BVerfG 02.07.2013 - 1 BvR 1751/12 - Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Bezeichnung einer Rechtsanwaltskanzlei als "Winkeladvokatur" ggf durch Meinungsfreiheit (Art 5 Abs 1 S 1 GG) geschützt - Zur Reichweite der Meinungsfreiheit bzgl Äußerungen im gerichtlichen Verfahren - sowie zu den Voraussetzungen der Annahme von Schmähkritik - Gegenstandswertfestsetzung
Normen
Art 5 Abs 1 S 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 823 Abs 1 Alt 6 BGB, § 823 Abs 2 BGB, § 1004 Abs 1 S 2 BGB
Vorinstanz
vorgehend OLG Köln, 18. Juli 2012, Az: 16 U 184/11, Urteil
vorgehend LG Köln, 15. November 2011, Az: 5 O 344/10, Urteil
nachgehend BVerfG, 4. Dezember 2013, Az: 1 BvR 1751/12, Kammerbeschluss
Tenor
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1. Das Urteil des Landgerichts Köln vom 15. November 2011 - 5 O 344/10 - und das Urteil des Oberlandesgerichts Köln vom 18.
Juli 2012 - 16 U 184/11 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes.
Die Urteile werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Köln zurückverwiesen.
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Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
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2. Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
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3. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 25.000 € (in Worten:
fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.
Gründe
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I.
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Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen zivilgerichtliche Entscheidungen, die dem Beschwerdeführer eine Äußerung untersagen.
Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung seiner Meinungsfreiheit, seiner Berufsfreiheit und seines Rechts auf rechtliches
Gehör.
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1. Der Beschwerdeführer ist Rechtsanwalt. In einem Verfahren vor dem Landgericht vertrat er die Interessen einer Patientin
gegen mehrere Zahnärzte. Für zwei dieser Zahnärzte war der Kläger des Ausgangsverfahrens als Rechtsanwalt tätig. Der Beschwerdeführer
warf dem Kläger Parteiverrat und widerstreitende Interessen vor, weil dieser nur für einen seiner Mandanten habe günstig vortragen
und ihn effektiv gegen Haftungsvorwürfe verteidigen können, aber nicht für beide. Der Beschwerdeführer zeigte den Kläger bei
der Staatsanwaltschaft und bei der Rechtsanwaltskammer an; beide Verfahren wurden eingestellt.
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In einem weiteren Rechtsstreit vor dem Landgericht vertrat der Beschwerdeführer erneut dieselbe Patientin, und der Kläger
wieder zwei Zahnärzte. In diesem Verfahren monierte der Beschwerdeführer in einem Schriftsatz einen widersprüchlichen Außenauftritt
des Klägers, denn es sei nicht klar, ob dieser mit zwei Rechtsanwälten in einer Sozietät oder in einer Bürogemeinschaft zusammenarbeite.
Hier zeige sich eine Parallele zu den von dem Kläger vertretenen Zahnärzten, bei denen auch nicht klar sei, ob sie eine Praxisgemeinschaft
oder eine Gemeinschaftspraxis bildeten. Dem Schriftsatz fügte der Beschwerdeführer eine E-Mail an die Rechtsanwaltskammer
bei, in der er auf die Erledigung des berufsständischen Verfahrens geantwortet hatte. Dort heißt es unter anderem:
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"Mir persönlich erscheint es daher fragwürdig, wie es die Rechtsanwälte … mit ihrer prozessualen Wahrheitspflicht halten,
wenn sie dem Gericht gegenüber eine "Kooperation" behaupten, wo sonst von ihnen allenthalben der Eindruck einer Sozietät zu
vermitteln versucht wird.
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Ich gehe davon aus, dass es nicht unsachlich ist, eine solche geschickte Verpackung der eigenen Kanzlei - mal als Kooperation,
mal als Sozietät (wie es gerade günstig ist) - als "Winkeladvokatur" zu apostrophieren."
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2. Das Landgericht verurteilte den Beschwerdeführer mit angegriffenem Urteil, es zu unterlassen,
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"den Kläger als Winkeladvokaten zu bezeichnen und/oder ihn oder das von ihm geführte Büro als Winkeladvokatur zu bezeichnen." |
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Es ordnete die Äußerung als Schmähkritik ein, weil die Bezeichnung "Winkeladvokatur" des erforderlichen Sachbezugs entbehre
und als bloße Diffamierung angesehen werden müsse.
