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EuGH 29.03.2017 - C-652/15
EuGH 29.03.2017 - C-652/15 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer) - 29. März 2017 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung — Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei — Beschluss Nr. 1/80 — Art. 13 — Stillhalteklausel — Aufenthaltsrecht der Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört — Etwaiges Vorliegen eines zwingenden Grundes des Allgemeininteresses, der neue Beschränkungen rechtfertigt — Wirksame Steuerung der Migrationsströme — Erfordernis einer Aufenthaltserlaubnis für Drittstaatsangehörige unter 16 Jahren — Verhältnismäßigkeit“
Leitsatz
In der Rechtssache C-652/15
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht Darmstadt (Deutschland) mit Entscheidung vom 1. Dezember 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Dezember 2015, in dem Verfahren
Furkan Tekdemir, gesetzlich vertreten durch Derya Tekdemir und Nedim Tekdemir,
gegen
Kreis Bergstraße
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev, C. G. Fernlund und S. Rodin,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Oktober 2016,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
von Furkan Tekdemir, gesetzlich vertreten durch Derya Tekdemir und Nedim Tekdemir, vertreten durch Rechtsanwalt R. Gutmann,
der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Möller als Bevollmächtigte,
der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Hesse als Bevollmächtigten,
der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin und T. Maxian Rusche als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. Dezember 2016
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, der dem von der Republik Türkei einerseits sowie den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits am 12. September 1963 in Ankara unterzeichneten und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 im Namen der Gemeinschaft geschlossenen, gebilligten und bestätigten Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685) (im Folgenden: Assoziierungsabkommen) beigefügt ist.
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Furkan Tekdemir (im Folgenden: Kind Tekdemir), gesetzlich vertreten durch seine Eltern, Frau Derya Tekdemir und Herrn Nedim Tekdemir, und dem Kreis Bergstraße (Deutschland) wegen Ablehnung seines Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für Deutschland.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Assoziierungsabkommen
Nach Art. 2 Abs. 1 des Assoziierungsabkommens hat dieses zum Ziel, eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien unter voller Berücksichtigung der Notwendigkeit zu fördern, dass hierbei der beschleunigte Aufbau der türkischen Wirtschaft sowie die Hebung des Beschäftigungsstands und der Lebensbedingungen des türkischen Volkes gewährleistet werden.
In Art. 12 des Assoziierungsabkommens heißt es, dass „[d]ie Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln [45, 46 und 47 AEUV] leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen“.
Beschluss Nr. 1/80
Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Türkei dürfen für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen.“
Nach Art. 14 des Beschlusses Nr. 1/80 gilt Folgendes:
„(1) Dieser Abschnitt gilt vorbehaltlich der Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind.
(2) Er berührt nicht die Rechte und Pflichten, die sich aus den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder zweiseitigen Abkommen zwischen der Türkei und den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft ergeben, soweit sie für ihre Staatsangehörigen eine günstigere Regelung vorsehen.“
Deutsches Recht
§ 4 („Erfordernis eines Aufenthaltstitels“) des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet vom 30. Juli 2004 (BGBl. 2004 I, S. 1950) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: AufenthG) bestimmt:
„(1) Ausländer bedürfen für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels, sofern nicht durch Recht der Europäischen Union oder durch Rechtsverordnung etwas anderes bestimmt ist oder auf Grund des [Assoziierungsabkommens] ein Aufenthaltsrecht besteht. Die Aufenthaltstitel werden erteilt als
Visum im Sinne des § 6 Absatz 1 Nummer 1 und Absatz 3,
Aufenthaltserlaubnis (§ 7),
Blaue Karte EU (§ 19a),
Niederlassungserlaubnis (§ 9) oder
Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU (§ 9a).
