regional de Salud de Castilla y León, C-86/21, EU:C:2022:310, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Es ist daran zu erinnern, dass der in Art. 45 AEUV niedergelegte Gleichbehandlungsgrundsatz nicht nur unmittelbare Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle mittelbaren Formen der Diskriminierung verbietet, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. April 2022, Gerencia Regional de Salud de Castilla y León, C-86/21, EU:C:2022:310, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).
In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof klargestellt, dass eine Bestimmung des nationalen Rechts, wenn sie – obwohl sie auf alle Arbeitnehmer ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit unterschiedslos anwendbar ist – sich ihrem Wesen nach stärker auf Arbeitnehmer, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, als auf inländische Arbeitnehmer auswirken kann und folglich die Gefahr besteht, dass sie die Erstgenannten besonders benachteiligt, als mittelbar diskriminierend anzusehen ist, sofern sie nicht objektiv gerechtfertigt ist und in angemessenem Verhältnis zum verfolgten Ziel steht (Urteil vom 28. April 2022, Gerencia Regional de Salud de Castilla y León, C-86/21, EU:C:2022:310, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Um eine Maßnahme als mittelbar diskriminierend qualifizieren zu können, muss sie nicht bewirken, dass alle Inländer begünstigt werden oder dass unter Ausschluss der Inländer nur die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten benachteiligt werden (Urteil vom 28. April 2022, Gerencia Regional de Salud de Castilla y León, C-86/21, EU:C:2022:310, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Im vorliegenden Fall kann sich die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung dadurch, dass die gleichwertige Berufserfahrung, die ein Wanderarbeitnehmer in einer Einrichtung eines anderen Mitgliedstaats als der Italienischen Republik erworben hat, nicht berücksichtigt wird, stärker auf Wanderarbeitnehmer als auf inländische Arbeitnehmer auswirken, indem sie Wanderarbeitnehmer besonders benachteiligt, da diese vor der Einstellung in den italienischen Hochschuleinrichtungen für Kunst, Musik und Tanz sehr wahrscheinlich Berufserfahrung in einem anderen Mitgliedstaat als der Italienischen Republik erworben haben (vgl. entsprechend Urteil vom 28. April 2022, Gerencia Regional de Salud de Castilla y León, C-86/21, EU:C:2022:310, Rn. 33). Diese Regelung ist daher geeignet, eine Ungleichbehandlung einzuführen, die mittelbar auf der Staatsangehörigkeit beruht.
Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung eine nach Art. 45 AEUV grundsätzlich verbotene Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit darstellt.
Was die Rechtfertigung einer solchen Beschränkung angeht, können nach gefestigter Rechtsprechung nationale Maßnahmen, die geeignet sind, die Ausübung der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten zu behindern oder weniger attraktiv zu machen, nur dann zugelassen werden, wenn mit ihnen ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel verfolgt wird, wenn sie geeignet sind, dessen Erreichung zu gewährleisten, und wenn sie nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist (Urteil vom 28. April 2022, Gerencia Regional de Salud de Castilla y León, C-86/21, EU:C:2022:310, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Aus den Angaben des vorlegenden Gerichts geht hervor, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung darauf abzielt, die historisch prekäre Beschäftigungslage im Bereich der Hochschulausbildung für Kunst, Musik und Tanz in Italien dadurch zu beseitigen, dass sie den Abbau der prekären Beschäftigungsverhältnisse in diesem Bereich fördert.
Hierzu ist festzustellen, dass, selbst wenn dieses Ziel als ein legitimes Ziel des Allgemeininteresses anzusehen wäre, das eine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit rechtfertigen kann, die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Beschränkung nicht geeignet erscheint, die Erreichung dieses Ziels zu gewährleisten.
