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BFH 18.08.2023 - IX B 104/22
BFH 18.08.2023 - IX B 104/22 - Videoverhandlung
Normen
Art 103 Abs 1 GG, § 91 Abs 2 FGO, § 91a FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 116 Abs 6 FGO, § 119 Nr 3 FGO, § 155 FGO, § 295 Abs 1 ZPO
Vorinstanz
vorgehend FG Münster, 19. Mai 2022, Az: 3 K 2530/21 EW, Urteil
Leitsatz
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1. NV: Bei einer Videoverhandlung nach § 91a der Finanzgerichtsordnung muss jeder Beteiligte zeitgleich die Richterbank und die anderen Beteiligten visuell und akustisch wahrnehmen können.
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2. NV: Daran fehlt es jedenfalls dann, wenn ein im Gerichtssaal anwesender Beteiligter den zugeschalteten Beteiligten nur sehen kann, wenn er selbst sich 180 Grad dreht.
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3. NV: Ist der Kläger vor dem Finanzgericht nicht rechtskundig vertreten, verliert er bei (verzichtbaren) Verfahrensmängeln (hier: Verletzung des rechtlichen Gehörs) sein Rügerecht nicht durch rügelose Verhandlung zur Sache.
Tenor
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Auf die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 19.05.2022 - 3 K 2530/21 EW aufgehoben.
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Die Sache wird an das Finanzgericht Münster zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
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Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
Tatbestand
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I.
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In der Sache begehrt die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) Akteneinsicht. Im hierüber geführten Klageverfahren gestattete das Finanzgericht (FG) dem Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt --FA--) mit Beschluss vom 26.04.2022 gemäß § 91a Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO), sich während der mündlichen Verhandlung in seinem Dienstgebäude aufzuhalten und dort im Rahmen einer "Videokonferenz" Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung war der anwaltlich nicht vertretene Geschäftsführer der Klägerin persönlich anwesend, während das FA per Videokonferenzanlage zugeschaltet war. Das FG wies die Klage als unbegründet ab.
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In ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügt die Klägerin unter anderem einen Verfahrensfehler. Sie trägt vor, während der Videoverhandlung sei das Bild des FA nicht vor ihr auf einem Bildschirm erschienen, sondern nur hinter ihr an die Wand projiziert worden. Um den Vertreter des FA zu sehen, habe sich der Geschäftsführer der Klägerin umsehen müssen und abwechselnd zwischen der Richterbank und dem FA wechseln müssen. Sie halte eine solche Verfahrensweise für unzulässig, da es nicht möglich gewesen sei, die Mimik und Gestik aller Teilnehmer der mündlichen Verhandlung zu beobachten. Im Übrigen habe der Geschäftsführer dem Redebeitrag des FA durch eine Körperdrehung erst dann folgen können, wenn dieser bereits begonnen hatte.
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Das FA hatte Gelegenheit, sich hierzu zu äußern. Ob die Vertreter des FA während der gesamten Verhandlung im Videobild gesehen werden konnten oder nur dann, wenn sich der Geschäftsführer der Klägerin dem entsprechenden Bildschirm zuwandte, sei für den störungsfreien Verlauf der Verhandlung und vor allem auch für den materiellen Inhalt der Entscheidung des Gerichts völlig irrelevant. Hinzu komme, dass gemäß § 91 Abs. 2 FGO das FG sogar bei Ausbleiben eines Beteiligten ohne ihn verhandeln und entscheiden könne. Schließlich habe die Klägerin in der mündlichen Verhandlung den behaupteten Fehler nicht gerügt.
Entscheidungsgründe
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II.
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Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 FGO). Das angefochtene Urteil beruht auf einem Verfahrensmangel im Sinne des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO.
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Der Anspruch der Klägerin auf das rechtliche Gehör (§ 119 Nr. 3 FGO i.V.m. Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes --GG--) ist verletzt. Bei einer Videoverhandlung nach § 91a FGO muss jeder Beteiligte zeitgleich die Richterbank und die anderen Beteiligten visuell und akustisch wahrnehmen können. Daran fehlt es jedenfalls dann, wenn ein im Gerichtssaal anwesender Beteiligter den zugeschalteten Beteiligten nur sehen kann, wenn er selbst sich 180 Grad dreht.