…
(5) Ein Ausländer, dem nach dem [Assoziierungsabkommen] ein Aufenthaltsrecht zusteht, ist verpflichtet, das Bestehen des Aufenthaltsrechts durch den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nachzuweisen, sofern er weder eine Niederlassungserlaubnis noch eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU besitzt. Die Aufenthaltserlaubnis wird auf Antrag ausgestellt.“
In § 33 („Geburt eines Kindes im Bundesgebiet“) AufenthG heißt es:
„Einem Kind, das im Bundesgebiet geboren wird, kann abweichend von den §§ 5 und 29 Absatz 1 Nummer 2 von Amts wegen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn ein Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis, eine Niederlassungserlaubnis oder eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU besitzt. Wenn zum Zeitpunkt der Geburt beide Elternteile oder der allein personensorgeberechtigte Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis, eine Niederlassungserlaubnis oder eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU besitzen, wird dem im Bundesgebiet geborenen Kind die Aufenthaltserlaubnis von Amts wegen erteilt. Der Aufenthalt eines im Bundesgebiet geborenen Kindes, dessen Mutter oder Vater zum Zeitpunkt der Geburt im Besitz eines Visums ist oder sich visumfrei aufhalten darf, gilt bis zum Ablauf des Visums oder des rechtmäßigen visumfreien Aufenthalts als erlaubt.“
§ 81 („Beantragung des Aufenthaltstitels“) AufenthG sieht vor:
„(1) Ein Aufenthaltstitel wird einem Ausländer nur auf seinen Antrag erteilt, soweit nichts anderes bestimmt ist.
(2) Ein Aufenthaltstitel, der … nach der Einreise eingeholt werden kann, ist unverzüglich nach der Einreise oder innerhalb der in der Rechtsverordnung bestimmten Frist zu beantragen. Für ein im Bundesgebiet geborenes Kind, dem nicht von Amts wegen ein Aufenthaltstitel zu erteilen ist, ist der Antrag innerhalb von sechs Monaten nach der Geburt zu stellen.
…“
§ 2 des Ausländergesetzes vom 28. April 1965 (BGBl. 1965 I, S. 353) in der zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beschlusses Nr. 1/80 in Deutschland geltenden Fasssung bestimmte:
„(1) Ausländer, die in den Geltungsbereich dieses Gesetzes einreisen und sich darin aufhalten wollen, bedürfen einer Aufenthaltserlaubnis. Die Aufenthaltserlaubnis darf erteilt werden, wenn die Anwesenheit des Ausländers Belange der Bundesrepublik Deutschland nicht beeinträchtigt.
(2) Keiner Aufenthaltserlaubnis bedürfen Ausländer, die
das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet haben,
…
nach zwischenstaatlichen Vereinbarungen hiervon befreit sind.
(3) Der Bundesminister des Innern kann zur Erleichterung des Aufenthalts von Ausländern durch Rechtsverordnung bestimmen, dass auch andere Ausländer keiner Aufenthaltserlaubnis bedürfen.
(4) Der Bundesminister des Innern kann durch Rechtsverordnung bestimmen, dass Ausländer, die keiner Aufenthaltserlaubnis bedürfen, ihren Aufenthalt anzuzeigen haben.“
Schließlich ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass die Dauer der Aufenthaltserlaubnis für einen jugendlichen Ausländer, der wegen seines Alters von der Aufenthaltserlaubnispflicht befreit war, nach § 7 Abs. 4 und 5 dieses Gesetzes von der Verwaltungsbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen beschränkt werden konnte.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Das Kind Tekdemir wurde am 16. Juni 2014 in Deutschland geboren und ist ein türkischer Staatsangehöriger.
Die Mutter des Kindes Tekdemir, gleichfalls eine türkische Staatsangehörige, reiste am 1. November 2013 mit einem Schengen-Touristenvisum nach Deutschland ein. Sie stellte am 12. November 2013 bei der Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in Gießen (Deutschland) einen Asylantrag. Dieses Verfahren war zum Zeitpunkt des Vorabentscheidungsersuchens noch nicht abgeschlossen. Die Mutter des Kindes Tekdemir besitzt keinen Aufenthaltstitel, aber als Asylbewerberin eine Aufenthaltsgestattung.
