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EuGH 16.06.2016 - C-186/15
EuGH 16.06.2016 - C-186/15 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer) - 16. Juni 2016 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung — Steuerrecht — Mehrwertsteuer — Richtlinie 2006/112/EG — Vorsteuerabzug — Art. 173 Abs. 1 — Gegenstände und Dienstleistungen, die sowohl für steuerbare als auch für steuerbefreite Umsätze verwendet werden (gemischt genutzte Gegenstände und Dienstleistungen) — Bestimmung der Höhe des Vorsteuerabzugs — Pro-rata-Satz des Vorsteuerabzugs — Art. 174 — Berechnung des Pro-rata-Satzes des Vorsteuerabzugs unter Anwendung eines Umsatzschlüssels — Art. 173 Abs. 2 — Ausnahmeregelung — Art. 175 — Regel zur Rundung des Pro-rata-Satzes des Vorsteuerabzugs — Art. 184 und 185 — Berichtigung der Vorsteuerabzüge“
Leitsatz
In der Rechtssache C-186/15
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Finanzgericht Münster (Deutschland) mit Entscheidung vom 17. März 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 24. April 2015, in dem Verfahren
Kreissparkasse Wiedenbrück
gegen
Finanzamt Wiedenbrück
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten D. Šváby sowie der Richter J. Malenovský (Berichterstatter) und M. Vilaras,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
der Kreissparkasse Wiedenbrück, vertreten durch Steuerberater O. Peters,
der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und K. Petersen als Bevollmächtigte,
der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wasmeier und M. Owsiany-Hornung als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 173 Abs. 2, Art. 175 Abs. 1 und Art. 184 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1).
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Kreissparkasse Wiedenbrück (im Folgenden: Kreissparkasse) und dem Finanzamt Wiedenbrück (Deutschland) über die Berechnung des Rechts auf Abzug der Mehrwertsteuer, die beim Erwerb von Gegenständen und Dienstleistungen geschuldet oder entrichtet wird, die sowohl für Umsätze verwendet werden, für die ein Recht auf Vorsteuerabzug besteht, als auch für Umsätze, für die dieses Recht nicht besteht (im Folgenden: gemischt genutzte Gegenstände und Dienstleistungen).
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Sechste Richtlinie
Art. 17 („Entstehung und Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug“) der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. 1977, L 145, S. 1) (im Folgenden: Sechste Richtlinie) sah in Abs. 5 vor:
„Soweit Gegenstände und Dienstleistungen von einem Steuerpflichtigen sowohl für Umsätze verwendet werden, für die nach den Absätzen 2 und 3 ein Recht auf Vorsteuerabzug besteht, als auch für Umsätze, für die dieses Recht nicht besteht, ist der Vorsteuerabzug nur für den Teil der Mehrwertsteuer zulässig, der auf den Betrag der erstgenannten Umsätze entfällt.
Dieser Pro-rata-Satz wird nach Artikel 19 für die Gesamtheit der vom Steuerpflichtigen bewirkten Umsätze festgelegt.
Jedoch können die Mitgliedstaaten
dem Steuerpflichtigen gestatten, für jeden Bereich seiner Tätigkeit einen besonderen Pro-rata-Satz anzuwenden, wenn für jeden dieser Bereiche getrennte Aufzeichnungen geführt werden;
den Steuerpflichtigen verpflichten, für jeden Bereich seiner Tätigkeit einen besonderen Pro-rata-Satz anzuwenden und für jeden dieser Bereiche getrennte Aufzeichnungen zu führen;
dem Steuerpflichtigen gestatten oder ihn verpflichten, den Abzug je nach der Zuordnung der Gesamtheit oder eines Teils der Gegenstände oder Dienstleistungen vorzunehmen;
dem Steuerpflichtigen gestatten oder ihm vorschreiben, den Vorsteuerabzug nach der in Unterabsatz 1 vorgesehenen Regel bei allen Gegenständen und Dienstleistungen vorzunehmen, die für die dort genannten Umsätze verwendet wurden;
…“
Art. 19 („Berechnung des Pro-rata-Satzes des Vorsteuerabzugs“) Abs. 1 der Sechsten Richtlinie bestimmte:
„Der Pro-rata-Satz des Vorsteuerabzugs nach Artikel 17 Absatz 5 Unterabsatz 1 ergibt sich aus einem Bruch; dieser enthält:
im Zähler den je Jahr ermittelten Gesamtbetrag der zum Vorsteuerabzug nach Artikel 17 Absätze 2 und 3 berechtigenden Umsätze, abzüglich der Mehrwertsteuer;
im Nenner den je Jahr ermittelten Gesamtbetrag der im Zähler stehenden sowie der nicht zum Vorsteuerabzug berechtigenden Umsätze, abzüglich der Mehrwertsteuer. Die Mitgliedstaaten können in den Nenner auch die Subventionen einbeziehen, die nicht in Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a) genannt sind.
