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EuGH 06.09.2012 - C-308/11
EuGH 06.09.2012 - C-308/11 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer) - 6. September 2012 ( *1) - „Richtlinie 2001/83/EG — Humanarzneimittel — Art. 1 Nr. 2 Buchst. b — Begriff ‚Funktionsarzneimittel‘ — Definition des Begriffs ‚pharmakologische Wirkung‘“
Leitsatz
In der Rechtssache C-308/11
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Oberlandesgericht Frankfurt am Main (Deutschland) mit Entscheidung vom 14. Juni 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Juni 2011, in dem Verfahren
Chemische Fabrik Kreussler & Co. GmbH
gegen
Sunstar Deutschland GmbH, vormals John O. Butler GmbH,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Safjan sowie der Richter A. Borg Barthet (Berichterstatter) und M. Ilešič,
Generalanwalt: N. Jääskinen,
Kanzler: A. Impellizzeri, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 26. April 2012,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
der Chemischen Fabrik Kreussler & Co. GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt U. Grundmann,
der Sunstar Deutschland GmbH, vertreten durch die Rechtsanwälte C. Krüger und M. Runge,
der belgischen Regierung, vertreten durch T. Materne als Bevollmächtigten,
der tschechischen Regierung, vertreten durch D. Hadroušek als Bevollmächtigten,
der polnischen Regierung, vertreten durch M. Szpunar als Bevollmächtigten,
der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes und P. A. Antunes als Bevollmächtigte,
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch H. Walker als Bevollmächtigte,
der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Šimerdová und B.-R. Killmann als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel (ABl. L 311, S. 67) in der durch die Richtlinie 2004/27/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 (ABl. L 136, S. 34) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2001/83).
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Chemischen Fabrik Kreussler & Co. GmbH (im Folgenden: Chemische Fabrik Kreussler) und der Sunstar Deutschland GmbH, vormals John O. Butler GmbH (im Folgenden: John O. Butler), wegen der Einstufung einer in Deutschland vertriebenen Mundspüllösung namens „PAROEX 0,12 %“.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2001/83
Nach Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83 sind „Arzneimittel“
„alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die im oder am menschlichen Körper verwendet oder einem Menschen verabreicht werden können, um entweder die menschlichen physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen oder eine medizinische Diagnose zu erstellen“.
Richtlinie 76/768/EWG
Nach Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 76/768/EWG des Rates vom 27. Juli 1976 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über kosmetische Mittel (ABl. L 262, S. 169) in der durch die Richtlinie 2005/42/EG der Kommission vom 20. Juni 2005 (ABl. L 158, S. 17) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 76/768) sind „kosmetische Mittel“
„Stoffe oder Zubereitungen, die dazu bestimmt sind, äußerlich mit den verschiedenen Teilen des menschlichen Körpers (Haut, Behaarungssystem, Nägel, Lippen und intime Regionen) oder mit den Zähnen und den Schleimhäuten der Mundhöhle in Berührung zu kommen, und zwar zu dem ausschließlichen oder überwiegenden Zweck, diese zu reinigen, zu parfümieren, ihr Aussehen zu verändern und/oder den Körpergeruch zu beeinflussen und/oder um sie zu schützen oder in gutem Zustand zu halten“.
Nach Anhang VI („Liste der Konservierungsstoffe, die in kosmetischen Mitteln enthalten sein dürfen“) der Richtlinie 76/768 gehört zu diesen Stoffen Chlorhexidin, wobei die zulässige Höchstkonzentration 0,3 % beträgt.
Nach der Einleitung zu Anhang VI der Richtlinie 76/768 sind „Konservierungsstoffe“ Substanzen, die kosmetischen Mitteln hauptsächlich deswegen beigefügt werden, um die Entwicklung von Mikroorganismen in diesen Mitteln zu hemmen.
Deutsches Recht
Der Begriff „Arzneimittel“ wird in § 2 Abs. 1 des Gesetzes über den Verkehr mit Arzneimitteln in der Fassung vom 12. Dezember 2005 (BGBl. I S. 3394) definiert.
Nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 sind Arzneimittel Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen,
„die im oder am menschlichen oder tierischen Körper angewendet oder einem Menschen oder einem Tier verabreicht werden können, um entweder
die physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen oder
eine medizinische Diagnose zu erstellen“.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Die Chemische Fabrik Kreussler und John O. Butler sind Wettbewerber auf dem deutschen Markt für den Vertrieb von Mundspüllösungen, die Chlorhexidin enthalten.
John O. Butler vertreibt dort als kosmetisches Mittel die Mundspüllösung „PAROEX 0,12 %“, die 0,12 % des Antiseptikums Chlorhexidin enthält. Auf der Verpackung befinden sich folgende Hinweise: „Mundspülung zur Mundpflege – Reduziert bakteriellen Zahnbelag und hemmt dessen Neubildung – Schützt das Zahnfleisch und trägt zur Erhaltung der Mundgesundheit bei“. Auf dem Beipackzettel heißt es, man solle den Mund zweimal täglich mit 10 ml unverdünnter Lösung 30 Sekunden lang spülen.
Im Ausgangsverfahren vertritt die Chemische Fabrik Kreussler die Auffassung, die von John O. Butler vertriebene Mundspüllösung sei ein Arzneimittel im Sinne von § 2 des Gesetzes über den Verkehr mit Arzneimitteln in der Fassung vom 12. Dezember 2005, weil ihr eine pharmakologische Wirkung zukomme. Aus einer Monografie von 1994 über die Eigenschaften, Wirkungen und Einsatzmöglichkeiten von Chlorhexidin gehe nämlich hervor, dass Mundspüllösungen mit einer 0,2%igen Chlorhexidin-Lösung zu einer Reduktion von Speichelbakterien führten und daher eine therapeutische bzw. klinische Wirkung bei Gingivitis hätten.
Infolgedessen erhob die Chemische Fabrik Kreussler am 14. September 2006 Klage beim Landgericht Frankfurt am Main und beantragte, John O. Butler aufzugeben, es zu unterlassen, für PAROEX 0,12 % auf Flaschen, Faltschachteln und/oder Gebrauchsinformationen zu werben sowie dieses Mittel zu vertreiben, solange es nicht als Arzneimittel zugelassen sei.
Das Landgericht wies die Klage mit der Begründung ab, PAROEX 0,12 % komme keine pharmakologische Wirkung zu, da die dafür erforderliche Wechselwirkung zwischen den Chlorhexidin-Molekülen und einem zellulären Bestandteil des Anwenders nicht nachgewiesen worden sei.
Auch das Oberlandesgericht Frankfurt am Main als Berufungsgericht stellte fest, dass das in Rede stehende Produkt keine pharmakologische Wirkung habe. Es vertrat die Auffassung, zur Definition dieses Begriffs könne auf die von der Generaldirektion „Unternehmen und Industrie“ der Europäischen Kommission erlassene Leitlinie mit der Bezeichnung „MEDIZINPRODUKTE: Leitlinie – Grenzprodukte, Produkte zur Verabreichung von Arzneimitteln und Medizinprodukte, die als integralen Bestandteil eine Hilfsarzneimittelsubstanz oder eine aus menschlichem Blut gewonnene Hilfssubstanz enthalten“ („MEDICAL DEVICES: Guidance document – Borderline products, drug-delivery products and medical devices incorporating, as an integral part, an ancillary medicinal substance or an ancillary human blood derivative“, im Folgenden: Leitlinie zu Medizinprodukten) zurückgegriffen werden.
Aus dieser Leitlinie gehe hervor, dass einer Substanz nur dann eine pharmakologische Wirkung im Sinne von Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83 zuzuerkennen sei, wenn eine Wechselwirkung zwischen den Molekülen der fraglichen Substanz und einem zellulären Bestandteil des Körpers des Anwenders bestehe, was bei dem fraglichen Erzeugnis nicht der Fall sei.