Der Vater des Kindes Tekdemir, gleichfalls ein türkischer Staatsangehöriger, reiste am 13. November 2005 nach Deutschland ein. Ab dem 1. Februar 2009 übte er verschiedene entlohnte Beschäftigungen aus. Seit dem 1. März 2014 arbeitet er Vollzeit.
Der Vater des Kindes Tekdemir erhielt erstmals am 21. April 2008 eine befristete Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, die fortlaufend bis zum 30. Oktober 2013 verlängert wurde. Seit dem 31. Oktober 2013 ist er im Besitz einer bis zum 6. Oktober 2016 gültigen Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 AufenthG.
Die Eltern des Kindes Tekdemir heirateten am 23. September 2015. Zuvor hatten sie die gemeinsame elterliche Sorge über den Kläger des Ausgangsverfahrens ausgeübt.
Am 10. Juli 2014 beantragte das Kind Tekdemir, dessen Aufenthalt in Deutschland – wie das vorlegende Gericht festgestellt hat – für sechs Monate nach der Geburt rechtmäßig war, die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auf der Grundlage von § 33 AufenthG.
Mit Bescheid vom 27. Juli 2015 lehnte der Kreis Bergstraße diesen Antrag ab. Er begründete diese Ablehnung insbesondere damit, dass die zuständige Behörde bei der Frage, ob ein Aufenthaltstitel vergeben werden müsse, über Ermessen verfüge und dass er im vorliegenden Fall der Ansicht gewesen sei, dass von diesem Ermessen nicht zugunsten des Kindes Tekdemir Gebrauch gemacht werden müsse. Der Kreis Bergstraße stellte nämlich fest, dass es nicht unzumutbar sei, vom Kind Tekdemir zu verlangen, nachträglich ein Visumverfahren durchzuführen, auch wenn dies zwangsläufig dazu führe, dass es und seine Mutter zumindest vorübergehend vom Vater bzw. Ehemann getrennt würden. Zudem könne dem Vater des Kindes Tekdemir zugemutet werden, die familiäre bzw. eheliche Lebensgemeinschaft mit seinem Sohn und seiner Ehefrau in der Türkei fortzuführen, da er weder als Asylberechtigter noch als Flüchtling anerkannt sei und wie sein Sohn und seine Ehefrau die türkische Staatsangehörigkeit besitze. Schließlich wies der Kreis Bergstraße darauf hin, dass das Kind Tekdemir für die Dauer des von seiner Mutter in Gang gesetzten Asylverfahrens geduldet werde.
Das Kind Tekdemir, vertreten durch seine Eltern, erhob gegen diesen Bescheid Klage beim vorlegenden Gericht.
Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass das Erfordernis einer Aufenthaltserlaubnis für Drittstaatsangehörige unter 16 Jahren eine neue Beschränkung im Sinne von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 darstelle.
Da dieses Erfordernis das Ziel verfolge, die Migrationsströme wirksam zu steuern, fragt sich das vorlegende Gericht, ob dieses Ziel einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstelle, der eine solche Beschränkung rechtfertige, und, wenn dem so sei, welche qualitativen Anforderungen an einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses in Bezug auf dieses Ziel zu stellen seien.
Unter diesen Umständen hat das Verwaltungsgericht Darmstadt (Deutschland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Stellt das Ziel einer wirksamen Steuerung der Migrationsströme einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses dar, der geeignet ist, einem im Bundesgebiet geborenen türkischen Staatsangehörigen die Befreiung von dem Erfordernis einer Aufenthaltserlaubnis, die er aufgrund der Stillhalteklausel des Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 beanspruchen könnte, zu versagen?
Für den Fall, dass der Gerichtshof diese Frage bejahen sollte: Welche qualitativen Anforderungen sind an einen „zwingenden Grund des Allgemeininteresses“ in Bezug auf das Ziel einer wirksamen Steuerung der Migrationsströme zu stellen?
