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BVerfG 10.12.2019 - 2 BvR 2061/19
BVerfG 10.12.2019 - 2 BvR 2061/19 - Erlass einer einstweiligen Anordnung: Vorläufige Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe
Normen
Art 2 Abs 2 S 1 GG, Art 2 Abs 2 S 2 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 455 Abs 1 StPO
Vorinstanz
vorgehend OLG Hamm, 5. November 2019, Az: III 5 Ws 471/19, Beschluss
vorgehend LG Essen, 15. August 2019, Az: 32 KLs-302 Js 158/13-6/16, Beschluss
nachgehend BVerfG, 3. Juni 2020, Az: 2 BvR 2061/19, Einstweilige Anordnung
nachgehend BVerfG, 26. November 2020, Az: 2 BvR 2061/19, Einstweilige Anordnung
nachgehend BVerfG, 17. Mai 2021, Az: 2 BvR 2061/19, Einstweilige Anordnung
nachgehend BVerfG, 4. November 2021, Az: 2 BvR 2061/19, Einstweilige Anordnung
nachgehend BVerfG, 5. Juli 2022, Az: 2 BvR 2061/19, Stattgebender Kammerbeschluss
Tenor
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Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe des Beschwerdeführers aus dem Urteil des Landgerichts Essen vom 8. Juni 2017 - 32 KLs 6/16 - nach Maßgabe des Beschlusses des Bundesgerichtshofs vom 20. Juni 2018 - 4 StR 561/17 - wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers in der Hauptsache ausgesetzt.
Gründe
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Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Ablehnung des Aufschubs der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe gemäß § 455 StPO.
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I.
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1. a) Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Landgerichts Essen vom 8. Juni 2017 wegen Untreue in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt.
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b) Auf die hiergegen erhobene Revision des Beschwerdeführers hin stellte der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 20. Juni 2018 das Verfahren teilweise ein. Zugleich wies er darauf hin, dass der Wegfall der von der Einstellung betroffenen Einzelstrafe von sechs Monaten den Ausspruch über die Gesamtstrafe unberührt lasse. Im Übrigen verwarf der Bundesgerichtshof die Revision als unbegründet.
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2. Mit angegriffenem Schreiben vom 28. August 2018 lud die Staatsanwaltschaft Essen den Beschwerdeführer zum Strafantritt binnen eines Monats nach Zustellung.
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3. Unter dem 14. September 2018 bat der Beschwerdeführer um einen dreimonatigen Aufschub der Strafvollstreckung aufgrund der Notwendigkeit einer psychologischen Behandlung. Mit Schreiben vom 19. September 2018 gab die Staatsanwaltschaft Essen dem Beschwerdeführer daraufhin auf, sich einer amtsärztlichen Untersuchung zu unterziehen.
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4. a) Ein unter dem 13. Februar 2019 erstelltes psychiatrisches Zusatzgutachten des Gesundheitsamtes Mülheim an der Ruhr kam zu dem Ergebnis, dass sich beim Beschwerdeführer psychopathologisch alle Symptome einer mittelgradigen depressiven Störung gefunden hätten. Ob zusätzlich ein demenzieller Abbau stattfinde oder eine depressive Pseudo-Demenz vorliege, könne derzeit nicht entschieden werden. Nach Ansicht des Gutachters sei der Beschwerdeführer nicht haftfähig.
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b) Unter dem 26. Februar 2019 teilte das Gesundheitsamt Mülheim an der Ruhr der Staatsanwaltschaft Essen daraufhin unter anderem mit, dass beim Beschwerdeführer eine psychiatrische Erkrankung vorliege. Der Unterzeichner des Schreibens schloss sich der Auffassung des psychiatrischen Zusatzgutachters an, dass der Beschwerdeführer wegen dieser Erkrankung nicht haftfähig sei. Außerdem befinde sich der Beschwerdeführer in einem körperlichen Zustand, der mit einer sofortigen Vollstreckung in einer Vollzugsanstalt unverträglich sei.