Der Pro-rata-Satz wird auf Jahresbasis in Prozent festgesetzt und auf einen vollen Prozentsatz aufgerundet.“
Die Sechste Richtlinie wurde durch die Richtlinie 2006/112, die am 1. Januar 2007 in Kraft getreten ist, aufgehoben.
Richtlinie 2006/112
Der dritte Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/112 lautet:
„Im Einklang mit dem Grundsatz besserer Rechtsetzung sollten zur Gewährleistung der Klarheit und Wirtschaftlichkeit der Bestimmungen die Struktur und der Wortlaut der Richtlinie neu gefasst werden; dies sollte jedoch grundsätzlich nicht zu inhaltlichen Änderungen des geltenden Rechts führen. Einige inhaltliche Änderungen ergeben sich jedoch notwendigerweise im Rahmen der Neufassung und sollten dennoch vorgenommen werden. Soweit sich solche Änderungen ergeben, sind sie in den Bestimmungen über die Umsetzung und das Inkrafttreten der Richtlinie erschöpfend aufgeführt.“
In Art. 173 der Richtlinie heißt es:
„(1) Soweit Gegenstände und Dienstleistungen von einem Steuerpflichtigen sowohl für Umsätze verwendet werden, für die ein Recht auf Vorsteuerabzug … besteht, als auch für Umsätze, für die kein Recht auf Vorsteuerabzug besteht, darf nur der Teil der Mehrwertsteuer abgezogen werden, der auf den Betrag der erstgenannten Umsätze entfällt.
Der Pro-rata-Satz des Vorsteuerabzugs wird gemäß den Artikeln 174 und 175 für die Gesamtheit der von dem Steuerpflichtigen bewirkten Umsätze festgelegt.
(2) Die Mitgliedstaaten können folgende Maßnahmen ergreifen:
dem Steuerpflichtigen gestatten, für jeden Bereich seiner Tätigkeit einen besonderen Pro-rata-Satz anzuwenden, wenn für jeden dieser Bereiche getrennte Aufzeichnungen geführt werden;
den Steuerpflichtigen verpflichten, für jeden Bereich seiner Tätigkeit einen besonderen Pro-rata-Satz anzuwenden und für jeden dieser Bereiche getrennte Aufzeichnungen zu führen;
dem Steuerpflichtigen gestatten oder ihn verpflichten, den Vorsteuerabzug je nach der Zuordnung der Gesamtheit oder eines Teils der Gegenstände oder Dienstleistungen vorzunehmen;
dem Steuerpflichtigen gestatten oder ihn verpflichten, den Vorsteuerabzug gemäß Absatz 1 Unterabsatz 1 bei allen Gegenständen und Dienstleistungen vorzunehmen, die für die dort genannten Umsätze verwendet wurden;
…“
Art. 174 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:
„Der Pro-rata-Satz des Vorsteuerabzugs ergibt sich aus einem Bruch, der sich wie folgt zusammensetzt:
im Zähler steht der je Jahr ermittelte Gesamtbetrag – ohne Mehrwertsteuer – der Umsätze, die zum Vorsteuerabzug … berechtigen;
im Nenner steht der je Jahr ermittelte Gesamtbetrag – ohne Mehrwertsteuer – der im Zähler stehenden Umsätze und der Umsätze, die nicht zum Vorsteuerabzug berechtigen.
Die Mitgliedstaaten können in den Nenner auch den Betrag der Subventionen einbeziehen, die nicht unmittelbar mit dem Preis der Lieferungen von Gegenständen oder der Dienstleistungen im Sinne des Artikels 73 zusammenhängen.“
Art. 175 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:
„Der Pro-rata-Satz des Vorsteuerabzugs wird auf Jahresbasis in Prozent festgesetzt und auf einen vollen Prozentsatz aufgerundet.“
Art. 184 der genannten Richtlinie hat folgenden Wortlaut:
„Der ursprüngliche Vorsteuerabzug wird berichtigt, wenn der Vorsteuerabzug höher oder niedriger ist als der, zu dessen Vornahme der Steuerpflichtige berechtigt war.“
Art. 185 Abs. 1 der Richtlinie lautet:
„Die Berichtigung erfolgt insbesondere dann, wenn sich die Faktoren, die bei der Bestimmung des Vorsteuerabzugsbetrags berücksichtigt werden, nach Abgabe der Mehrwertsteuererklärung geändert haben, zum Beispiel bei rückgängig gemachten Käufen oder erlangten Rabatten.“
Art. 186 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten legen die Einzelheiten für die Anwendung der Artikel 184 und 185 fest.“
Die Art. 411 bis 414 der Richtlinie 2006/112 sind in Kapitel 3 („Umsetzung und Inkrafttreten“) des Titels XV enthalten.
Art. 411 dieser Richtlinie lautet:
„(1) Die Richtlinie 67/227/EWG und die [Sechste Richtlinie] werden unbeschadet der Verpflichtung der Mitgliedstaaten hinsichtlich der in Anhang XI Teil B genannten Fristen für die Umsetzung in innerstaatliches Recht und der Anwendungsfristen aufgehoben.
(2) Verweisungen auf die aufgehobenen Richtlinien gelten als Verweisungen auf die vorliegende Richtlinie und sind nach Maßgabe der Entsprechungstabelle in Anhang XII zu lesen.“
Art. 412 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:
„(1) Die Mitgliedstaaten erlassen die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um Artikel 2 Absatz 3, Artikel 44, Artikel 59 Absatz 1, Artikel 399 und Anhang III Nummer 18 dieser Richtlinie mit Wirkung zum 1. Januar 2008 nachzukommen. Sie teilen der Kommission unverzüglich den Wortlaut dieser Rechtsvorschriften mit und fügen eine Entsprechungstabelle dieser Rechtsvorschriften und der vorliegenden Richtlinie bei.
Wenn die Mitgliedstaaten diese Vorschriften erlassen, nehmen sie in den Vorschriften selbst oder durch einen Hinweis bei der amtlichen Veröffentlichung auf diese Richtlinie Bezug. Die Mitgliedstaaten regeln die Einzelheiten der Bezugnahme.
(2) Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission den Wortlaut der wesentlichen innerstaatlichen Rechtsvorschriften mit, die sie auf dem unter diese Richtlinie fallenden Gebiet erlassen.“
Art. 413 der genannten Richtlinie bestimmt:
„Diese Richtlinie tritt am 1. Januar 2007 in Kraft.“
Art. 414 dieser Richtlinie lautet:
„Diese Richtlinie ist an die Mitgliedstaaten gerichtet.“
Deutsches Recht
§ 15 („Vorsteuerabzug“) Abs. 4 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) bestimmt:
„Verwendet der Unternehmer einen für sein Unternehmen gelieferten, eingeführten oder innergemeinschaftlich erworbenen Gegenstand oder eine von ihm in Anspruch genommene sonstige Leistung nur zum Teil zur Ausführung von Umsätzen, die den Vorsteuerabzug ausschließen, so ist der Teil der jeweiligen Vorsteuerbeträge nicht abziehbar, der den zum Ausschluss vom Vorsteuerabzug führenden Umsätzen wirtschaftlich zuzurechnen ist. Der Unternehmer kann die nicht abziehbaren Teilbeträge im Wege einer sachgerechten Schätzung ermitteln. Eine Ermittlung des nicht abziehbaren Teils der Vorsteuerbeträge nach dem Verhältnis der Umsätze, die den Vorsteuerabzug ausschließen, zu den Umsätzen, die zum Vorsteuerabzug berechtigen, ist nur zulässig, wenn keine andere wirtschaftliche Zurechnung möglich ist.“
§ 15a Abs. 1 UStG sieht vor:
„Ändern sich bei einem Wirtschaftsgut, das nicht nur einmalig zur Ausführung von Umsätzen verwendet wird, innerhalb von fünf Jahren ab dem Zeitpunkt der erstmaligen Verwendung die für den ursprünglichen Vorsteuerabzug maßgebenden Verhältnisse, ist für jedes Kalenderjahr der Änderung ein Ausgleich durch eine Berichtigung des Abzugs der auf die Anschaffungs- oder Herstellungskosten entfallenden Vorsteuerbeträge vorzunehmen. …“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Bei der Kreissparkasse handelt es sich um ein Kreditinstitut.
