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BSG 06.10.2010 - B 12 KR 58/09 B
BSG 06.10.2010 - B 12 KR 58/09 B - Nichtzulassungsbeschwerde - Bezeichnung des Verfahrensmangels - Verstoß gegen den Grundsatz der Mündlichkeit, den Anspruch auf rechtliches Gehör und das allgemeine Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren
Normen
§ 124 Abs 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 62 SGG, Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 103 Abs 1 GG, § 227 Abs 4 S 1 Halbs 1 ZPO, § 227 Abs 4 S 1 Halbs 2 ZPO, § 547 ZPO
Vorinstanz
vorgehend SG Berlin, 9. Oktober 2007, Az: S 81 KR 1181/06, Urteil
vorgehend Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, 10. Juni 2009, Az: L 1 KR 615/07, Urteil
Tenor
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Auf die Beschwerde der Beigeladenen zu 2. und 3. gegen die Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 10. Juni 2009 aufgehoben.
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Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Die Beteiligten streiten in der Hauptsache darüber, ob die Beigeladene zu 2. aufgrund ihrer Tätigkeit für den Beigeladenen zu 3. der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung unterliegt.
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Gegen das für sie in der Sache negative Urteil des Sozialgerichts (SG) vom 9.10.2007 hatten - neben der Klägerin - die Beigeladene zu 2. und der Beigeladene zu 3. Berufung eingelegt. Mit Verfügung vom 12.5.2009 hatte der Vorsitzende des 1. Senats des Landessozialgerichts (LSG) Berlin-Brandenburg die Ladung zum Termin zur mündlichen Verhandlung am 10.6.2009, 12.00 Uhr, verfügt. Mit Ausnahme des für die Prozessbevollmächtigten der Beigeladenen zu 2. und 3. bestimmten Empfangsbekenntnisses waren die Empfangsbekenntnisse aller (übrigen) Beteiligten in der Folgezeit zur Gerichtsakte gelangt.
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Mit Telefax vom 9.6.2009, beim LSG eingegangen um 11.40 Uhr, beantragte die sachbearbeitende Rechtsanwältin der Prozessbevollmächtigten der Beigeladenen zu 2. und 3. die Verlegung des Termins. Sie wies darauf hin, dass sie die Ladung nicht erhalten habe, und zählte mehrere Gerichtstermine am 10.6.2009 bei anderen Gerichten in der Zeit von 9.00 Uhr bis 14.00 Uhr auf. In der Folgezeit kam es zu einem Telefonat einer Kanzleimitarbeiterin der Prozessbevollmächtigten mit dem Richter am LSG , in dem über den Antrag auf Terminsverlegung gesprochen wurde. Mit Telefax vom 9.6.2009, beim LSG eingegangen um 15.59 Uhr, lehnte die Sachbearbeiterin der Prozessbevollmächtigten der Beigeladenen zu 2. und 3. den Richter am LSG wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Sie begründete ihr Gesuch und wies außerdem darauf hin, dass weder sie noch ihre Sozietätskollegen den Termin zur mündlichen Verhandlung am Folgetag wahrnehmen könnten. In diesem Zusammenhang legte sie einige bei den Prozessbevollmächtigten der Beigeladenen zu 2. und 3. auch schon vor dem 12.5.2009 eingegangene Terminsladungen anderer Gerichte vor. Am 10.6.2009 wurde der sachbearbeitenden Rechtsanwältin die dienstliche Erklärung des Richters über die gegen ihn vorgebrachten Ablehnungsgründe übermittelt und eine Stellungnahmefrist bis spätestens um 11.30 Uhr eingeräumt. Mit Telefax vom 10.6.2009, beim LSG eingegangen um 11.20 Uhr, äußerte sich diese zu der dienstlichen Erklärung und wies noch einmal darauf hin, dass bis zu jenem Zeitpunkt über das Terminverlegungsgesuch nicht entschieden worden sei.
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Am 10.6.2009 um 12.30 Uhr wiesen die Berufsrichter des 1. Senats des LSG das Befangenheitsgesuch außerhalb der mündlichen Verhandlung im Beschlusswege ohne Beteiligung des abgelehnten Richters zurück. Im Anschluss führte das LSG die mündliche Verhandlung (Beginn 12.30 Uhr) in Abwesenheit der Beigeladenen zu 2. und 3. und ihrer Prozessbevollmächtigten durch und wies deren Berufung zurück. Der Vorsitzende hatte die mündliche Verhandlung eröffnet, ua darauf hingewiesen, dass noch über einen "Vertagungsantrag" zu entscheiden sei, und sodann die mündliche Verhandlung zwecks Zwischenberatung über den Antrag wieder geschlossen. Im Anschluss war der "Vertagungsantrag" in der mündlichen Verhandlung abgelehnt worden, ohne die Beigeladenen zu 2. und 3. bzw deren Prozessbevollmächtigte verhandelt und zu ihrem Nachteil entschieden worden.
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Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG vom 10.6.2009 rügen die Beigeladenen zu 2. und 3. als Verfahrensfehler ua eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör und ihres Prozessgrundrechts auf ein faires Verfahren.
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II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Die Beigeladenen zu 2. und 3. machen zu Recht einen Verfahrensmangel geltend, auf dem das angefochtene Urteil auch beruht (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Das LSG hat gegen den Grundsatz der Mündlichkeit (§ 124 Abs 1 SGG), ihren Anspruch auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG) und das allgemeine Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren (Art 2 Abs 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip) schon deshalb verstoßen, weil es den am 9.6.2009 gestellten Antrag auf Verlegung des Termins bis zum Beginn der mündlichen Verhandlung am 10.6.2009 nicht beschieden hat.
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Der auch für das sozialgerichtliche Verfahren geltende Mündlichkeitsgrundsatz (§ 124 Abs 1 SGG) gewährt den Verfahrensbeteiligten grundsätzlich ein Recht darauf, zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden (grundlegend BSG SozR Nr 16 zu § 62 SGG). Die Möglichkeit des Vortrags in der mündlichen Verhandlung ist die umfassendste Form der Gewährung des rechtlichen Gehörs. Bestandteil des Anspruchs der Beteiligten auf Gewährung des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) in der Form einer mündlichen Verhandlung ist auch das Recht auf Aufhebung oder Verlegung eines anberaumten (oder auf Vertagung eines bereits begonnenen) Termins zur mündlichen Verhandlung, wenn dies aus erheblichen Gründen notwendig ist (§ 227 ZPO iVm § 202 SGG; BSG SozR Nr 16 zu § 62 SGG). Über einen Aufhebungs- oder Verlegungsantrag (oder Vertagungsantrag) des verhinderten Beteiligten hat der Vorsitzende (oder das Gericht) zu entscheiden (§ 227 Abs 4 ZPO iVm § 202 SGG). Entsprechende Anforderungen an die Verhaltensweise des Gerichts ergeben sich auch aus dem aus Art 2 Abs 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden allgemeinen Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren (vgl hierzu etwa BSG SozR 4-1500 § 62 Nr 1 RdNr 6, mwN aus der Rechtsprechung, auch des BVerfG).