Zu den Vorlagefragen
Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass das Ziel einer wirksamen Steuerung der Migrationsströme einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellt, der eine nationale Maßnahme rechtfertigen kann, die nach dem Inkrafttreten dieses Beschlusses in dem betreffenden Mitgliedstaat erlassen wurde und Drittstaatsangehörigen unter 16 Jahren für die Einreise in diesen Mitgliedstaat und den Aufenthalt dort das Erfordernis einer Aufenthaltserlaubnis auferlegt, und, wenn ja, ob eine solche Maßnahme gemessen an dem verfolgten Ziel verhältnismäßig ist.
Zur Beantwortung der vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen ist zuerst zu prüfen, ob – wie das vorlegende Gericht meint – die im Ausgangsverfahren streitige Maßnahme eine neue Beschränkung im Sinne von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 darstellt.
Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die in Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 enthaltene Stillhalteklausel nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs allgemein die Einführung neuer innerstaatlicher Maßnahmen verbietet, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die für ihn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Beschlusses in dem betreffenden Mitgliedstaat galten (Urteil vom 7. November 2013, Demir, C-225/12, EU:C:2013:725, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass Drittstaatsangehörige, auch die unter 16 Jahren, nach der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren nationalen Regelung für die Einreise nach Deutschland und den Aufenthalt dort, im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis sein müssen. Bei in diesem Mitgliedstaat geborenen Kindern Drittstaatsangehöriger jedoch kann die zuständige Behörde, wenn – wie beim Kind Tekdemir – einer der Elternteile eine Aufenthaltserlaubnis für Deutschland besitzt, von Amts wegen eine Aufenthaltserlaubnis erteilen.
Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich ferner, dass Drittstaatsangehörige unter 16 Jahren nach der zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beschlusses Nr. 1/80 in Deutschland anwendbaren nationalen Regelung für die Einreise in diesen Mitgliedstaat und den Aufenthalt dort vom Erfordernis einer Aufenthaltserlaubnis befreit waren. Auf der Grundlage dieser Befreiung hatten diese minderjährigen Kinder ein Aufenthaltsrecht und waren damit den Drittstaatsangehörigen mit einer Aufenthaltserlaubnis gleichgestellt. Das diesen minderjährigen Kindern somit zuerkannte Aufenthaltsrecht konnte jedoch durch die Verwaltungsbehörde nachträglich in Ausübung ihres Ermessens zeitlich beschränkt werden.
Nach einem Vergleich der zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beschlusses Nr. 1/80 bestehenden nationalen Regelung mit derjenigen, um die es im Ausgangsverfahren geht, hat das vorlegende Gericht – ohne dass ihm die deutsche Regierung in diesem Punkt widersprochen hätte – festgestellt, dass die in der letztgenannten Regelung für Drittstaatsangehörige unter 16 Jahren vorgesehenen Voraussetzungen für die Einreise nach Deutschland und den Aufenthalt dort strenger seien als in der erstgenannten Regelung.
Außerdem könne die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung, auch wenn sie nicht speziell die Familienzusammenführung regle, doch eine Auswirkung auf die Familienzusammenführung eines türkischen Arbeitnehmers wie den Vater des Kindes Tekdemir haben, wenn ihre Anwendung, wie im vorliegenden Fall, eine solche Zusammenführung erschwere. Auch diese Feststellung wird von der deutschen Regierung nicht beanstandet.
Folglich ist davon auszugehen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung für türkische Arbeitnehmer – wie den Vater des Kindes Tekdemir – die Voraussetzungen für eine Familienzusammenführung im Vergleich zu denjenigen verschärft, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beschlusses Nr. 1/80 in Deutschland bestanden.