Die Kreissparkasse ermittelte den Pro-rata-Satz für den Abzug der Mehrwertsteuer, mit der die von ihr erworbenen gemischt genutzten Gegenstände und Dienstleistungen belastet waren, für das Steuerjahr 2009 mit 13,55 % und für das Steuerjahr 2010 mit 13,18 %. Diese Sätze rundete sie jeweils auf 14 % auf. Bei der Berechnung der Höhe der Berichtigungen für die genannten Steuerjahre, die sie nach § 15a UStG aufgrund des Verzichts auf die Steuerfreiheit ihrer Umsätze im gewerblichen Kundengeschäft vornehmen musste, wandte sie ebenfalls Pro-rata-Sätze des Vorsteuerabzugs an, die sie auf 14 % aufrundete.
Nach einer im Jahr 2011 durchgeführten Steuerprüfung, die die Steuerjahre 2009 und 2010 betraf, erließ das Finanzamt Wiedenbrück am 3. Januar 2012 zwei geänderte Umsatzsteuerbescheide gegen die Kreissparkasse mit der Begründung, dass diese die Pro-rata-Sätze des Vorsteuerabzugs zu Unrecht auf einen vollen Prozentsatz aufgerundet habe.
Die Kreissparkasse legte gegen diese Bescheide Einspruch ein und berief sich auf Art. 175 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112, wonach der Pro-rata-Satz des Vorsteuerabzugs auf einen vollen Prozentsatz aufgerundet werden müsse.
Das Finanzamt Wiedenbrück wies den Einspruch mit Entscheidung vom 13. Juni 2012 zurück und begründete dies im Wesentlichen damit, dass Art. 175 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 nur anwendbar sei, wenn der betreffende Mitgliedstaat nicht von der in Art. 173 Abs. 2 dieser Richtlinie eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht habe, von der in Art. 173 Abs. 1 Unterabs. 2 dieser Richtlinie vorgesehenen Berechnungsmethode abzuweichen. Die Bundesrepublik Deutschland habe von dieser Möglichkeit aber Gebrauch gemacht, da der Pro-rata-Satz des Vorsteuerabzugs gemäß § 15 Abs. 4 Satz 3 UStG möglichst nach der sogenannten Methode der „wirtschaftlichen Zurechnung“ zu ermitteln sei.
Am 16. Juli 2012 erhob die Kreissparkasse beim Finanzgericht Münster Klage gegen die Entscheidung des Finanzamts Wiedenbrück vom 13. Juni 2012. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass der Gerichtshof in Rn. 21 des Urteils vom 18. Dezember 2008, Royal Bank of Scotland (C-488/07, EU:C:2008:750), entschieden habe, dass die Rundungsregel des Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie nicht anwendbar sei, wenn die fraglichen Gegenstände und Dienstleistungen einer der besonderen Regelungen nach Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 3 dieser Richtlinie unterlägen. Es hat jedoch Zweifel, ob diese Lösung auch für Art. 175 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 gilt.
Unter diesen Umständen hat das Finanzgericht Münster beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 175 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, die in dieser Bestimmung vorgesehene Rundungsregel anzuwenden, wenn der Pro-rata-Satz des Vorsteuerabzugs nach einer der abweichenden Methoden des Art. 173 Abs. 2 dieser Richtlinie berechnet wird.
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es in Art. 175 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 lediglich heißt, dass „[d]er Pro-rata-Satz des Vorsteuerabzugs … auf Jahresbasis in Prozent festgesetzt und auf einen vollen Prozentsatz aufgerundet [wird]“.
Demnach kann die erste Frage nicht anhand dieses Wortlauts beantwortet werden, da er keinen Hinweis bezüglich einer etwaigen Anwendung der in dieser Bestimmung vorgesehenen Rundungsregel bei der Umsetzung einer der in Art. 173 Abs. 2 dieser Richtlinie vorgesehenen abweichenden Methoden enthält.
Unter diesen Umständen ist Art. 175 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 unter Berücksichtigung des Kontexts, in dem diese Bestimmung steht, und der Ziele, die mit dieser Richtlinie verfolgt werden, auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. April 2016, Marchon Germany, C-315/14, EU:C:2016:211, Rn. 29).