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1. Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst das Recht der Verfahrensbeteiligten, sich vor Erlass einer Entscheidung zu den entscheidungserheblichen Tatsachen und --gegebenenfalls-- Beweisergebnissen zu äußern sowie in rechtlicher Hinsicht alles vorzutragen, was sie für wesentlich halten (vgl. u.a. Senatsbeschluss vom 08.04.2022 - IX B 10/21, Rz 11; Gräber/Ratschow, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 119 Rz 14, m.w.N.; Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 96 FGO Rz 217). Diese Gelegenheit zur Äußerung wird den Beteiligten durch Einreichung der Klagebegründung und weiterer Schriftsätze sowie durch Teilnahme an der mündlichen Verhandlung gegeben. Zudem setzt eine Art. 103 Abs. 1 GG genügende Gewährung rechtlichen Gehörs voraus, dass sich die Verfahrensbeteiligten bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt über den gesamten Verfahrensstoff informieren können (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 08.06.1993 - 1 BvR 878/90, BVerfGE 89, 28, m.w.N.).
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a) Nach § 91a Abs. 1 Satz 1 FGO kann das Gericht den Beteiligten, ihren Bevollmächtigten und Beiständen auf Antrag oder von Amts wegen gestatten, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Die Verhandlung wird dann gemäß § 91a Abs. 1 Satz 2 FGO zeitgleich in Bild und Ton an diesen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen. Die "Videoübertragungstechnik" soll auf der Grundlage dieser Vorschrift "ohne Verlust an rechtsstaatlicher Qualität" genutzt werden (BTDrucks 17/1224, S. 10). Das Geschehen muss vollständig übermittelt werden. Der Bildausschnitt darf sich deshalb nicht auf einzelne Beteiligte --etwa den Vorsitzenden-- beschränken (Wieczorek/Schütze/Gerken, 5. Aufl., § 128a ZPO Rz 11). Jeder Beteiligte muss zeitgleich die anderen Beteiligten visuell und akustisch wahrnehmen können (MüKoZPO/Fritsche, § 128a Rz 6; Müller-Teckhof, in: Kern/Diehm (Hrsg.), ZPO, 2. Aufl. 2020, § 128a Rz 4). Verbale und nonverbale Äußerungen müssen wie bei persönlicher Präsenz wahrnehmbar sein (Zöller/Greger, ZPO, 34. Aufl., § 128a Rz 6; Windau, Neue Juristische Wochenschrift 2020, 2753, 2754).
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b) Sind einzelne oder alle Beteiligten trotz ordnungsmäßiger Ladung nicht erschienen, kann die mündliche Verhandlung grundsätzlich durchgeführt und zur Sache entschieden werden, wenn die Beteiligten nach § 91 Abs. 2 FGO auf diese Möglichkeit hingewiesen worden sind. Teilweise wird vertreten, dass auch eine Videoverhandlung im Sinne von § 91a FGO ohne (ununterbrochene) Bildübertragung durchgeführt werden kann, wenn dieser Hinweis nach § 91 Abs. 2 FGO erfolgt ist (Schmieszek in Gosch, FGO § 91a Rz 44; vgl. auch Hessisches FG, Urteil vom 24.07.2014 - 8 K 1324/10).
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2. Im Streitfall hat das FG das rechtliche Gehör der Klägerin verletzt.
