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BSG 03.07.2020 - B 8 SO 72/19 B
BSG 03.07.2020 - B 8 SO 72/19 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör - Verhinderung der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung - verspäteter Zugang der Ladung - Beeinflussung der angefochtenen Entscheidung
Normen
§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 110 Abs 1 S 1 SGG, § 128 Abs 2 SGG, § 63 Abs 1 S 2 SGG, § 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG
Vorinstanz
vorgehend SG Landshut, 25. Juli 2016, Az: S 5 SO 10/16, Gerichtsbescheid
vorgehend Bayerisches Landessozialgericht, 9. Mai 2019, Az: L 8 SO 193/16, Urteil
Tenor
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Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 9. Mai 2019 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Im Streit sind Leistungen der Sozialhilfe für Deutsche im Ausland.
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Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger und lebt seit Juni 2015 in S. (Frankreich). Seinen Antrag auf Gewährung von Sozialhilfe für Deutsche im Ausland lehnte der Beklagte ab (Bescheid vom 20.10.2015; Widerspruchsbescheid vom 4.2.2016), weil weder eine außergewöhnliche Notlage vorliege noch ein Rückkehrhindernis bestehe. Die Klage ist ohne Erfolg geblieben (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts <SG> Landshut vom 25.7.2016). Mit gerichtlicher Verfügung vom 21.12.2018 und erneut mit inhaltsgleichem Schreiben vom 20.2.2019 ist dem Kläger im Berufungsverfahren aufgegeben worden, einen Zustellungsbevollmächtigten im Inland zu benennen. Für den Fall, dass er dieser Anordnung nicht nachkomme, könne eine Zustellung bis zur nachträglichen Benennung dadurch erfolgen, dass ein Schreiben unter seiner Anschrift zur Post gegeben werde. Die Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten hat der Kläger abgelehnt (Schreiben vom 4.4.2019). Mit gerichtlicher Verfügung vom 12.4.2019 wurde der Kläger mit einfachem Brief zum Termin zur mündlichen Verhandlung am 9.5.2019 über seine Postanschrift in S. geladen. Zu diesem Termin erschien der Kläger nicht. Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 9.5.2019; ebenfalls mit einem einfachem Brief bekanntgegeben). Mit Fax vom 21.5.2019 teilte der Kläger mit, dass er an diesem Tag das Urteil vom 9.5.2019 zusammen mit der auf den 12.4.2019 datierten Terminsladung erhalten habe.
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Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG macht der Kläger eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache sowie einen Verfahrensmangel geltend. Grundsätzlich bedeutsam sei die Frage, ob der Leistungsausschluss nach § 24 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) und die Subsidiaritätsklausel des § 24 Abs 2 SGB XII mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar seien. Zudem habe das LSG gegen das Gebot rechtlichen Gehörs verstoßen, denn er sei zur mündlichen Verhandlung am 9.5.2019 nicht ordnungsgemäß geladen worden. Insoweit liege ein Verstoß gegen § 63 Abs 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) iVm § 184 Abs 2 Satz 3 Zivilprozessordnung (ZPO) vor. In der Aufforderung, einen Zustellungsbevollmächtigten im Inland zu benennen, sei nicht auf die Rechtsfolge des § 184 Abs 2 Satz 3 ZPO hingewiesen worden, also die Zustellungsfiktion mit Aufgabe zur Post im Inland nach § 184 Abs 1 ZPO. Er habe die Ladung zudem erst nach dem Termin, zeitlich zusammen mit dem Urteil, erhalten und daher nicht an der mündlichen Verhandlung teilnehmen können.
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II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist zulässig. Die Beschwerde genügt hinsichtlich der geltend gemachten Verletzung des rechtlichen Gehörs den Darlegungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG.
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Die Beschwerde ist auch begründet. Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) gewährleistet, dass die Beteiligten zum gerichtlichen Verfahren herangezogen werden und Gelegenheit erhalten, sich vor Erlass der Entscheidung zum Prozessstoff zu äußern. Wird aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden, muss den Beteiligten unabhängig davon, ob sie die Möglichkeit zur schriftlichen Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben, Gelegenheit gegeben werden, ihren Standpunkt in der Verhandlung darzulegen (Bundessozialgericht <BSG> vom 28.8.1991 - 7 BAr 50/91 - SozR 3-1500 § 160a Nr 4 S 5). Zu diesem Zweck bestimmt der Vorsitzende Zeit und Ort der mündlichen Verhandlung und teilt sie den Beteiligten (in der Regel zwei Wochen vorher) mit (§ 110 Abs 1 Satz 1 SGG). Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt wird, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten (§ 128 Abs 2 SGG), also dem Anspruch auf rechtliches Gehör genügt wird (BSG vom 16.11.2000 - B 4 RA 122/99 B - SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 57).
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Gegen diese Grundsätze hat das LSG verstoßen, als es am 9.5.2019 durch Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden hat, obwohl der Kläger gehindert war, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen. Nach seinen Angaben im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren und im abschlägig beschiedenen Anhörungsrügeverfahren vor dem LSG (Beschluss vom 3.7.2019 - L 8 SO 193/16) hat er die Ladung nämlich erst zusammen mit der Ausfertigung des Urteils vom 9.5.2019 am 21.5.2019 und damit nicht rechtzeitig vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung erhalten. Dadurch ist der Anspruch des Klägers, vor Erlass der Entscheidung gehört zu werden, verletzt worden. Für die Form der Ladung findet § 63 Abs 1 Satz 2 SGG Anwendung, wonach Terminbestimmungen und Ladungen (nur noch) formlos bekanntzugeben sind. Dies ist hier geschehen. Der Vorsitzende hat dem Kläger mit einfachem Brief, gerichtet an die Anschrift in S., den Termin bekanntgegeben und ihn geladen. Geschieht die Übersendung wie hier formlos, so besteht keine Vermutung für den Zugang des Schriftstücks. Der Bürger trägt weder das Risiko des Verlustes im Übermittlungswege noch eine irgendwie geartete Beweislast für den Nichtzugang (Bundesverfassungsgericht <BVerfG> vom 19.6.2013 - 2 BvR 1960/12 - juris RdNr 9). Ob mit der Rechtsprechung des BVerfG die Rechtsprechung des 3. Senats überholt ist, wonach in Fällen der "schlichten" Bekanntgabe der Ladung nicht immer von einer Verletzung des § 62 SGG auszugehen sei, wenn von Seiten eines Beteiligten (dort die beklagte Pflegekasse) behauptet wird, die Ladung nicht erhalten zu haben (BSG vom 1.10.2009 - B 3 P 13/09 B), kann hier offenbleiben. In dem dort entschiedenen Fall hat das BSG ausgeführt, das Gericht habe - auch noch im Rechtsmittelverfahren - von Amts wegen zu prüfen, ob die Ladung zugegangen sei. Dabei sei es nicht an die allgemeinen Vorschriften über das Beweisverfahren gebunden, sondern entscheide im Wege des sog Freibeweises. Im entschiedenen Fall hat der 3. Senat dabei die richterliche Überzeugung gewonnen, dass es im Hinblick auf die bestehenden Auffälligkeiten "höchst unwahrscheinlich" sei, dass die Ladung nicht bestimmungsgemäß in den Herrschaftsbereich der Pflegekasse gelangt sei. Derartige Auffälligkeiten liegen hier nicht vor. Gerade bei einer Bekanntgabe im Ausland ist es nicht "höchst unwahrscheinlich", dass mit einfacher Post versandte Schreiben den Empfänger nicht oder verspätet erreichen. Es war zudem durch Retouren bekannt, dass an den Kläger gerichtete Schreiben gehäuft ihr Ziel nicht erreichten.