Zum Kontext, in dem Art. 175 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 steht, ist festzustellen, dass diese Bestimmung zu einer Untergruppe von Bestimmungen in Kapitel 2 („Pro-rata-Satz des Vorsteuerabzugs“) des Titels X dieser Richtlinie gehört. Die Bestimmungen dieses Kapitels sollen das Recht auf Abzug der Mehrwertsteuer regeln, mit der der Erwerb gemischt genutzter Gegenstände oder Dienstleistungen belastet war.
Die genannte Untergruppe ist um Art. 173 Abs. 1 dieser Richtlinie herum aufgebaut, dessen Unterabs. 1 den Grundsatz des teilweisen Abzugs der Mehrwertsteuer für diese Art von Gegenständen oder Dienstleistungen aufstellt. Nach Art. 173 Abs. 1 Unterabs. 2 wird der anzuwendende Pro-rata-Satz des Vorsteuerabzugs für die Gesamtheit der vom Steuerpflichtigen bewirkten Umsätze gemäß den Art. 174 und 175 dieser Richtlinie festgelegt.
Aufgrund dieser Struktur lässt sich diese Untergruppe von Bestimmungen dahin verstehen, dass die Rundungsregel des Art. 175 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 auf alle Situationen angewandt werden kann, in denen ein gemischt genutzter Gegenstand oder eine gemischt genutzte Dienstleistung in Rede steht.
Art. 173 Abs. 2 der genannten Richtlinie sieht jedoch von Art. 173 Abs. 1 abweichende Methoden zur Bestimmung des Rechts auf Vorsteuerabzug vor. Daher ist unter Berücksichtigung des Ziels, das mit Art. 173 Abs. 2 der Richtlinie verfolgt wird, zu prüfen, ob die in der vorstehenden Randnummer getroffene Feststellung von der Existenz dieser Ausnahmen berührt sein kann.
Insoweit steht fest, dass die von Art. 173 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112 eröffnete Möglichkeit, von der in Art. 173 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Methode zur Berechnung des Rechts auf Vorsteuerabzug abzuweichen, den Mitgliedstaaten ermöglichen soll, insbesondere in Anbetracht der Besonderheiten von Tätigkeiten der Steuerpflichtigen zu präziseren Ergebnissen bei der Bestimmung des Umfangs des Abzugsrechts zu gelangen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Juli 2014, Banco Mais, C-183/13, EU:C:2014:2056, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Die Anwendung einer Regel, wonach bei der Bestimmung des Pro-rata-Satzes des Vorsteuerabzugs der ermittelte Prozentsatz des Vorsteuerabzugs auf einen vollen Prozentsatz aufzurunden ist, wenn eine der den Mitgliedstaaten durch Art. 173 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112 eröffneten Möglichkeiten umgesetzt wird, liefe diesem Ziel aber zuwider.
Da es den Mitgliedstaaten gestattet ist, Maßnahmen zu ergreifen, um bei der Bestimmung des Abzugsrechts zu präziseren Ergebnissen zu gelangen, wäre es nämlich widersprüchlich, wenn die Mitgliedstaaten, die sich für solche Maßnahmen entscheiden, verpflichtet wären, die Rundungsregel des Art. 175 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 heranzuziehen, und infolgedessen weder eine andere, präzisere oder passendere Regel erlassen oder anwenden, noch eine Rundung des ermittelten Prozentsatzes des Vorsteuerabzugs ausschließen könnten.
Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass die Rundungsregel des Art. 175 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 von einem Mitgliedstaat zwar für jede Berechnung des Rechts auf Abzug der Mehrwertsteuer, mit der der Erwerb von gemischt genutzten Gegenständen oder Dienstleistungen belastet war, herangezogen werden kann, einschließlich des Falles, dass auf eine der in Art. 173 Abs. 2 dieser Richtlinie vorgesehenen abweichenden Methoden zurückgegriffen wird, es den Mitgliedstaaten aber freisteht, diese Rundungsregel nicht heranzuziehen, wenn das Recht auf Vorsteuerabzug nach einer dieser abweichenden Methoden berechnet wird.