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Allein die Nichtbescheidung des Verlegungsgesuchs bis zum avisierten (12.00 Uhr) und auch tatsächlichen (12.30 Uhr) Beginn der mündlichen Verhandlung am 10.6.2009 stellt eine Versagung des rechtlichen Gehörs dar, die das Verfahren in einem wesentlichen Punkt fehlerhaft macht (vgl BSG SozR Nr 16 zu § 62 SGG; zur Nichtbescheidung auch Urteil vom 13.5.1980, 12 RK 74/79, USK 8086). Der Antrag war vor Beginn der mündlichen Verhandlung als Antrag auf Verlegung, jedenfalls Aufhebung des Termins gestellt worden. Die Entscheidung über einen solchen Antrag trifft der Vorsitzende durch prozessleitende Verfügung (§ 227 Abs 4 Satz 1 Halbs 1 ZPO iVm § 202 SGG). Der Verlegungs- bzw Aufhebungsantrag war - in dem Antrag selbst und auch in dem sich anschließenden Befangenheitsgesuch - mit einer Begründung versehen und damit entscheidungsreif oder hätte, zumal er nicht "erst in letzter Minute", sondern einen Tag vor der mündlichen Verhandlung beim LSG eingegangen war, durch weitere mögliche und zumutbare Ermittlungen entscheidungsreif gemacht werden können mit der Folge, dass eine Vorsitzendenentscheidung vor Beginn der mündlichen Verhandlung möglich war. Tatsächlich hat der Vorsitzende, der entscheiden konnte, weil nicht er, sondern der beisitzende Richter am LSG als befangen abgelehnt worden war, über die Terminsverlegung bzw -aufhebung vor Beginn der mündlichen Verhandlung nicht entschieden, sondern hat das LSG diesen Antrag nach Beginn der mündlichen Verhandlung als Antrag der Beigeladenen zu 2. und 3. auf Vertagung der mündlichen Verhandlung behandelt und ihn dann in der hierfür erforderlichen Besetzung (§ 227 Abs 4 Satz 1 Halbs 2 ZPO iVm § 202 SGG) abgelehnt. Indem das LSG den Verlegungs- bzw Aufhebungsantrag übergangen und erst in der mündlichen Verhandlung als Vertagungsantrag abgelehnt hat, wurde den Beigeladenen zu 2. und 3., die auch ihren Willen zum Ausdruck gebracht hatten, durch ihre Prozessbevollmächtigten verhandeln zu wollen, die Möglichkeit genommen, ihre Auffassung in der mündlichen Verhandlung über ihre Prozessbevollmächtigten vorzutragen. Das Übergehen dieses Antrags hat vor allem ihren Anspruch auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG) verletzt. Zwar hätten ihre Prozessbevollmächtigten ihrerseits, solange sie keine Antwort des Vorsitzenden auf ihre Bitte um Terminsverlegung bzw -aufhebung erhalten hatten, nicht darauf vertrauen dürfen, dass das Gericht ihrer Bitte entsprechen und den Termin aufheben würde. Denn solange der Termin nicht aufgehoben war, mussten sie mit seiner Durchführung rechnen und vorsorglich zum Termin erscheinen, um die Rechte der Beigeladenen zu 2. und 3. vertreten zu können. Mögliche Versäumnisse der Prozessbevollmächtigten in dieser Hinsicht ließen indessen die Pflicht des LSG unberührt, den mit einer Begründung versehenen, am Vortag gestellten Antrag auf Terminsverlegung bzw -aufhebung noch vor Beginn des Termins zur mündlichen Verhandlung durch den Vorsitzenden zu entscheiden.
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Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass bei zunehmender Verfahrensdauer sich die mit dem Justizgewährleistungsanspruch verbundene Pflicht des Gerichts verdichtet, sich nachhaltig um eine Beschleunigung des Verfahrens und dessen Beendigung zu bemühen (vgl BVerfG, Kammerbeschluss vom 6.12.2004, 1 BvR 1977/04, NJW 2005, 739). Dies kann jedenfalls nicht demjenigen entgegengehalten werden, zu dessen Gunsten im sozialgerichtlichen Verfahren der Justizgewährleistungsanspruch besteht, im vorliegenden Fall also den Beigeladenen zu 2. und 3.
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Obwohl die Verletzung des rechtlichen Gehörs in sozialgerichtlichen Verfahren nicht als absoluter Revisionsgrund geregelt ist (vgl § 202 SGG iVm § 547 ZPO), ist doch wegen der Bedeutung der mündlichen Verhandlung im Allgemeinen davon auszugehen, dass eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, die einen Verfahrensbeteiligten - wie hier die Beigeladenen zu 2. und 3. bzw deren Prozessbevollmächtigte - daran gehindert hat, an einer mündlichen Verhandlung teilzunehmen, die daraufhin ergangene Gerichtsentscheidung insgesamt beeinflusst hat (vgl BSG SozR 4-1750 § 227 Nr 1 RdNr 7; BSG SozR 3-1750 § 227 Nr 1 S 2, mwN). Näherer Darlegungen dazu, inwiefern das Urteil auf der Verletzung des rechtlichen Gehörs beruhen kann, sind daher nicht erforderlich. Insoweit braucht auch nicht geprüft zu werden, inwieweit solche den Begründungsanforderungen genügen.
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Nach 160a Abs 5 SGG kann das Revisionsgericht in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen. Hiervon hat der Senat zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen Gebrauch gemacht.
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Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
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