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3. Das Oberlandesgericht wies die Berufung des Beschwerdeführers mit an-gegriffenem Urteil zurück. Es lässt offen, ob die
streitige Äußerung als Schmähkritik einzustufen sei, weil die Interessenabwägung zum Nachteil des Beschwerdeführers ausgehe.
Unter einem Winkeladvokaten sei derjenige zu verstehen, der eine Sache entsprechend seinem Berufsstand nicht verantwortungsbewusst
zu vertreten befähigt sei. Die Äußerung sei für den Anlass vollkommen unangemessen und unnötig.
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4. In seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Meinungsfreiheit, seiner Berufsfreiheit
und seines Rechts auf rechtliches Gehör.
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5. Der Kläger des Ausgangsverfahrens hat sich zu der Verfassungsbeschwerde geäußert und hält sie für unbegründet und nicht
annahmefähig. Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen hat keine Stellungnahme abgegeben. Die Akten des Ausgangsverfahrens
haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.
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II.
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Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung
der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor
(§ 93c Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
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1. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet. Die angegriffenen
Urteile verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.
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a) Unter den Schutz der Meinungsfreiheit fallen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Werturteile und
Tatsachenbehauptungen, wenn und soweit sie zur Bildung von Meinungen beitragen (vgl. BVerfGE 85, 1 15>). Das Grundrecht auf
Meinungsfreiheit ist allerdings nicht vorbehaltlos gewährt. Es findet seine Schranke in den allgemeinen Gesetzen, zu denen
die hier von den Gerichten angewandten Vorschriften der § 823 Abs. 1, Abs. 2, § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB analog in Verbindung
mit Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG, § 185 StGB gehören. Auslegung und Anwendung dieser Vorschriften sind Sache der Fachgerichte,
die hierbei jedoch das eingeschränkte Grundrecht interpretationsleitend berücksichtigen müssen, damit dessen wertsetzender
Gehalt auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt (vgl. BVerfGE 7, 198 205 ff.>; 120, 180 199 f.>; stRspr). Dies
verlangt in der Regel eine Abwägung zwischen der Schwere der Persönlichkeitsbeeinträchtigung durch die Äußerung einerseits
und der Einbuße an Meinungsfreiheit durch ihr Verbot andererseits (vgl. BVerfGE 99, 185 196 f.>; 114, 339 348>). Das Ergebnis
der Abwägung ist verfassungsrechtlich nicht vorgegeben und hängt von den Umständen des Einzelfalls ab (vgl. BVerfGE 85, 1
16>; 99, 185 196>). Das Bundesverfassungsgericht ist auf eine Nachprüfung begrenzt, ob die Zivilgerichte den Grundrechtseinfluss
ausreichend beachtet haben (vgl. BVerfGE 101, 361 388>).
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Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit sind verkannt, wenn eine Äußerung unzutreffend als Tatsachenbehauptung, Formalbeleidigung
oder Schmähkritik eingestuft wird mit der Folge, dass sie dann nicht im selben Maß am Schutz des Grundrechts teilnimmt wie
Äußerungen, die als Werturteil ohne beleidigenden oder schmähenden Charakter anzusehen sind (vgl. BVerfGE 85, 1 14>).
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Verfassungsrechtlich ist die Schmähung eng definiert. Sie liegt bei einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage
nur ausnahmsweise vor und ist eher auf die Privatfehde beschränkt (vgl. BVerfGE 93, 266 294>). Eine Schmähkritik ist dadurch
gekennzeichnet, dass nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht
(vgl. BVerfGE 82, 272 284>).
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b) Nach diesen Maßstäben haben die angegriffenen Entscheidungen verfassungsrechtlich keinen Bestand.