Der Gerichtshof ist im Übrigen bei der Auslegung von Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 3 und Art. 19 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen, indem er in Rn. 25 des Urteils vom 18. Dezember 2008, Royal Bank of Scotland (C-488/07, EU:C:2008:750), festgestellt hat, dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, die Rundungsregel des Art. 19 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie anzuwenden, wenn sie die Berechnungsmethoden nach Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 3 Buchst. a, b, c oder d dieser Richtlinie heranziehen, sondern eigene Rundungsregeln aufstellen können, wobei sie die Grundsätze zu beachten haben, auf denen das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht.
Diese Rechtsprechung bleibt weiterhin maßgebend, da zum einen aus dem dritten Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/112 hervorgeht, dass der Erlass dieser Richtlinie mit Ausnahme einiger inhaltlicher Änderungen, die in den Bestimmungen über ihre Umsetzung und ihr Inkrafttreten erschöpfend aufgeführt sind, nicht zu inhaltlichen Änderungen des geltenden Rechts über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem geführt hat, und zum anderen in diesen Bestimmungen, die in den Art. 411 bis 414 der Richtlinie 2006/112 zu finden sind, nicht auf die hier in Rede stehenden Art. 173 bis 175 dieser Richtlinie Bezug genommen wird.
Die Art. 173 bis 175 der Richtlinie 2006/112 sind daher in der gleichen Weise auszulegen wie die u. a. in den Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 3 und 19 Abs. 1 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie enthaltenen Bestimmungen der Sechsten Richtlinie betreffend die für den Abzug der Mehrwertsteuer auf gemischt genutzte Gegenstände und Dienstleistungen geltende Regelung.
Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 175 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, die in dieser Bestimmung vorgesehene Rundungsregel anzuwenden, wenn der Pro-rata-Satz des Vorsteuerabzugs nach einer der abweichenden Methoden des Art. 173 Abs. 2 dieser Richtlinie berechnet wird.
Zur zweiten Frage
Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 184 ff. der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen sind, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die Rundungsregel des Art. 175 Abs. 1 dieser Richtlinie im Fall der Vorsteuerberichtigung anzuwenden, wenn der Pro-rata-Satz des Vorsteuerabzugs nach einer der in Art. 173 Abs. 2 dieser Richtlinie bzw. in Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 3 der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Methoden berechnet wird.
Erstens ist darauf hinzuweisen, dass – wie in Rn. 41 des vorliegenden Urteils ausgeführt – die in Art. 173 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112 vorgesehenen abweichenden Methoden den in Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 3 der Sechsten Richtlinie angeführten Methoden gleichen.
Folglich ist zur Beantwortung der zweiten Frage nicht danach zu unterscheiden, ob der Pro-rata-Satz des Vorsteuerabzugs nach einer der in Art. 173 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112 angeführten Methoden oder nach einer der in Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 3 der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Methoden berechnet wird.
Zweitens sieht Art. 184 der Richtlinie 2006/112 vor, dass der ursprüngliche Vorsteuerabzug zu berichtigen ist, wenn er niedriger oder höher ist als der, zu dessen Vornahme der Steuerpflichtige berechtigt war. Nach Art. 185 Abs. 1 dieser Richtlinie erfolgt eine Berichtigung insbesondere im Fall einer Änderung der Faktoren, die bei der Bestimmung des Vorsteuerabzugsbetrags ursprünglich berücksichtigt wurden.
Aus einer Gesamtbetrachtung der beiden genannten Bestimmungen ergibt sich zum einen, dass in dem Fall, in dem sich aufgrund der Änderung einer der ursprünglich bei der Berechnung des Vorsteuerabzugs berücksichtigten Faktoren eine Berichtigung als notwendig erweist, die Berechnung der Höhe dieser Berichtigung dazu führen muss, dass der Betrag des endgültig vorgenommenen Vorsteuerabzugs demjenigen entspricht, zu dessen Vornahme der Steuerpflichtige berechtigt gewesen wäre, wenn diese Änderung ursprünglich berücksichtigt worden wäre. Zum anderen sind bei der Berechnung dieses Betrags mit Ausnahme des geänderten Faktors die gleichen Faktoren wie die ursprünglich herangezogenen zu berücksichtigen.
