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BSG 30.10.2020 - B 9 SB 17/20 B
BSG 30.10.2020 - B 9 SB 17/20 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - Abhandenkommen von Verwaltungs- und Prozessakten während der Gerichtsverfahrens - Entscheidung auf der Grundlage einer Behelfsakte - Darlegungsanforderungen - konkrete Bezeichnung der fehlenden entscheidungserheblichen Unterlagen - Sachverständigengutachten - Nichterscheinen zu Begutachtungsterminen - konkrete Darlegung der jeweiligen Verhinderungsgründe - rechtliches Gehör - Möglichkeit der Außerachtlassung von Sachvortrag aus Rechtsgründen
Normen
§ 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 62 SGG, § 103 SGG, § 106 Abs 3 Nr 5 Alt 2 SGG, § 128 Abs 1 S 1 SGG, Art 103 Abs 1 GG
Vorinstanz
vorgehend SG Bremen, 27. September 2018, Az: S 19 SB 196/15, Gerichtsbescheid
vorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, 11. März 2020, Az: L 13 SB 107/18, Urteil
Tenor
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Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 11. März 2020 wird als unzulässig verworfen.
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Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
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I. Die Klägerin begehrt in der Hauptsache die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 50 ab dem 1.10.2013. Wie zuvor bereits das SG (Gerichtsbescheid vom 27.9.2018) hat auch das LSG diesen Anspruch verneint. Auf Grundlage der vorliegenden medizinischen Unterlagen lasse sich der von der Klägerin begehrte GdB nicht feststellen. Durch die fehlende Mitwirkung der Klägerin an der Begutachtung durch den Sachverständigen S sei eine abschließende Sachverhaltsaufklärung nicht möglich gewesen (Urteil vom 11.3.2020).
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Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat die Klägerin Beschwerde eingelegt. Sie rügt Verfahrensmängel.
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II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Ihre Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil der allein geltend gemachte Zulassungsgrund des Verfahrensmangels (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) nicht ordnungsgemäß bezeichnet worden ist (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG).
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Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde wie im Fall der Klägerin darauf gestützt, es liege ein Verfahrensmangel vor, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 SGG), so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) die den Verfahrensmangel begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG - ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung der Entscheidung besteht. Die Geltendmachung eines Verfahrensmangels wegen Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsprinzip) kann gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 3 SGG nur darauf gestützt werden, dass das LSG einem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Diese Anforderungen an die Bezeichnung eines Verfahrensmangels erfüllt die Beschwerdebegründung nicht.
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Die Klägerin rügt, dem LSG hätten die Verwaltungsakte der Beklagten und die Akte des SG nicht vorgelegen. Daher sei schon fraglich, woraus das LSG seine Erkenntnisse für seine Entscheidung gezogen habe. Dem LSG hätten nur die von der Beklagten selbst nochmals eingereichten Unterlagen zur Verfügung gestanden. Da der Akteninhalt nicht mehr verlässlich verfügbar gewesen sei, hätte das Berufungsgericht ein erneutes Gutachten von Amts wegen nach § 103 SGG oder nach § 109 SGG einholen müssen.
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Mit diesem Vortrag hat die Klägerin keinen Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG bezeichnet. Zwar weist sie zutreffend darauf hin, dass dem LSG die Verwaltungsakte der Beklagten und die Akte des SG nicht vorgelegen haben, weil nach Mitteilung des SG die Original-Akten dort nicht mehr auffindbar waren, sie räumt aber selbst ein, dass das LSG aus der übersandten Prozesshandakte der Beklagten eine Behelfsakte (sog Interimsakte) erstellt hat. Vor diesem Hintergrund trägt sie nicht substantiiert vor, dass und aus welchen Gründen das LSG auf dieser tatsächlichen Grundlage nicht hätte entscheiden dürfen. Insbesondere legt sie nicht dar, dass und bejahendenfalls welche im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren eingeholten medizinischen Berichte und sonstigen für die Entscheidung des LSG tragenden Unterlagen die Behelfsakte nicht enthalten soll. Sie zeigt auch nicht auf, dass sich das Berufungsgericht hätte gedrängt fühlen müssen, weitere Sachaufklärung (§ 103 SGG) durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens zu betreiben. Die Klägerin behauptet in der Beschwerdebegründung nicht einmal, dass sie einen entsprechenden Beweisantrag bis zuletzt vor dem LSG wenigstens sinngemäß aufrechterhalten hat (vgl zu den Darlegungsanforderungen an eine Sachaufklärungsrüge: Senatsbeschluss vom 18.6.2018 - B 9 V 1/18 B - juris RdNr 20 f). Auf eine Verletzung des § 109 SGG kann eine Nichtzulassungsbeschwerde nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG ohnehin nicht gestützt werden.