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a) Es war dem Geschäftsführer der Klägerin in der mündlichen Verhandlung am 19.05.2022 nicht möglich, gleichzeitig die Richterbank und das FA zu sehen. Er musste sich vielmehr umdrehen, um die Vertreter des FA auf dem Bildschirm hinter ihm sehen zu können. Unter diesen Umständen ist nicht generell ausgeschlossen, dass ihm Einzelheiten, zum Beispiel in Mimik und Gestik der Vertreter des FA oder der Richter, entgangen sein können. Anders als in der mündlichen Verhandlung unter Anwesenheit aller Beteiligter konnte eine mögliche nonverbale Kommunikation zwischen einem Beteiligten und der Richterbank nicht wahrgenommen werden. Dem steht nicht entgegen, dass im Regelfall die Beteiligten einer Gerichtsverhandlung nebeneinander vor der Richterbank sitzen. Denn in diesem Fall kann eine nonverbale Kommunikation zumindest regelmäßig "aus dem Augenwinkel" wahrgenommen werden.
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b) Zudem ist zu berücksichtigen, dass durch das wiederholte Hin- und Herschauen möglicherweise die Gefahr bestand, dass der Geschäftsführer der Klägerin abgelenkt wurde und deshalb seine Konzentration auf den Prozessstoff beeinträchtigt war.
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c) Schließlich scheidet eine Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht deshalb aus, weil das FG nach § 91 Abs. 2 FGO auch in Abwesenheit des FA hätte verhandeln und entscheiden können. Denn § 91 Abs. 1 und 2 FGO dient zwar auch dem Schutz der Verfahrensbeteiligten, insbesondere im Hinblick auf die Gewährleistung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 96 Abs. 2 FGO). Soweit es § 91 Abs. 2 FGO betrifft, ist damit allerdings der ausbleibende Beteiligte gemeint. Wenn dieser Beteiligte --wenn auch im Rahmen einer Videoverhandlung-- anwesend ist, muss der andere Beteiligte stets in der Lage sein, dessen verbale und nonverbale Äußerungen umfassend wahrzunehmen.
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3. Die Klägerin kann die Rüge auch mit Erfolg geltend machen.
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a) Zwar geht ein solches Rügerecht gemäß § 295 Abs. 1 der Zivilprozessordnung i.V.m. § 155 Satz 1 FGO verloren, wenn die Verletzung einer verzichtbaren Verfahrensvorschrift im Raume steht. Das Rügerecht geht nicht nur durch eine ausdrückliche oder konkludente Verzichtserklärung verloren, sondern auch durch das bloße Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge. Ein Verzichtswille ist dafür nicht erforderlich. Diese Folge wird vom Bundesfinanzhof (BFH) allerdings nur für den Fall angenommen, dass der Kläger --anders als im Streitfall-- rechtskundig vertreten ist (vgl. BFH-Beschluss vom 29.10.2004 - XI B 213/02, BFH/NV 2005, 566 und Senatsbeschluss vom 27.09.2007 - IX B 19/07, BFH/NV 2008, 27; ausdrücklich BFH-Beschluss vom 25.05.2011 - VI B 3/11, Rz 7; Gräber/Ratschow, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 115 Rz 295; Werth in Gosch, FGO § 115 Rz 150 und 180).
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b) Im Streitfall war die Klägerin nicht rechtskundig vertreten, so dass --trotz unterlassener Rüge-- kein Rügeverlust eingetreten ist. Zu diesem Ergebnis gelänge man auch unter Anwendung der vermittelnden Auffassung, wonach das Rügerecht bei einem nicht vertretenen Beteiligten nur dann verloren gehen soll, wenn der betreffende Verfahrensverstoß bei einer Parallelwertung in der Laiensphäre erkennbar war; in den konkret entschiedenen Fällen hat der BFH jeweils die Erkennbarkeit für einen Laien bejaht (vgl. BFH-Beschluss vom 01.12.2011 - I B 80/11, Rz 7). Denn dass in der eingeschränkten Sichtbarkeit eines Beteiligten im Rahmen einer Videoverhandlung ein Verfahrensmangel liegen könnte, ist für einen Laien nicht ohne weiteres erkennbar.
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4. Der Senat hält es für sachgerecht, die Vorentscheidung gemäß § 116 Abs. 6 FGO aufzuheben und die Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Die weiteren Rügen der Klägerin sind danach nicht mehr zu prüfen.
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5. Von einer weiteren Begründung wird nach § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO abgesehen.
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6. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
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