Wie die Europäische Kommission zu Recht vorgetragen hat, scheint nämlich der Ausschluss von Bewerbern, die Berufserfahrung in einem anderen Mitgliedstaat als der Italienischen Republik erworben haben, von dem nach Art. 1 Abs. 655 des Gesetzes Nr. 205/2017 vorgesehenen Verfahren als solcher nicht erforderlich zu sein, um den Abbau prekärer Beschäftigungsverhältnisse, d. h. die Erhöhung des Anteils der unbefristeten Arbeitsverhältnisse im Bereich der Hochschulausbildung für Kunst, Musik und Tanz in Italien, zu fördern, da dieses Verfahren die Einstellung sowohl solcher Arbeitnehmer als auch von befristet beschäftigten Arbeitnehmern durch die Einrichtungen dieses Bereichs ermöglicht.
Außerdem könnte, selbst wenn dieses Verfahren es ermöglichen sollte, mehr unbefristet als befristet Beschäftigte einzustellen, das Ziel, den Anteil dieser ersten Kategorie im fraglichen Bereich zu erhöhen, ebenso wirksam erreicht werden, indem dieses Verfahren Bewerbern zugänglich gemacht wird, die Berufserfahrung in einem anderen Mitgliedstaat als der Italienischen Republik erworben haben, ohne die unbefristeten Stellen Arbeitnehmern dieses Bereichs vorzubehalten, die „über lange Zeit“ befristet beschäftigt waren.
Im Übrigen würde eine solche Maßnahme die Italienische Republik nicht daran hindern, speziell der prekären Lage der letztgenannten Arbeitnehmer, die sich, wie das vorlegende Gericht ausführt, aus dem wiederholten Abschluss befristeter Verträge ergibt, u. a. durch die Durchführung der in Paragraf 5 der Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge genannten Maßnahmen oder durch die Festanstellung dieser Arbeitnehmer abzuhelfen.
Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass die Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung nicht gerechtfertigt ist.
Zu Art. 3 der Verordnung Nr. 492/2011, dessen Abs. 1 den Wortlaut von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. 1968, L 257, S. 2) unverändert übernimmt (Urteil vom 5. Februar 2015, Kommission/Belgien, C-317/14, EU:C:2015:63, Rn. 2), genügt der Hinweis, dass er lediglich die Rechte erläutert, die sich bereits aus Art. 45 AEUV insbesondere im Hinblick auf den Zugang zur Beschäftigung ergeben, und daher in der gleichen Art und Weise auszulegen ist wie Art. 45 AEUV (vgl. entsprechend Urteile vom 23. Februar 1994, Scholz, C-419/92, EU:C:1994:62, Rn. 6, und vom 12. Mai 2005, Kommission/Italien, C-278/03, EU:C:2005:281, Rn. 3 und 15).
Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 45 AEUV und Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 492/2011 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die vorsieht, dass nur Bewerber, die eine bestimmte Berufserfahrung an nationalen öffentlichen Hochschuleinrichtungen für Kunst, Musik und Tanz erworben haben, zu einem Verfahren zur Aufnahme in Ranglisten, die erstellt werden, um mittels unbefristeter und befristeter Arbeitsverträge Personal in diese Einrichtungen einzustellen, zugelassen werden können und die somit verhindert, dass für die Zwecke der Zulassung zu diesem Verfahren die in anderen Mitgliedstaaten erworbene Berufserfahrung berücksichtigt wird.
Kosten
Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieser Gerichte. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:
Art. 45 AEUV und Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union
sind dahin auszulegen, dass
sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die vorsieht, dass nur Bewerber, die eine bestimmte Berufserfahrung an nationalen öffentlichen Hochschuleinrichtungen für Kunst, Musik und Tanz erworben haben, zu einem Verfahren zur Aufnahme in Ranglisten, die erstellt werden, um mittels unbefristeter und befristeter Arbeitsverträge Personal in diese Einrichtungen einzustellen, zugelassen werden können und die somit verhindert, dass für die Zwecke der Zulassung zu diesem Verfahren die in anderen Mitgliedstaaten erworbene Berufserfahrung berücksichtigt wird.
Unterschriften
( *1)Verfahrenssprache: Italienisch.
Kontakt zur AOK Rheinland-Pfalz/Saarland
Persönlicher Ansprechpartner