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c) Unter dem 5. April 2019 gab der psychiatrische Zusatzgutachter eine erneute Stellungnahme ab und wies darauf hin, dass seines Erachtens ein Verfall in Geisteskrankheit im Sinne des § 455 Abs. 1 StPO vorliege. Dabei helfe der Verweis auf das Justizvollzugskrankenhaus Fröndenberg wenig, dessen diagnostische und therapeutische Kapazitäten für den vorliegenden Fall zu limitiert seien.
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5. Mit Schreiben vom 13. Mai 2019 übermittelte die Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Senne der Staatsanwaltschaft Essen eine Stellungnahme ihres Anstaltsarztes, nach der die psychiatrischen Diagnosen aus den amtsärztlichen Stellungnahmen nicht von dem Gewicht zu sein schienen, dass der Beschwerdeführer dauerhaft haftunfähig sei. Allerdings könnten die Auswirkungen der vorhandenen Demenz auf die Alltagsfähigkeiten des Beschwerdeführers allein aus dem Gutachten und den beiliegenden Befunden nicht sicher abgeschätzt werden. Mit Schreiben vom 19. Juni 2019 wurde erneut eine Stellungnahme des Anstaltsarztes übermittelt, wonach der Beschwerdeführer zwar schwer krank, auf der Basis der gegenwärtigen Datenlage aber als haftfähig einzuschätzen sei. Es sei aber nicht auszuschließen, dass sich bei einer Inaugenscheinnahme des Beschwerdeführers ein anderes Bild ergebe.
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6. Mit angegriffener Ladung vom 17. Mai 2019 lud die Staatsanwaltschaft Essen den Beschwerdeführer zum Strafantritt bis zum 29. Mai 2019.
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7. Mit angegriffener Entscheidung vom 12. Juli 2019 teilte die Staatsanwaltschaft Essen dem Beschwerdeführer mit, dass kein Anlass bestehe, den beantragten Strafaufschub zu gewähren. Die Voraussetzungen des § 455 StPO lägen vor dem Hintergrund der Ausführungen des Anstaltsarztes der Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Senne nicht vor.
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8. Die hiergegen mit Schreiben vom 17. Juli 2019 erhobenen Einwendungen des Beschwerdeführers wies das Landgericht Essen mit angegriffenem Beschluss vom 15. August 2019 zurück. Insbesondere liege eine Geisteskrankheit im Sinne des § 455 Abs. 1 StPO beim Beschwerdeführer nicht vor. Nach Einschätzung des Anstaltsarztes der Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Senne begründeten insbesondere die amtsärztlichen Diagnosen keine Haftunfähigkeit. Die Kammer schließe sich der Bewertung des Anstaltsarztes an.
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9. Die gegen den Beschluss des Landgerichts Essen erhobene sofortige Beschwerde vom 26. August 2019 verwarf das Oberlandesgericht Hamm mit Beschluss vom 5. November 2019 als unbegründet.
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10. a) Unter dem 13. November 2019 erhob der Beschwerdeführer Anhörungsrüge gegen den Beschluss vom 5. November 2019. Eine Entscheidung hierüber steht noch aus.
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b) Mit Schreiben vom 18. November 2019 wurde der Beschwerdeführer von der Staatsanwaltschaft aufgefordert, der Ladung zum Strafantritt vom 17. Mai 2019 sofort Folge zu leisten. Um eine Verhaftung zu vermeiden, stellte sich der Beschwerdeführer daraufhin nach seinem Vortrag am 21. November 2019 zum Strafantritt.
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II.
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1. Mit seiner zusammen mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer insbesondere die Verletzung seines Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Zur Begründung trägt er insbesondere vor, dass die angegriffenen Entscheidungen auf die verfassungsrechtlich gebotene zureichende Sachaufklärung verzichteten. Sie stützten sich maßgeblich auf die - den amtsärztlichen Einschätzungen der Haftunfähigkeit zuwiderlaufenden - Stellungnahmen des Anstaltsarztes. Dieser vermute aber nur, dass der Beschwerdeführer haftfähig sei, und behalte sich eine weitere Prüfung zum Haftantritt vor. Die Stellungnahme habe daher nicht ohne weitere Sachaufklärung den angegriffenen Entscheidungen zugrunde gelegt werden können.
