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EuGH 23.03.2023 - C-365/21
EuGH 23.03.2023 - C-365/21 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer) - 23. März 2023 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen – Art. 54 – Grundsatz ne bis in idem – Art. 55 Abs. 1 Buchst. b – Ausnahme von der Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem – Gegen die Sicherheit des Mitgliedstaats oder andere seiner gleichermaßen wesentliche Interessen gerichtete Straftat – Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Grundsatz ne bis in idem – Art. 52 Abs. 1 – Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem – Vereinbarkeit von nationalen Erklärungen, die eine Ausnahme vom Grundsatz ne bis in idem vorsehen – Kriminelle Vereinigung – Vermögensdelikte“
Leitsatz
In der Rechtssache C-365/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Oberlandesgericht Bamberg (Deutschland) mit Entscheidung vom 4. Juni 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Juni 2021, in dem Strafverfahren gegen
MR
Beteiligte:
Generalstaatsanwaltschaft Bamberg
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan (Berichterstatter), der Richterin L. S. Rossi sowie der Richter D. Gratsias, M. Ilešič und I. Jarukaitis,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: S. Beer, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. Juli 2022,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
von MR, vertreten durch Rechtsanwälte S. Buhlmann und F. Ufer,
der Generalstaatsanwaltschaft Bamberg, vertreten durch N. Goldbeck als Bevollmächtigten,
der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, F. Halabi, M. Hellmann und U. Kühne als Bevollmächtigte,
der französischen Regierung, vertreten durch A. Daniel und A.-L. Desjonquères als Bevollmächtigte,
der österreichischen Regierung, vertreten durch M. Augustin, A. Posch, J. Schmoll und K. Steininger als Bevollmächtigte,
der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Oktober 2022
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft zum einen die Gültigkeit von Art. 55 Abs. 1 Buchst. b des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19), das am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichnet wurde und am 26. März 1995 in Kraft getreten ist (im Folgenden: SDÜ), im Hinblick auf Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie zum anderen die Auslegung der Art. 54 und 55 SDÜ sowie der Art. 50 und 52 der Charta.
Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens, das in Deutschland wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung und Anlagebetrugs gegen MR eingeleitet wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
SDÜ
Das SDÜ wurde geschlossen, um die Durchführung des am 14. Juni 1985 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 13) sicherzustellen.
Die Art. 54 bis 56 des Durchführungsübereinkommens finden sich in Kapitel 3 („Verbot der Doppelbestrafung“) des Titels III („Polizei und Sicherheit“) dieses Übereinkommens. Art. 54 SDÜ sieht vor:
„Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.“
Art. 55 SDÜ bestimmt:
„(1) Eine Vertragspartei kann bei der Ratifikation, der Annahme oder der Genehmigung dieses Übereinkommens erklären, dass sie in einem oder mehreren der folgenden Fälle nicht durch Artikel 54 gebunden ist:
…
wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, eine gegen die Sicherheit des Staates oder andere gleichermaßen wesentliche Interessen dieser Vertragspartei gerichtete Straftat darstellt;
…
(2) Eine Vertragspartei, die eine solche Erklärung betreffend eine der in Absatz 1 Buchstabe b) genannten Ausnahmen abgibt, bezeichnet die Arten von Straftaten, auf die solche Ausnahmen Anwendung finden können.
…“
Art. 56 SDÜ lautet:
„Wird durch eine Vertragspartei eine erneute Verfolgung gegen eine Person eingeleitet, die bereits durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat rechtskräftig abgeurteilt wurde, so wird jede in dem Hoheitsgebiet der zuletzt genannten Vertragspartei wegen dieser Tat erlittene Freiheitsentziehung auf eine etwa zu verhängende Sanktion angerechnet. Soweit das nationale Recht dies erlaubt, werden andere als freiheitsentziehende Sanktionen ebenfalls berücksichtigt, sofern sie bereits vollstreckt wurden.“
Rahmenbeschluss 2008/841/JI
Der erste Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2008/841/JI des Rates vom 24. Oktober 2008 zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität (ABl. 2008, L 300, S. 42) lautet:
„Ziel des Haager Programms ist die Verbesserung der gemeinsamen Fähigkeit der [Europäischen] Union und ihrer Mitgliedstaaten unter anderem zum Kampf gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität. Dieses Ziel muss insbesondere im Wege der Rechtsangleichung verwirklicht werden. Um der von kriminellen Vereinigungen ausgehenden Gefahr und der Ausbreitung dieser Vereinigungen zu begegnen und den Erwartungen der Bürger und den eigenen Bedürfnissen der Mitgliedstaaten zu entsprechen, ist eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen der [Union] und ihren Mitgliedstaaten erforderlich. Wie der Europäische Rat unter Nr. 14 der Schlussfolgerungen seiner Tagung vom 4. und 5. November 2004 in Brüssel in diesem Zusammenhang festgestellt hat, erwarten die Bürger Europas von der [Union], dass sie grenzüberschreitenden Problemen wie der organisierten Kriminalität mit einem effizienteren, gemeinsamen Konzept entgegentritt, wobei die Achtung der Grundfreiheiten und Grundrechte gewährleistet sein muss.“