Die Chemische Fabrik Kreussler legte gegen dieses Urteil Revision beim Bundesgerichtshof ein, der die Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main aufhob und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwies. Der Bundesgerichtshof vertrat, ebenfalls unter Zugrundelegung der Definition in der Leitlinie zu Medizinprodukten, die Auffassung, der Nachweis einer Wechselwirkung zwischen den Molekülen der fraglichen Substanz und einem zellulären Bestandteil des menschlichen Körpers sei nicht erforderlich, damit einem Produkt eine pharmakologische Wirkung zukomme. Vielmehr genüge der Nachweis einer wie auch immer gearteten Wechselwirkung zwischen den Molekülen der fraglichen Substanz und einem zellulären Bestandteil. Da Chlorhexidin mit Zellbestandteilen im Mund befindlicher Bakterien reagiere, könne eine pharmakologische Wirkung nicht von vornherein ausgeschlossen werden.
Da nach Ansicht des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits von der Auslegung von Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83 abhängt, hat es beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Kann zur Definition des Begriffs „pharmakologische Wirkung“ in Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83 auf die Leitlinie zu Medizinprodukten zurückgegriffen werden, wonach eine Wechselwirkung zwischen den Molekülen der in Frage stehenden Substanz und einem zellulären Bestandteil, gewöhnlich als Rezeptor bezeichnet, erforderlich ist, die entweder in einer direkten Reaktion resultiert oder die Reaktion eines anderen Agens blockiert?
Falls die erste Frage mit ja beantwortet wird: Setzt der Begriff der pharmakologischen Wirkung voraus, dass es zu einer Wechselwirkung zwischen den Molekülen der in Frage stehenden Substanz mit zellulären Bestandteilen des Anwenders kommt, oder genügt eine Wechselwirkung der in Frage stehenden Substanz mit einem zellulären Bestandteil, der nicht Bestandteil des menschlichen Körpers ist?
Für den Fall, dass die erste Frage mit nein beantwortet wird oder keine der beiden in der zweiten Frage vorgeschlagenen Definitionen in Betracht kommt: Auf welche andere Definition ist stattdessen zurückzugreifen?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83 dahin auszulegen ist, dass zur Definition des Begriffs „pharmakologische Wirkung“ im Sinne dieser Bestimmung die Definition des Begriffs „pharmakologisches Mittel“ in der Leitlinie zu Medizinprodukten berücksichtigt werden kann.
Dazu ist festzustellen, dass die Leitlinie, wie ihr Titel erkennen lässt, für die Zwecke der Anwendung der Unionsrichtlinien zu Medizinprodukten erstellt wurde und dass sie insbesondere den zuständigen Behörden bei der Abgrenzung solcher Medizinprodukte helfen soll.
Wie der Vorlageentscheidung zu entnehmen ist, beruht der Ausgangsrechtsstreit aber darauf, dass die Parteien über die Einstufung des fraglichen Produkts als kosmetisches Mittel oder als Arzneimittel streiten.
In diesem Zusammenhang ist auf die von den Dienststellen der Kommission in Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten erstellte Leitlinie zur Abgrenzung der Richtlinie 76/768 über kosmetische Mittel von der Richtlinie 2001/83 über Arzneimittel („Guidance Document on the demarcation between the Cosmetic Products Directive 76/768 and the Medicinal Products Directive 2001/83 as agreed between the Commission Services and the competent authorities of Member States“, im Folgenden: Leitlinie zur Abgrenzung der Kosmetikmittelrichtlinie von der Arzneimittelrichtlinie) hinzuweisen, in der der Begriff „pharmakologische Wirkung“ in gleicher Weise definiert wird wie der Begriff „pharmakologisches Mittel“ in der Leitlinie zu Medizinprodukten.
Daher ist die erste Frage dergestalt umzuformulieren, dass mit ihr Auskunft darüber begehrt wird, ob Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83 dahin auszulegen ist, dass zur Definition des Begriffs „pharmakologische Wirkung“ im Sinne dieser Bestimmung die Definition dieses Begriffs in der Leitlinie zur Abgrenzung der Kosmetikmittelrichtlinie von der Arzneimittelrichtlinie berücksichtigt werden kann.
