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BSG 13.11.2012 - B 2 U 269/12 B
BSG 13.11.2012 - B 2 U 269/12 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Verletzung des rechtlichen Gehörs - Nichtbescheidung über einen Aufhebungs- oder Verlegungsantrag bis zum Beginn der mündlichen Verhandlung - überspannte Anforderungen an Glaubhaftmachung des Verhinderungsgrundes - plötzliche Erkrankung
Normen
§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG, § 124 SGG, § 202 SGG, § 294 Abs 1 ZPO
Vorinstanz
vorgehend SG Hannover, 7. September 2009, Az: S 40 KN 5/06 U, Urteil
vorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, 25. April 2012, Az: L 3 U 301/09, Urteil
Tenor
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Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 25. April 2012 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Die Beteiligten streiten um die Feststellung der Berufskrankheit nach Nr 2301 der Anlage (ab 1.7.2009 Anlage 1) zur Berufskrankheiten-Verordnung (Bescheid vom 6.1.2006 und Widerspruchsbescheid vom 26.4.2006 der Beklagten). Das SG Hannover hat die Klagen abgewiesen (Urteil vom 7.9.2009). Hiergegen hat der Kläger durch seinen Prozessbevollmächtigten Berufung zum LSG Niedersachsen-Bremen eingelegt.
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Im Berufungsverfahren hat der Vorsitzende des 3. Senats des LSG Termin zur mündlichen Verhandlung auf "Mittwoch, den 25. April 2012, 12:30 Uhr" bestimmt. Mit Telefax vom 24.4.2012, beim LSG eingegangen um 16.14 Uhr, hat der in der Kanzlei des alleinigen Prozessbevollmächtigten des Klägers tätige Rechtsanwalt F. beantragt, den Termin aufzuheben und einen neuen Verhandlungstermin zu bestimmen. Der Prozessbevollmächtigte sei "heute kurzfristig an einer Magen-Darm-Krankheit erkrankt" und könne daher den Termin nicht wahrnehmen. Die Kollegen seien durch andere Termine verhindert. Der Senatsvorsitzende hat daraufhin per Telefax am 25.4.2012 um 8.59 Uhr "Gelegenheit gegeben, die vorgetragene Verhandlungsunfähigkeit durch ärztliches Attest glaubhaft zu machen, das per Fax bis 12:30 Uhr bei Gericht eingegangen sein" müsse. Mit um 10.18 Uhr beim LSG eingegangenem Telefax vom 25.4.2012 hat Rechtsanwalt F. mitgeteilt, dass der Prozessbevollmächtigte bemüht sei, ein ärztliches Attest nachzureichen, er aber unter Hinweis auf seine Standespflicht anwaltlich versichere, dass die Erkrankung seit dem gestrigen Tage bestehe und er aufgrund dessen nicht in der Lage sei, den Termin wahrzunehmen. Dies könne er auch an Eides statt versichern. Mit weiterem um 11.59 Uhr beim LSG eingegangenem Telefax hat Rechtsanwalt F. darauf hingewiesen, dass der Prozessbevollmächtigte nach ärztlicher Untersuchung über ein Attest verfüge und bis 27.4.2012 krankgeschrieben sei.
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Das LSG hat in Abwesenheit des Prozessbevollmächtigten die mündliche Verhandlung durchgeführt und anschließend die Berufung zurückgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es unter Hinweis auf eine ständige Rechtsprechung "aller Bundesgerichte, vgl hierzu ua Bundesfinanzhof <BFH>, Beschluss vom 23. Februar 2012 - VI B 114/11 - juris mwN" ausgeführt, der Prozessbevollmächtigte habe einen erheblichen Grund für die "Vertagung" der mündlichen Verhandlung nicht in ausreichender Weise dargelegt bzw glaubhaft gemacht (Urteil vom 25.4.2012).
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Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügt der Kläger als Verfahrensfehler ua die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör.
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Er beantragt,
die Revision zuzulassen.
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Die Beklagte hat sich nicht geäußert.
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II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet.
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Die Beschwerdebegründung genügt den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG. Sie bezeichnet die Tatsachen, aus denen sich der Verfahrensmangel einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) iVm dem Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren (Art 2 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 GG) und dem Grundsatz der Mündlichkeit (§ 124 Abs 1 SGG) ergibt. Die Beschwerdebegründung enthält auch hinreichende Ausführungen dazu, dass die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensfehler beruhen kann.
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Das angegriffene Urteil des Berufungsgerichts ist schon deshalb verfahrensfehlerhaft ergangen, weil der am 24.4.2012 gestellte Aufhebungs- und Verlegungsantrag nicht beschieden worden ist.