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass – wie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt – eine nationale Regelung, die die Voraussetzungen für eine Familienzusammenführung von sich rechtmäßig im betreffenden Mitgliedstaat aufhaltenden türkischen Arbeitnehmern im Vergleich zu denjenigen verschärft, die in diesem Mitgliedstaat galten, als der Beschluss Nr. 1/80 in Kraft trat, eine neue Beschränkung im Sinne von Art. 13 dieses Beschlusses der Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch diese türkischen Arbeitnehmer in diesem Mitgliedstaat darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. April 2016, Genc, C-561/14, EU:C:2016:247, Rn. 50).
Demnach stellt die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung eine neue Beschränkung im Sinne von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 dar.
Hierzu hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass eine Beschränkung, mit der bezweckt oder bewirkt wird, die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit im Inland durch einen türkischen Staatsangehörigen strengeren Voraussetzungen zu unterwerfen, als sie zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beschlusses Nr. 1/80 galten, verboten ist, es sei denn, sie gehört zu den in Art. 14 dieses Beschlusses aufgeführten Beschränkungen oder ist durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sowie geeignet, die Verwirklichung des verfolgten legitimen Ziels zu gewährleisten, und geht nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinaus (Urteil vom 12. April 2016, Genc, C-561/14, EU:C:2016:247, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung nicht zu den in Art. 14 des Beschlusses Nr. 1/80 aufgeführten Beschränkungen gehört, da sie – wie der Vorlageentscheidung und den Erklärungen der deutschen Regierung zu entnehmen ist – das Ziel einer wirksamen Steuerung der Migrationsströme verfolgt.
Daher ist zweitens zu prüfen, ob die wirksame Steuerung der Migrationsströme einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellt, der – wie die deutsche Regierung vorträgt – eine neue Beschränkung im Sinne von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 rechtfertigen kann.
Insoweit ist auf die Bedeutung hinzuweisen, die das Unionsrecht dem Ziel einer wirksamen Steuerung der Migrationsströme beimisst, wie Art. 79 Abs. 1 AEUV erkennen lässt, der ausdrücklich auf dieses Ziel als eines der Ziele hinweist, die mit der von der Europäischen Union entwickelten gemeinsamen Einwanderungspolitik verfolgt werden.
Im Übrigen ist festzustellen, dass dieses Ziel weder den in Art. 2 Abs. 1 des Assoziierungsabkommens genannten noch den in den Erwägungsgründen des Beschlusses Nr. 1/80 angesprochenen Zielen entgegensteht.
Ferner hat der Gerichtshof anerkannt, dass das Ziel, die rechtswidrige Einreise und den rechtswidrigen Aufenthalt zu verhindern, einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses für die Zwecke des Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. November 2013, Demir, C-225/12, EU:C:2013:725, Rn. 41).
Unter diesen Umständen kann – wie der Generalanwalt in Rn. 17 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – das Ziel, die Migrationsströme wirksam zu steuern, ein zwingender Grund des Allgemeininteresses zur Rechtfertigung einer neuen Beschränkung im Sinne von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 sein.
Drittens ist zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren streitige nationale Maßnahme geeignet ist, die Verwirklichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinausgeht.
Was die Angemessenheit dieser Maßnahme im Hinblick auf das verfolgte Ziel betrifft, lässt sich anhand des Erfordernisses für Drittstaatsangehörige unter 16 Jahren, für die Einreise in den betreffenden Mitgliedstaat und den Aufenthalt dort im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis zu sein, die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts dieser Staatsangehörigen in diesem Mitgliedstaat gewiss überwachen. Da eine wirksame Steuerung der Migrationsströme eine Kontrolle dieser Ströme erfordert, ist eine solche Maßnahme geeignet, die Verwirklichung dieses Ziels zu gewährleisten. Trotz der Stillhalteklausel kann sie daher eine zusätzliche Beschränkung grundsätzlich rechtfertigen.
Zur Frage, ob die im Ausgangsverfahren streitige nationale Maßnahme über das zur Erreichung des verfolgten Ziels Erforderliche hinausgeht, ist festzustellen, dass das Erfordernis für Drittstaatsangehörige, auch die unter 16 Jahren, für die Einreise und den Aufenthalt in Deutschland im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis zu sein, gemessen an dem verfolgten Ziel an sich nicht als unverhältnismäßig angesehen werden kann.
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt jedoch auch, dass die Modalitäten der Umsetzung einer solchen Verpflichtung nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist.
Hierzu ist festzustellen, dass § 33 AufenthG bei der Entscheidung, ob unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen oder zu versagen ist, der zuständigen Behörde ein weites Ermessen einräumt.
Im vorliegenden Fall lehnte ausweislich der Vorlageentscheidung der Kreis Bergstraße in Ausübung des ihm zustehenden Ermessens den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für das Kind Tekdemir ab, da er die Ansicht vertrat, dass es zum einen nicht unzumutbar sei, von diesem zu verlangen, nachträglich ein Visumverfahren durchzuführen, auch wenn dies zwangsläufig dazu führe, dass das Kind und seine Mutter zumindest vorübergehend vom Vater bzw. Ehemann getrennt würden, und dass zudem zum anderen dem Vater des Kindes Tekdemir zugemutet werden könne, die familiäre bzw. eheliche Lebensgemeinschaft mit seinem Sohn und seiner Ehefrau in der Türkei fortzuführen.
Unstreitig hat somit die Anwendung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung auf einen türkischen Arbeitnehmer wie den Vater des Kindes Tekdemir zur Folge, dass dieser die Wahl hat, seine Beschäftigung in Deutschland fortzusetzen und schwere Beeinträchtigungen seines Familienlebens in Kauf zu nehmen oder seine Beschäftigung aufzugeben, ohne sicher zu sein, dass er sie nach seiner etwaigen Rückkehr aus der Türkei wieder aufnehmen kann.
Die deutsche Regierung weist indessen darauf hin, dass das deutsche Recht die Möglichkeit des Familiennachzugs des Klägers des Ausgangsverfahrens zu seinem Vater keineswegs ausschließe, soweit es die Verpflichtung vorsehe, ein Visumverfahren nachzuholen, in dem das Vorliegen der Voraussetzungen für diesen Familiennachzug geprüft werden könne. Der Kläger des Ausgangsverfahrens müsse daher ein solches Verfahren von der Türkei aus einleiten, um im Rahmen des Familiennachzugs eine Aufenthaltserlaubnis für die Einreise und den Aufenthalt in Deutschland zu erhalten.
Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergeben sich jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass es, um die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts von Drittstaatsangehörigen unter 16 Jahren in dem betroffenen Mitgliedstaat zu überwachen und dadurch die Verwirklichung des Ziels einer wirksamen Steuerung der Migrationsströme zu gewährleisten, erforderlich wäre, dass die in diesem Mitgliedstaat geborenen Kinder mit Drittstaatsangehörigkeit, die sich dort von Geburt an rechtmäßig aufhalten, in den Drittstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie haben, reisen und von diesem Drittstaat aus ein Verfahren einleiten müssen, in dem diese Voraussetzungen geprüft werden.
Insoweit wird nicht vorgetragen und erst recht nicht bewiesen, dass die zuständige Behörde nur dadurch in die Lage versetzt würde, die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts des Klägers des Ausgangsverfahrens im Rahmen der Familienzusammenführung zu beurteilen, dass er das deutsche Hoheitsgebiet verlässt und nachträglich ein Visumverfahren einleitet.
Vielmehr lässt nichts die Annahme zu, dass die zuständige Behörde nicht bereits über alle für die Entscheidung über das Aufenthaltsrecht des Klägers des Ausgangsverfahrens im Rahmen der Familienzusammenführung in Deutschland erforderlichen Angaben verfügte und dass diese Prüfung von ihr nicht unter Vermeidung der in Rn. 46 des vorliegenden Urteils genannten Nachteile im Rahmen der Entscheidung über die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 33 AufenthG durchgeführt werden könnte.