Insoweit ist hervorzuheben, dass diese von den Dienststellen der Kommission erarbeitete Leitlinie, die im Übrigen nicht zu den in Art. 288 AEUV aufgeführten Rechtsakten der Union gehört, als solche weder rechtlich bindend ist noch den Bürgern entgegengehalten werden kann.
Dies geht auch ausdrücklich aus der Leitlinie hervor, in der es heißt, dass sie nicht rechtlich bindend sei, da allein der Gerichtshof befugt sei, eine bindende Auslegung des Unionsrechts vorzunehmen.
Wie in der Einleitung der Leitlinie zur Abgrenzung der Kosmetikmittelrichtlinie von der Arzneimittelrichtlinie ausgeführt wird, kann sie gleichwohl zweckdienliche Anhaltspunkte für die Auslegung der maßgeblichen Bestimmungen des Unionsrechts liefern und damit zu deren einheitlicher Anwendung beitragen, da sie von einer Gruppe von Experten nationaler Stellen, der Kommissionsdienststellen und der Berufsorganisationen der Industrie erstellt wurde.
[Berichtigt mit Beschluss vom 5. Oktober 2012] Folglich kann das nationale Gericht bei der Anwendung des Begriffs „pharmakologische Wirkung“ im Sinne von Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83 diese Leitlinie berücksichtigen. Dabei muss es jedoch dafür Sorge tragen, dass die Auslegung, zu der es auf diese Weise gelangt, im Einklang mit den Kriterien vorgenommen wurde, die in der Rechtsprechung zur Auslegung von Rechtsakten der Union einschließlich der Rechtsprechung zur Zuständigkeitsverteilung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens aufgestellt worden sind.
Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83 dahin auszulegen ist, dass zur Definition des Begriffs „pharmakologische Wirkung“ im Sinne dieser Bestimmung die Definition dieses Begriffs in der Leitlinie zur Abgrenzung der Kosmetikmittelrichtlinie von der Arzneimittelrichtlinie berücksichtigt werden kann.
Zur zweiten Frage
Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83 dahin auszulegen ist, dass vom Vorliegen einer „pharmakologischen Wirkung“ einer Substanz im Sinne dieser Bestimmung nur dann ausgegangen werden kann, wenn es zu einer Wechselwirkung zwischen den Molekülen dieser Substanz und einem zellulären Bestandteil des Körpers des Anwenders kommt, oder ob auch eine Wechselwirkung zwischen dieser Substanz und einem beliebigen im Körper des Anwenders vorhandenen zellulären Bestandteil genügt.
Hierzu ist zunächst festzustellen, dass sich weder der Richtlinie 2001/83 noch der Leitlinie zur Abgrenzung der Kosmetikmittelrichtlinie von der Arzneimittelrichtlinie entnehmen lässt, dass eine Wechselwirkung zwischen den Molekülen der fraglichen Substanz und einem zellulären Bestandteil des Menschen Voraussetzung für die Einstufung als Substanz mit „pharmakologischer Wirkung“ ist.
Dagegen ergibt sich aus Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83, dass die fragliche Substanz geeignet sein muss, physiologische Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen, und dass diese Wirkung wissenschaftlich festgestellt worden sein muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Januar 2009, Hecht-Pharma, C-140/07, Slg. 2009, I-41, Randnr. 26).
In diesem Zusammenhang ist im Licht der beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen davon auszugehen, dass eine Substanz, deren Moleküle keine Wechselwirkung mit einem zellulären Bestandteil des Menschen aufweisen, gleichwohl aufgrund ihrer Wechselwirkung mit anderen im Organismus des Anwenders vorhandenen zellulären Bestandteilen wie Bakterien, Viren oder Parasiten bewirken kann, dass physiologische Funktionen beim Menschen wiederhergestellt, korrigiert oder beeinflusst werden.
Somit kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass eine Substanz, deren Moleküle keine Wechselwirkung mit einem zellulären Bestandteil des Menschen aufweisen, ein Arzneimittel im Sinne von Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83 darstellen kann.
Im Übrigen können Produkte, die eine physiologisch wirksame Substanz enthalten, nicht systematisch als Funktionsarzneimittel im Sinne von Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83 eingestuft werden, ohne dass die zuständigen Behörden von Fall zu Fall jedes Produkt mit der erforderlichen Sorgfalt prüfen und dabei insbesondere seine nach dem jeweiligen Stand der Wissenschaft feststellbaren pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen Eigenschaften berücksichtigen (Urteile Hecht-Pharma, Randnr. 40, und vom 30. April 2009, BIOS Naturprodukte, C-27/08, Slg. 2009, I-3785, Randnr. 19).
Ferner ist darauf hinzuweisen, dass – neben den pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen Eigenschaften des fraglichen Erzeugnisses, auf deren Grundlage, ausgehend von den Wirkungsmöglichkeiten des Erzeugnisses, zu beurteilen ist, ob es im Sinne von Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83 zur Wiederherstellung, Korrektur oder Beeinflussung der physiologischen Funktionen im oder am menschlichen Körper angewandt oder einem Menschen verabreicht werden kann – bei der Entscheidung darüber, ob ein Erzeugnis unter die Definition des „Funktionsarzneimittels“ im Sinne dieser Bestimmung fällt, alle Merkmale des Erzeugnisses zu berücksichtigen sind, insbesondere seine Zusammensetzung, die Modalitäten seines Gebrauchs, der Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Risiken, die seine Verwendung mit sich bringen kann (vgl. Urteil BIOS Naturprodukte, Randnrn. 18 und 20).
Schließlich ist hinzuzufügen, dass ein Produkt nur dann als Funktionsarzneimittel angesehen werden kann, wenn es aufgrund seiner Zusammensetzung – einschließlich der Dosierung seiner Wirkstoffe – und bei bestimmungsgemäßem Gebrauch physiologische Funktionen des Menschen in signifikanter Weise wiederherstellen, korrigieren oder beeinflussen kann (vgl. Urteile Hecht-Pharma, Randnr. 42, und BIOS Naturprodukte, Randnr. 23); dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts.
Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83 dahin auszulegen ist, dass vom Vorliegen einer „pharmakologischen Wirkung“ einer Substanz im Sinne dieser Bestimmung nicht nur dann ausgegangen werden kann, wenn es zu einer Wechselwirkung zwischen den Molekülen dieser Substanz und einem zellulären Bestandteil des Körpers des Anwenders kommt, sondern dass eine Wechselwirkung zwischen dieser Substanz und einem beliebigen im Körper des Anwenders vorhandenen zellulären Bestandteil genügt.
Zur dritten Frage
Die dritte Frage ist hilfsweise für den Fall gestellt worden, dass die erste Frage verneint wird oder dass keine der beiden in der zweiten Frage vorgeschlagenen Definitionen in Betracht kommt.
In Anbetracht der Antworten auf die erste und die zweite Frage ist sie daher nicht zu beantworten.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel in der durch die Richtlinie 2004/27/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass zur Definition des Begriffs „pharmakologische Wirkung“ im Sinne dieser Bestimmung die Definition dieses Begriffs in der von den Dienststellen der Kommission in Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten erstellten Leitlinie zur Abgrenzung der Richtlinie 76/768 über kosmetische Mittel von der Richtlinie 2001/83 über Arzneimittel berücksichtigt werden kann.
Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83 in der durch die Richtlinie 2004/27 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass vom Vorliegen einer „pharmakologischen Wirkung“ einer Substanz im Sinne dieser Bestimmung nicht nur dann ausgegangen werden kann, wenn es zu einer Wechselwirkung zwischen den Molekülen dieser Substanz und einem zellulären Bestandteil des Körpers des Anwenders kommt, sondern dass eine Wechselwirkung zwischen dieser Substanz und einem beliebigen im Körper des Anwenders vorhandenen zellulären Bestandteil genügt.
Unterschriften
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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