Die Rundungsregel des Art. 175 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 ist aber ein Faktor, der bei der Bestimmung des ursprünglichen Vorsteuerabzugsbetrags berücksichtigt wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Juni 2016, Wolfgang und Dr. Wilfried Rey Grundstücksgemeinschaft, C-332/14, EU:C:2016:417, Rn. 46)
Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten – wie aus Rn. 38 des vorliegenden Urteils hervorgeht – im Fall der Bestimmung des Pro-rata-Satzes des Vorsteuerabzugs unter Anwendung einer der in Art. 173 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112 vorgesehenen abweichenden Methoden nicht verpflichtet sind, bei der Bestimmung der ursprünglichen Höhe des Vorsteuerabzugs diese Rundungsregel heranzuziehen.
Daher sind die Mitgliedstaaten nur dann, wenn sie diese Regel bei der Bestimmung des ursprünglichen Vorsteuerabzugsbetrags angewandt haben, verpflichtet, im Fall einer Berichtigung die in Art. 175 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 vorgesehene Rundungsregel anzuwenden, und zwar unbeschadet des Falles, dass der Faktor, dessen Änderung die Berichtigung erforderlich macht, in der nunmehr erfolgenden Anwendung der in Art. 173 Abs. 1 Unterabs. 2 dieser Richtlinie vorgesehenen Berechnungsmethode oder dieser Rundungsregel besteht.
Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Art. 184 ff. der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen sind, dass die Mitgliedstaaten in dem Fall, dass der Pro-rata-Satz des Vorsteuerabzugs nach innerstaatlichem Recht nach einer der in Art. 173 Abs. 2 dieser Richtlinie oder in Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 3 der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Methoden berechnet wurde, nur dann verpflichtet sind, die Rundungsregel des Art. 175 Abs. 1 der erstgenannten Richtlinie im Fall der Vorsteuerberichtigung anzuwenden, wenn diese Rundungsregel zur Bestimmung des ursprünglichen Vorsteuerabzugsbetrags angewandt wurde.
Zur dritten Frage
Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 175 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, eine Berichtigung der vorgenommenen Vorsteuerabzüge nach den Art. 184 bis 192 dieser Richtlinie unter Anwendung der in Art. 175 dieser Richtlinie vorgesehenen Rundungsregel dergestalt durchzuführen, dass der zu berichtigende Pro-rata-Satz des Vorsteuerabzugs zugunsten des Steuerpflichtigen auf einen vollen Prozentsatz auf- oder abgerundet wird.
Zum einen ergibt sich aber aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte, dass der Pro-rata-Satz des Vorsteuerabzugs im Ausgangsverfahren nach einer der in Art. 173 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112 vorgesehenen abweichenden Methoden berechnet wurde, und dass das deutsche Recht für diese Berechnung keine Rundung vorsieht.
Zum anderen geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass die Änderung der bei der Bestimmung des Vorsteuerabzugsbetrags berücksichtigten Faktoren, die zur im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Berichtigung geführt hat, auf dem Verzicht der Kreissparkasse auf die Steuerfreiheit ihrer Umsätze im gewerblichen Kundengeschäft und nicht auf der Entscheidung des betreffenden Mitgliedstaats, künftig die in Art. 173 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/112 vorgesehene Berechnungsmethode oder die in Art. 175 Abs. 1 dieser Richtlinie angeführte Rundungsregel anzuwenden, beruht.
In Anbetracht der Erwägungen in Rn. 47 des vorliegenden Urteils ist somit in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens die Rundungsregel des Art. 175 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 im Fall einer Berichtigung nicht anzuwenden.
Die dritte Frage braucht daher nicht beantwortet zu werden.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 175 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, die in dieser Bestimmung vorgesehene Rundungsregel anzuwenden, wenn der Pro-rata-Satz des Vorsteuerabzugs nach einer der abweichenden Methoden des Art. 173 Abs. 2 dieser Richtlinie berechnet wird.
Die Art. 184 ff. der Richtlinie 2006/112 sind dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten in dem Fall, dass der Pro-rata-Satz des Vorsteuerabzugs nach innerstaatlichem Recht nach einer der in Art. 173 Abs. 2 dieser Richtlinie oder in Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 3 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage vorgesehenen Methoden berechnet wurde, nur dann verpflichtet sind, die Rundungsregel des Art. 175 Abs. 1 der erstgenannten Richtlinie im Fall der Vorsteuerberichtigung anzuwenden, wenn diese Rundungsregel zur Bestimmung des ursprünglichen Vorsteuerabzugsbetrags angewandt wurde.
Unterschriften
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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