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Nichts anderes ergibt sich aus dem Vortrag der Klägerin, das LSG sei - wie zuvor bereits das SG - zu Unrecht zu dem Ergebnis gelangt, dass sie die Einholung des vom SG von Amts wegen in Auftrag gegebenen Sachverständigengutachtens des S durch ihr Nichterscheinen zu den anberaumten Begutachtungsterminen vereitelt und deswegen eine weitere Sachaufklärung verhindert habe. Auch insoweit hat sie keinen Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG bezeichnet. Die Klägerin versäumt es bereits, in chronologisch geordneter Reihenfolge aufzuzeigen, dass und aus welchem sachlichen Grund sie jeweils zu welchem Termin zur Begutachtung bei S nicht habe erscheinen können. Allein die pauschalen, nicht terminbezogenen Hinweise in der Beschwerdebegründung auf "ärztliche Atteste", "Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen" oder "Unwetter" reichen hier nicht. "Bezeichnet" iS des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG ist ein Verfahrensmangel nur dann, wenn er in den ihn begründenden Tatsachen substantiiert dargetan wird (Senatsbeschluss vom 28.2.2017 - B 9 SB 88/16 B - juris RdNr 5). Es ist nicht Aufgabe des Revisionsgerichts, sich im Rahmen des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens die - möglicherweise - maßgeblichen Tatsachen aus dem angegriffenen Urteil des LSG sowie den Gerichts- und Verwaltungsakten selbst herauszusuchen (stRspr, zB Senatsbeschluss vom 16.4.2018 - B 9 V 8/18 B - juris RdNr 4; Senatsbeschluss vom 21.8.2017 - B 9 SB 3/17 B - juris RdNr 6). Im Übrigen erfolgt die Auswahl des Sachverständigen bei Ermittlungen von Amts wegen nach § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 404 Abs 1 Satz 1 ZPO durch das Prozessgericht (vgl BSG Beschluss vom 26.9.2019 - B 5 R 268/18 B - juris RdNr 11; BGH Beschluss vom 29.3.2017 - VII ZR 149/15 - juris RdNr 12; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 118 RdNr 11c mwN). Dass S als Sachverständiger für die Begutachtung nicht geeignet war, hat die Klägerin nicht dargelegt.
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Die Klägerin sieht schließlich einen Gehörsverstoß (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) darin, dass die Beklagte die Krankenunterlagen "selektiv behandelt" und nur Befunde einbezogen habe, durch welche sie die geringsten Einschränkungen habe. Auch die Vorinstanzen hätten die Krankenunterlagen gar nicht oder nur unzureichend ausgewertet. Die Diagnose "Fibromyalgie" sei überhaupt nicht beachtet worden.
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Mit diesem Vorbringen hat die Klägerin keinen Gehörsverstoß bezeichnet. Es fehlen bereits Ausführungen dazu, weshalb die Entscheidung des LSG auf der vermeintlichen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör beruhen können sollte und welcher konkrete Vortrag der Klägerin insoweit unberücksichtigt geblieben ist. Unabhängig davon, dass die Klägerin ihre Behauptung, die Beklagte habe ihre Krankenunterlagen "selektiv behandelt", nicht näher substantiiert oder gar belegt hat, geht sie in diesem Zusammenhang auch nicht darauf ein, dass das SG im Rahmen der Sachaufklärung (§ 103 SGG) diverse Befundberichte ihrer behandelnden Ärzte beigezogen hat. Dass sich diese medizinischen Unterlagen nicht in der vom LSG angelegten Behelfsakte befinden, zeigt die Klägerin ebenfalls nicht auf. Tatsächlich kritisiert sie mit ihrem Vortrag im Kern lediglich die Beweiswürdigung der Vorinstanzen. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann ein Verfahrensmangel aber nicht auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG (Grundsatz der freien Beweiswürdigung) gestützt werden. Sofern die Klägerin in diesem Kontext rügt, dass die Diagnose "Fibromyalgie" durchgängig ignoriert worden sei, verkennt sie, dass allein die Diagnose einer Krankheit noch keinen Grund zur Zuerkennung eines GdB darstellt. Dieser ist vielmehr nur bei konkreten Funktionsstörungen begründet. Im Übrigen bietet der Anspruch auf rechtliches Gehör keinen Schutz gegen Entscheidungen, die den Sachvortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts ganz oder teilweise unberücksichtigt lassen (vgl Senatsbeschluss vom 6.8.2019 - B 9 V 14/19 B - juris RdNr 12; BVerfG Urteil vom 8.7.1997 - 1 BvR 1621/94 - BVerfGE 96, 205, 216 = juris RdNr 43). Er gewährleistet nur, dass ein Beteiligter mit seinem Vortrag "gehört", nicht jedoch "erhört" wird. Dass das Urteil des LSG aus Sicht der Klägerin inhaltlich unrichtig ist, ist für das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren ohne Belang (vgl stRspr, BSG Beschluss vom 20.2.2017 - B 12 KR 65/16 B - juris RdNr 5 mwN).
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Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
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Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.
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Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
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