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Das Gericht entscheidet nach § 124 Abs 1 SGG, soweit nichts anderes bestimmt ist, aufgrund mündlicher Verhandlung. Dieser Mündlichkeitsgrundsatz räumt den Beteiligten und ihren Prozessbevollmächtigten das Recht ein, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden. Gerade die in Art 6 Abs 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention grundsätzlich vorgeschriebene mündliche Verhandlung bietet eine besondere Gewähr zur Wahrung des rechtlichen Gehörs. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs in einer mündlichen Verhandlung umfasst auch das Recht auf Aufhebung oder Verlegung eines anberaumten oder auf Vertagung eines bereits begonnenen Termins, wenn dies aus erheblichen Gründen geboten ist (§ 227 Abs 1 ZPO iVm § 202 SGG). Über einen Aufhebungs- oder Verlegungsantrag hat der Vorsitzende ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden (§ 227 Abs 4 ZPO iVm § 202 SGG). Kommt er dieser Verpflichtung bis zum Beginn der mündlichen Verhandlung nicht nach, leidet das Verfahren wegen der Versagung rechtlichen Gehörs an einem wesentlichen Mangel (vgl BSG vom 6.10.2010 - B 12 KR 58/09 B - juris RdNr 8; vom 25.2.2010 - B 11 AL 113/09 B - juris RdNr 9). Das ist hier der Fall.
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Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat am Tag vor der mündlichen Verhandlung mit Telefax seiner Kanzlei vom 24.4.2012 die Aufhebung und Verlegung des anberaumten Termins wirksam beantragt. Über den spätestens aufgrund des beim LSG am 25.4.2012 um 11.59 Uhr eingegangenen weiteren Telefaxschreibens entscheidungsreifen Antrag hat der Senatsvorsitzende keine prozessleitende Entscheidung getroffen. Stattdessen hat der 3. Senat des LSG durch seine Mitglieder den Aufhebungs- und Verlegungsantrag als Antrag auf Vertagung der bereits begonnenen mündlichen Verhandlung behandelt, für den nicht der Vorsitzende allein, sondern der Senat in voller Besetzung der gesetzliche Richter ist, und ihn abgelehnt. Dadurch ist dem Kläger die Möglichkeit genommen worden, sich über seinen Prozessbevollmächtigten zur Sach- und Rechtslage zu äußern. Dass der Senatsvorsitzende den vom Prozessbevollmächtigten geltend gemachten erheblichen Grund ggf nicht als hinreichend substantiiert oder nicht glaubhaft gemacht angesehen haben könnte, ließ dessen Pflicht unberührt, über den Aufhebungs- und Verlegungsantrag noch vor Beginn der mündlichen Verhandlung wirksam zu entscheiden.
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Das angefochtene Urteil kann auf dem Verfahrensfehler beruhen. Da es an einer Entscheidung des gesetzlichen Richters über den Antrag fehlt, ist, weil sich später nur der Senat in voller Besetzung geäußert hat, nicht auszuschließen, dass es ohne den Verfahrensfehler zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gekommen wäre.
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Im Hinblick darauf ist nur kurz darauf hinzuweisen, dass hier auch mit der Antragsablehnung durch den Senat der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt worden ist. Denn der Prozessbevollmächtigte hat alles ihm in der konkreten Situation Mögliche und Zumutbare getan, um einen erheblichen Aufhebungsgrund vorzutragen, glaubhaft zu machen und das LSG von der Notwendigkeit zu überzeugen, den Termin der mündlichen Verhandlung aufzuheben oder zu verlegen (vgl hierzu BSG vom 28.4.1999 - B 6 KA 40/98 R - juris RdNr 18). Das LSG hat die Anforderungen an die Glaubhaftmachung einer die Wahrnehmung des Verhandlungstermins ausschließenden Erkrankung im konkreten Fall überspannt. Die Verhinderung des Prozessbevollmächtigten ist jedenfalls dann ein hinreichender Grund für die Aufhebung, Verlegung oder Vertagung eines Termins, wenn wegen einer unvorhergesehenen plötzlichen Erkrankung des Prozessbevollmächtigten nicht mehr rechtzeitig für eine Vertretung gesorgt werden kann und der Prozessbevollmächtigte seine Bereitschaft bekundet, zur Glaubhaftmachung ein Attest vorzulegen (so wörtlich BVerfG vom 8.2.2001 - 2 BvR 266/99 - juris RdNr 2). Vorliegend hat der Prozessbevollmächtigte zum Zwecke der Glaubhaftmachung (§ 294 Abs 1 ZPO iVm § 202 SGG) nicht nur die Vorlage eines ärztlichen Attests in Aussicht gestellt, sondern auch sein krankheitsbedingtes Unvermögen, den Verhandlungstermin wahrzunehmen, anwaltlich versichert und eine Versicherung an Eides statt angeboten.
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Liegen - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vor, kann das BSG auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen (§ 160a Abs 5 SGG). Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.
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Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
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