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2. Im Wege der einstweiligen Anordnung beantragt der Antragsteller sinngemäß, die Vollstreckung der Freiheitsstrafe des Beschwerdeführers aus dem Urteil des Landgerichts Essen vom 8. Juni 2017 - 32 KLs 6/16 - nach Maßgabe des Beschlusses des Bundesgerichtshofes vom 20. Juni 2018 - 4 StR 561/17 - bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache auszusetzen. Er verweist insoweit insbesondere auf bestehende Gesundheitsgefahren durch die Strafvollstreckung.
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III.
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Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.
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1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Entscheidung über die einstweilige Anordnung haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahmen vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die in der Hauptsache begehrte Feststellung oder der in der Hauptsache gestellte Antrag erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 103, 41 42>; stRspr). Erweist sich der Ausgang des Hauptsacheverfahrens als offen, hat das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich lediglich im Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile abzuwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, ihr der Erfolg in der Hauptsache aber zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 99, 57 66>; stRspr).
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2. a) Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet.
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aa) Der Zulässigkeit steht dabei nicht entgegen, dass derzeit noch die Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm über die unter dem 13. November 2019 erhobene Anhörungsrüge aussteht. Denn vorliegend greift jedenfalls § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG, da dem Beschwerdeführer ein schwerer und unabwendbarer Nachteil in Form von möglichen Gesundheitsbeeinträchtigungen droht, wenn er zunächst darauf verwiesen wird, die Entscheidung über die Anhörungsrüge abzuwarten.
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bb) Nach dem Vorbringen des Beschwerdeführers ist eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Form eines Verstoßes gegen die auch im Zusammenhang mit der Entscheidung über den Strafaufschub bestehende Pflicht zur zureichenden Sachaufklärung (siehe BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 21. Dezember 2017 - 2 BvR 2772/17 -, Rn. 12) nicht ausgeschlossen. Denn es erscheint jedenfalls möglich, dass die Staatsanwaltschaft Essen und die Fachgerichte auf der Basis der von ihnen herangezogenen Unterlagen nicht hinreichend in der Lage waren, eine Abwägung zwischen der Pflicht des Staates zur Durchsetzung des Strafanspruchs und den Grundrechten des Beschwerdeführers aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG vorzunehmen.
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b) Die somit nach § 32 BVerfGG gebotene Abwägung fällt zugunsten des Beschwerdeführers aus.
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aa) Unterbliebe die einstweilige Anordnung, erweist sich später die Verfassungsbeschwerde jedoch als begründet, kann in der Zwischenzeit die Freiheitsstrafe aus dem landgerichtlichen Urteil vollstreckt werden. Damit wäre ein erheblicher, nicht wiedergutzumachender Eingriff in das Recht auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG (vgl. BVerfGE 22, 178 180>), das unter den grundrechtlich verbürgten Rechten besonderes Gewicht hat (vgl. BVerfGE 65, 317 322>), sowie gegebenenfalls ein nicht unerheblicher Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verbunden.
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bb) Erginge die einstweilige Anordnung, wird die Verfassungsbeschwerde aber später als unbegründet zurückgewiesen, so wiegen die damit verbundenen Nachteile weniger schwer. In diesem Fall kann zwar die oben genannte Freiheitsstrafe vorübergehend nicht vollstreckt werden. Ein erheblicher Nachteil für das Wohl der Allgemeinheit ist jedoch nicht zu besorgen, da dem öffentlichen Interesse an der Vollstreckung der Freiheitsstrafe auch nach einer Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde - wenn auch zeitlich verzögert - noch Rechnung getragen werden kann.
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3. Wegen der angesichts der möglichen Gesundheitsgefahren besonderen Dringlichkeit ergeht diese Entscheidung unter Verzicht auf die Anhörung der anderen Beteiligten des Ausgangsverfahrens (§ 32 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG).
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