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Obwohl die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör in sozialgerichtlichen Verfahren nicht als absoluter Revisionsgrund ausgestaltet ist (vgl § 202 Satz 1 SGG iVm § 547 ZPO), ist wegen der besonderen Bedeutung der mündlichen Verhandlung für das Gerichtsverfahren im Allgemeinen davon auszugehen, dass eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dadurch, dass ein Verfahrensbeteiligter an deren Teilnahme gehindert worden ist, die daraufhin ergangene Gerichtsentscheidung insgesamt beeinflusst hat (stRspr; vgl etwa BSG vom 6.10.2010 - B 12 KR 58/09 B - juris RdNr 10 mwN; BSG vom 26.6.2007 - B 2 U 55/07 B - SozR 4-1750 § 227 Nr 1 RdNr 7; BSG vom 16.11.2000 - B 4 RA 122/99 B - SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 62). Einer Angabe, welches Vorbringen durch das beanstandete Verfahren verhindert worden ist, bedarf es deshalb nicht (BSG aaO).
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Da das LSG die Ladung nicht - wie der Kläger wohl meint - nach § 63 Abs 2 Satz 1 SGG iVm §§ 183 ff ZPO zugestellt hat, ist nicht entscheidend, ob - wie der Kläger meint - bereits deshalb von ihrer Unwirksamkeit auszugehen ist, weil die Hinweisschreiben des Vorsitzenden den Anforderungen an § 184 Abs 2 Satz 3 ZPO nicht genügen (zu den Rechtsfolgen der Unwirksamkeit einer entsprechenden Anordnung vgl nur BSG vom 14.3.2013 - B 13 R 188/12 B - SozR 4-1500 § 63 Nr 3 mwN).
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Soweit die grundsätzliche Bedeutung der Sache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) geltend gemacht wird, genügt die Beschwerdebegründung den dafür bestehenden Darlegungsanforderungen nicht. Wenn ein Beschwerdeführer mit der Nichtzulassungsbeschwerde einen Verfassungsverstoß (hier: Verletzung von Art 2 Abs 1 GG; gemeint ist wohl Art 1 Abs 1 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip und Art 3 GG) geltend macht und insoweit höchstrichterlichen Klärungsbedarf aufzeigen will, darf er nicht bloß das angeblich verletzte Grundrecht benennen. Vielmehr muss er die einschlägige Rechtsprechung des BVerfG und des BSG auswerten und dazu substantiiert darlegen, woraus sich im konkreten Fall die Verfassungswidrigkeit ergeben soll. Hierzu müssen der Bedeutungsgehalt der in Frage stehenden einfachgesetzlichen Norm aufgezeigt, die Sachgründe ihrer Ausgestaltung erörtert und die Verletzung der konkreten Regelung des GG im Einzelnen dargetan werden. Es ist aufzuzeigen, dass der Gesetzgeber die gesetzlichen Grenzen seines weiten Gestaltungsspielraums im Sozialhilferecht überschritten hat (vgl nur BSG vom 6.8.2018 - B 10 EG 5/18 B - juris RdNr 8 mwN). Eine Auswertung höchstrichterlicher Rechtsprechung fehlt hier aber gänzlich. Insbesondere fehlt eine Auseinandersetzung mit der Entscheidung des BVerfG (vom 30.5.1978 - 1 BvL 26/76 - BVerfGE 48, 281), wonach der sozialpolitische Auftrag zur staatlichen Fürsorgeleistung bei Auslandsaufenthalten des Berechtigten allgemein modifiziert und abgeschwächt ist, und das BVerfG unter Hinweis auf die Regelung über Sozialhilfe für Deutsche im Ausland nach § 119 Bundessozialhilfegesetz (BSHG; der Vorgängerregelung von § 24 SGB XII) ausführt, dass gewöhnliche Leistungen der sozialen Fürsorge, ohne dass sich dagegen verfassungsrechtliche Bedenken ergäben, nur subsidiär zu den Leistungen des Wohnsitzlandes erbracht würden. Zudem verkennt der Kläger, dass § 24 SGB XII keineswegs einen "Leistungsausschluss" regelt, sondern im Gegenteil (wenn auch unter engen Voraussetzungen) einen Sozialhilfeanspruch vorsieht.
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Nach § 160a Abs 5 SGG kann das erkennende Gericht in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.
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