Da die Anwendung der nationalen Regelung unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens somit Folgen wie die in Rn. 46 des vorliegenden Urteils dargestellten nach sich zieht, ist eine solche Anwendung gemessen an dem verfolgten Ziel als unverhältnismäßig zu betrachten.
Daraus folgt, dass für die Zwecke des Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 die Modalitäten der Umsetzung des Erfordernisses für Drittstaatsangehörige unter 16 Jahren, für die Einreise in den betreffenden Mitgliedstaat und den Aufenthalt dort im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis zu sein, soweit es sich um Kinder mit Drittstaatsangehörigkeit handelt, die in dem betreffenden Mitgliedstaat geboren wurden und von denen – wie beim Kläger des Ausgangsverfahrens – ein Elternteil ein über eine Aufenthaltserlaubnis in diesem Mitgliedstaat verfügender türkischer Arbeitnehmer ist, über das hinausgehen, was für die Erreichung des Ziels einer wirksamen Steuerung der Migrationsströme erforderlich ist.
Nach alledem ist auf die Fragen des vorlegenden Gerichts zu antworten, dass Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass das Ziel einer wirksamen Steuerung der Migrationsströme einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen kann, der eine nationale Maßnahme rechtfertigen kann, die nach dem Inkrafttreten dieses Beschlusses in dem betreffenden Mitgliedstaat erlassen wurde und den Drittstaatsangehörigen unter 16 Jahren für die Einreise in diesen Mitgliedstaat und den Aufenthalt dort das Erfordernis einer Aufenthaltserlaubnis auferlegt. Eine solche Maßnahme ist jedoch gemessen an dem verfolgten Ziel nicht verhältnismäßig, sofern die Modalitäten ihrer Umsetzung, soweit es sich um Kinder mit Drittstaatsangehörigkeit handelt, die in dem betreffenden Mitgliedstaat geboren wurden und von denen – wie beim Kläger des Ausgangsverfahrens – ein Elternteil ein sich rechtmäßig in diesem Mitgliedstaat aufhaltender türkischer Arbeitnehmer ist, über das hinausgehen, was für die Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, der dem von der Republik Türkei einerseits sowie den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits am 12. September 1963 in Ankara unterzeichneten und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 im Namen der Gemeinschaft geschlossenen, gebilligten und bestätigten Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei beigefügt ist, ist dahin auszulegen, dass das Ziel einer wirksamen Steuerung der Migrationsströme einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen kann, der eine nationale Maßnahme rechtfertigen kann, die nach dem Inkrafttreten dieses Beschlusses in dem betreffenden Mitgliedstaat erlassen wurde und den Drittstaatsangehörigen unter 16 Jahren für die Einreise in diesen Mitgliedstaat und den Aufenthalt dort das Erfordernis einer Aufenthaltserlaubnis auferlegt.
Eine solche Maßnahme ist jedoch gemessen an dem verfolgten Ziel nicht verhältnismäßig, sofern die Modalitäten ihrer Umsetzung, soweit es sich um Kinder mit Drittstaatsangehörigkeit handelt, die in dem betreffenden Mitgliedstaat geboren wurden und von denen – wie beim Kläger des Ausgangsverfahrens – ein Elternteil ein sich rechtmäßig in diesem Mitgliedstaat aufhaltender türkischer Arbeitnehmer ist, über das hinausgehen, was für die Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.
Silva de Lapuerta
Bonichot
Arabadjiev
Fernlund
Rodin
Verkündet in Luxemburg in öffentlicher Sitzung am 29. März 2017.
Der Kanzler
A. Calot Escobar
Die Präsidentin der Ersten Kammer
R. Silva de Lapuerta
( *1)* Verfahrenssprache: Deutsch.
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