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aa) Die von dem Landgericht vorgenommene Einordnung der streitgegenständlichen Äußerung als Schmähkritik begegnet durchgreifenden
verfassungsrechtlichen Bedenken. Das Landgericht räumt selbst ein, dass die Äußerung anlässlich einer sachthemenbezogenen
Auseinandersetzung getätigt worden sei. Die Äußerung stellt eine etwaige Diffamierung des Klägers nicht in den Vordergrund,
sondern weist Sachbezug auf, indem der Beschwerdeführer den Außenauftritt des Klägers moniert. Dies wiederum steht in sachlichem
Bezug zu dem Arzthaftungsprozess, in den der Beschwerdeführer die E-Mail eingeführt hat, denn er wollte auf die Parallelität
der gesellschaftsrechtlichen Formen der Rechtsanwaltskanzlei des Klägers einerseits und der Arztpraxis von dessen Mandantschaft
andererseits und auf einen möglichen Interessenkonflikt hinweisen.
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bb) Das Oberlandesgericht lässt die Frage der Schmähkritik offen und führt die gebotene Interessenabwägung zwar durch, berücksichtigt
dabei aber wesentliche Aspekte nicht und verkennt deshalb das Gewicht der Meinungsfreiheit.
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Zutreffend ist allerdings die Einschätzung des Oberlandesgerichts, dass durch den Begriff "Winkeladvokatur" in das allgemeine
Persönlichkeitsrecht des Klägers eingegriffen wird. Denn er insinuiert, dass der Kläger ein Rechtsanwalt sei, der eine geringe
fachliche Eignung aufweist und dessen Seriosität zweifelhaft ist. Dies setzt ihn in seiner Persönlichkeit herab.
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Das Oberlandesgericht gewichtet indes nicht stark genug, dass die Äußerung zunächst nur gegenüber der Rechtsanwaltskammer
getätigt und dann in einen Zivilprozess eingeführt wurde, in dem nur die Prozessbeteiligten und das Gericht von ihr Kenntnis
nehmen konnten. Das Oberlandesgericht befasst sich zwar recht ausführlich mit der Frage der Privilegierung der Äußerung, wird
aber dem Ausnahmecharakter der Unzulässigkeit von Äußerungen in einem gerichtlichen Verfahren nicht gerecht. Denn Rechtsschutz
gegenüber Prozessbehauptungen ist nur gegeben, wenn die Unhaltbarkeit der Äußerung auf der Hand liegt oder sich ihre Mitteilung
als missbräuchlich darstellt (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 28. März 2000 - 2 BvR 1392/96 -,
NJW 2000, S. 3196 3198>). Die bloße "Unangemessenheit" und "Unnötigkeit" der Äußerung, auf die das Oberlandesgericht rekurriert,
reichen dafür nicht aus.
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Das Oberlandesgericht räumt dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Klägers ein übermäßiges Gewicht ein, indem es schon in
der internen Verwendung eines ehrenrührigen Begriffs den Grund für ein Überwiegen seiner grundrechtlich geschützten Interessen
sieht. Das Oberlandesgericht hat nicht hinreichend in seine Erwägungen eingestellt, dass der Vorwurf des Winkeladvokaten nur
eine begrenzt gewichtige Herabsetzung allein in der beruflichen Ehre bedeutet und den Kläger damit lediglich in seiner Sozialsphäre
betrifft, zumal der Beschwerdeführer sich wörtlich allein auf die Kanzlei und nicht auf die Person bezogen und den Begriff
Winkeladvokatur in Anführungszeichen gesetzt hat. Insgesamt haben die Fachgerichte verkannt, dass die Verurteilung zur Unterlassung
einer Äußerung im Interesse des Schutzes der Meinungsfreiheit auf das zum Rechtsgüterschutz unbedingt Erforderliche beschränkt
werden muss (vgl. BVerfGK 2, 325 329>), nicht aber den Zweck hat, die sachliche Richtigkeit oder Angemessenheit der betreffenden
Meinungsäußerung in dem Sinne zu gewährleisten, dass zur Wahrung allgemeiner Höflichkeitsformen überspitzte Formulierungen
ausgeschlossen werden.
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2. Bezüglich der übrigen Grundrechtsrügen des Beschwerdeführers wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Von einer Begründung wird insoweit abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).
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3. Die angegriffenen Urteile beruhen auf den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Fehlern. Es ist nicht auszuschließen, dass
das Landgericht bei erneuter Befassung zu einer anderen Entscheidung in der Sache kommen wird.
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4. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers folgt aus § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG.
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5. Die Festsetzung des Gegenstandswerts der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren beruht auf § 37
Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG.