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BVerfG 04.11.2024 - 2 BvR 1100/24
BVerfG 04.11.2024 - 2 BvR 1100/24 - Nichtannahmebeschluss: Unzulässige Verfassungsbeschwerde gegen Verhängung einer zur Bewährung ausgesetzten mehrmonatigen Freiheitsstrafe wegen "Schwarzfahrens" - ua mangelnde Rechtswegerschöpfung bei Rechtsmittelbeschränkung auf Rechtsfolgenausspruch
Normen
Art 1 Abs 1 GG, Art 2 Abs 1 GG, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 90 Abs 2 S 1 BVerfGG, § 92 BVerfGG, § 265a Abs 1 StGB
Vorinstanz
vorgehend OLG Koblenz, 22. Januar 2024, Az: 2 ORs 4 Ss 120/23, Beschluss
vorgehend LG Mainz, 2. Mai 2023, Az: 2 Ns 3500 Js 9485/22, Beschluss
vorgehend LG Mainz, 2. Mai 2023, Az: 2 Ns 3500 Js 9485/22, Urteil
vorgehend AG Mainz, 16. November 2022, Az: 404 Ds 3500 Js 9485/22, Urteil
Tenor
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Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe
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Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Verurteilung des Beschwerdeführers zu einer Bewährungsstrafe wegen einer „Schwarzfahrt“.
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Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil ein Annahmegrund gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegt. Die Verfassungsbeschwerde hat keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung; der verfassungsrechtliche Maßstab ist geklärt. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt, denn sie ist unzulässig.
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1. Soweit die Verfassungsbeschwerde das Urteil des Amtsgerichts Mainz vom 16. November 2022 angreift, ist sie bereits deshalb unzulässig, weil die amtsgerichtliche Entscheidung durch die den Rechtsfolgenausspruch abändernde Berufungsentscheidung des Landgerichts prozessual überholt ist und dem Beschwerdeführer daher die Beschwer und das Rechtsschutzbedürfnis fehlen (vgl. BVerfGK 10, 134 138>; 13, 231 233>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Juni 2014 - 2 BvR 429/12 -, Rn. 14; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 29. Oktober 2015 - 2 BvR 388/13 -, Rn. 16).
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2. Die Verfassungsbeschwerde ist auch unzulässig, soweit sie das Urteil und den Bewährungsbeschluss des Landgerichts Mainz jeweils vom 2. Mai 2023 sowie deren Bestätigung durch das Oberlandesgericht Koblenz mit Beschluss vom 22. Januar 2024 angreift, weil sie den Substantiierungsanforderungen der § 23 Abs. 1 Satz 2 1. Halbsatz, § 92 BVerfGG nicht genügt. Ihre Begründung lässt eine Verletzung von Rechten im Sinne des § 90 Abs. 1 BVerfGG nicht erkennen.
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a) Eine Verfassungswidrigkeit der Bestrafung des Beschwerdeführers ist mit dem Beschwerdevorbringen nicht schlüssig aufgezeigt. Der Beschwerdeführer greift die Strafvorschrift des § 265a StGB als solche nicht – auch nicht mittelbar – an, sondern befasst sich nur mit der Strafzumessung. Über diesen Weg begehrt er die Feststellung der Verfassungswidrigkeit seiner Bestrafung im Ausgangsverfahren. Bei seinen Erwägungen zur Unangemessenheit der gegen ihn verhängten Strafe ist er ersichtlich von der Vorstellung geleitet, dass von einer Strafe in seinem Fall abzusehen sei, obwohl seine Schuld gerichtlich festgestellt wurde. Die Strafvorschrift des § 265a Abs. 1 StGB kennt als gebundene Rechtsfolge einer festgestellten Straftat aber nur die Geld- und die Freiheitsstrafe. Hat sich ein Täter wegen Erschleichens von Leistungen schuldig gemacht und wird das Verfahren nicht eingestellt, hat ihn das Gericht zu einer dieser beiden Hauptstrafen zu verurteilen.
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b) Ohne verfassungsrechtliche Bedeutung ist insoweit das in den Vordergrund der Verfassungsbeschwerde gerückte Vorbringen, eine Bestrafung des Beschwerdeführers wegen Erschleichens von Leistungen gemäß § 265a Abs. 1 StGB sei angesichts der gegenwärtigen rechtspolitischen Bestrebungen, das „Schwarzfahren“ zu entkriminalisieren (vgl. Eckpunkte des Bundesministeriums der Justiz zur Modernisierung des Strafgesetzbuchs, November 2023, S. 3; Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs – Straffreiheit für Fahren ohne Fahrschein, BTDrucks 20/2081, S. 3), verfassungswidrig. Denn die Gültigkeit der Strafvorschrift und die Bindung der Justiz hieran (Art. 20 Abs. 3 GG) bleiben durch das Reformvorhaben des Gesetzgebers unberührt.
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c) Im Übrigen ist dem Bundesverfassungsgericht die verfassungsrechtliche Überprüfung der Strafvorschrift des § 265a Abs. 1 StGB in dem hier vorliegenden Fall versperrt, weil der Rechtsweg nicht ordnungsgemäß erschöpft wurde. Das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) verlangt, dass ein Beschwerdeführer die ihm im fachgerichtlichen Verfahren gegebenen Rechtsbehelfe nutzt, um den als solchen empfundenen Grundrechtsverstoß schon außerhalb des Verfassungsprozesses einer Korrektur zuzuführen (vgl. BVerfGE 84, 203 208>; stRspr). Da der Beschwerdeführer die Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte, haben weder das Landgericht noch das Oberlandesgericht überprüft, ob die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Erschleichens von Leistungen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zutreffend war. Der Beschwerdeführer hat daher den Rechtsweg nicht erschöpft, sondern ihn sich selbst verschlossen (vgl. BVerfGE 2, 123 124>; 21, 94 96>; BVerfGK 3, 181 183>; 4, 176 180>).
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d) Die Verfassungsbeschwerde zeigt zudem nicht durchgreifend auf, dass die gegen den Beschwerdeführer verhängte und zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe von vier Monaten auch unter Berücksichtigung der geringen Schadenshöhe die Schuld des Beschwerdeführers übersteigt und damit den Anforderungen an einen gerechten Schuldausgleich und der Beachtung des Übermaßverbotes nicht mehr gerecht wird.
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aa) Nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip darf die Strafe die Schuld des Täters nicht übersteigen (zum Schuldgrundsatz vgl. nur BVerfGE 133, 168 197 f. Rn. 54> m.w.N.). Sie muss in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Maß der Schuld des Täters stehen (vgl. BVerfGE 20, 323 331>; 25, 269 285 ff.>; 50, 5 12>; 73, 206 253 f.>; 86, 288 313>; 96, 245 249>; 120, 224 254>). Die Strafzumessung ist allerdings Sache der Tatgerichte und der Prüfung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich entzogen, es sei denn, die Strafzumessung entfernt sich so weit von dem Gedanken des gerechten Schuldausgleichs, dass sie sich als objektiv willkürlich erweist (vgl. BVerfGE 18, 85 92 ff.>; 54, 100 108, 111>; 74, 102 127>; 120, 224 254>; stRspr). Das Bundesverfassungsgericht kann nicht nachprüfen, ob die entscheidungserheblichen Gesichtspunkte in jeder Hinsicht zutreffend gewichtet worden sind oder ob eine andere Entscheidung näher gelegen hätte, sondern grundsätzlich nur, ob dem Schuldgrundsatz überhaupt Rechnung getragen oder ob seine Tragweite bei Auslegung und Anwendung des Strafrechts grundlegend verkannt worden ist (vgl. BVerfGE 95, 96 141>; 120, 224 254> m.w.N.).
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bb) Danach sind die angegriffenen Entscheidungen nicht zu beanstanden. Die Anwendung des § 47 Abs. 1 StGB in dem hier vorliegenden Fall begegnet keinen Bedenken. Aus dem Gebot schuldangemessenen Strafens ergibt sich nicht, dass die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe gemäß § 47 Abs. 1 StGB erst ab einer bestimmten Schadenshöhe in Betracht kommt (vgl. BVerfGE 50, 205 214 ff.>; vgl. auch BVerfGE 50, 125 133 ff.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Juni 1994 - 2 BvR 710/94 -, juris, Rn. 8). Die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe gegen den Beschwerdeführer ist angesichts der Vielzahl seiner einschlägigen Vorverurteilungen und der Umstände, dass er wegen einer einschlägigen Vorstrafe bereits eine zweimonatige Haftstrafe verbüßte und er zum Tatzeitpunkt aufgrund einer sechs Monate zuvor rechtskräftig gewordenen Verurteilung unter laufender einschlägiger Bewährung stand, nachvollziehbar und damit jedenfalls nicht sachfremd oder objektiv willkürlich.
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Aus den Gründen der angegriffenen Entscheidungen lässt sich auch entnehmen, dass sich die Fachgerichte der Problematik des Übermaßverbotes bewusst gewesen sind. Die Gerichte haben nicht unberücksichtigt gelassen, dass der Schaden der ausgeurteilten Tat geringwertig und diese objektiv dem untersten Bereich der Bagatellkriminalität zuzuordnen war. Auch hat sich das Landgericht umfassend mit den sozialen und finanziellen Verhältnissen des Beschwerdeführers auseinandergesetzt. Dies kommt in der Bewährungsentscheidung des Landgerichts deutlich zum Ausdruck. Es hat bei der Strafzumessung die sich im konkreten Fall aus den finanziellen Verhältnissen und der Betäubungsmittelabhängigkeit ergebende Zwangslage des Beschwerdeführers strafmildernd berücksichtigt und – im Gegensatz zum Amtsgericht – auf eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe von vier Monaten erkannt (§ 56 Abs. 1 StGB).
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e) Bezogen auf den Bewährungsbeschluss des Landgerichts vom 2. Mai 2023 fehlt es der Verfassungsbeschwerde an spezifischen verfassungsrechtlichen Ausführungen, die über das Vorbringen zur Verfassungswidrigkeit der ausgeurteilten Strafe hinausgehen.
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Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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