In Art. 2 („Straftaten im Zusammenhang mit der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung“) dieses Rahmenbeschlusses heißt es:
„Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um eine oder beide der folgenden Verhaltensweisen im Zusammenhang mit einer kriminellen Vereinigung als Straftatbestände zu bewerten:
das Verhalten einer Person, die sich vorsätzlich und in Kenntnis entweder des Ziels und der allgemeinen Tätigkeit der kriminellen Vereinigung oder der Absicht der Vereinigung, die betreffenden Straftaten zu begehen, aktiv an den kriminellen Tätigkeiten der Vereinigung beteiligt, einschließlich durch Bereitstellung von Informationen oder materiellen Mitteln, Anwerbung neuer Mitglieder oder durch jegliche Art der Finanzierung der Tätigkeiten der Vereinigung, und sich bewusst ist, dass diese Beteiligung zur Durchführung der kriminellen Tätigkeiten der Vereinigung beiträgt;
das Verhalten einer Person, das darin besteht, mit einer oder mehreren Personen eine Vereinbarung über die Ausübung einer Tätigkeit zu treffen, die, falls durchgeführt, der Begehung von in Artikel 1 genannten Straftaten gleichkäme – auch wenn diese Person nicht an der tatsächlichen Durchführung der Tätigkeit beteiligt ist.“
Art. 3 („Sanktionen“) des Rahmenbeschlusses sieht vor:
„(1) Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass
die in Artikel 2 Buchstabe a genannte Straftat mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens zwei bis fünf Jahren bedroht wird oder
die in Artikel 2 Buchstabe b genannte Straftat mit einer Freiheitsstrafe in demselben Höchstmaß wie die Straftat, auf die sich die Vereinbarung bezieht, oder mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens zwei bis fünf Jahren bedroht wird.
(2) Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Tatsache, dass die von diesem Mitgliedstaat festgelegten Straftaten nach Artikel 2 im Rahmen einer kriminellen Vereinigung begangen wurden, als erschwerender Umstand betrachtet werden kann.“
Deutsches Recht
Bei der Ratifikation des SDÜ erließ die Bundesrepublik Deutschland gemäß dessen Art. 55 Abs. 1 eine Bekanntmachung (BGBl. 1994 II, S. 631), in der u. a. vorgesehen ist, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht durch die Bestimmungen von Art. 54 SDÜ gebunden ist, wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil nach Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ zugrunde lag, eine Straftat nach § 129 des Strafgesetzbuchs (im Folgenden: StGB) darstellt.
§ 129 StGB („Bildung krimineller Vereinigungen“) in der für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung bestimmt:
Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine Vereinigung gründet oder sich an einer Vereinigung als Mitglied beteiligt, deren Zweck oder Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten gerichtet ist, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bedroht sind. Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine solche Vereinigung unterstützt oder für sie um Mitglieder oder Unterstützer wirbt.
Eine Vereinigung ist ein auf längere Dauer angelegter, von einer Festlegung von Rollen der Mitglieder, der Kontinuität der Mitgliedschaft und der Ausprägung der Struktur unabhängiger organisierter Zusammenschluss von mehr als zwei Personen zur Verfolgung eines übergeordneten gemeinsamen Interesses.
…
In besonders schweren Fällen des Absatzes 1 Satz 1 ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter zu den Rädelsführern oder Hintermännern der Vereinigung gehört.“
In § 129b („Kriminelle und terroristische Vereinigungen im Ausland; Einziehung“) Abs. 1 StGB heißt es:
„Die §§ 129 und 129a gelten auch für Vereinigungen im Ausland. Bezieht sich die Tat auf eine Vereinigung außerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, so gilt dies nur, wenn sie durch eine im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes ausgeübte Tätigkeit begangen wird oder wenn der Täter oder das Opfer Deutscher ist oder sich im Inland befindet. In den Fällen des Satzes 2 wird die Tat nur mit Ermächtigung des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz verfolgt. Die Ermächtigung kann für den Einzelfall oder allgemein auch für die Verfolgung künftiger Taten erteilt werden, die sich auf eine bestimmte Vereinigung beziehen. Bei der Entscheidung über die Ermächtigung zieht das Ministerium in Betracht, ob die Bestrebungen der Vereinigung gegen die Grundwerte einer die Würde des Menschen achtenden staatlichen Ordnung oder gegen das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet sind und bei Abwägung aller Umstände als verwerflich erscheinen.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
MR, ein zuletzt in Österreich wohnhafter israelischer Staatsangehöriger, wurde am 1. September 2020 vom Landesgericht Wien (Österreich) wegen gewerbsmäßigen schweren Betrugs und Geldwäscherei zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt.
MR verbüßte einen Teil dieser Freiheitsstrafe, bevor deren Rest ab dem 29. Januar 2021 zur Bewährung ausgesetzt wurde. MR wurde jedoch mit Entscheidung vom selben Tag aufgrund eines Europäischen Haftbefehls des Amtsgerichts Bamberg (Deutschland) vom 11. Dezember 2020 wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung und Anlagebetrug in österreichische Übergabehaft genommen. Nach Auslaufen des Haftzeitraums am 18. Mai 2021 wurde er in Abschiebehaft mit dem Ziel Israel genommen, wo er sich zum Zeitpunkt der Vorlage des Vorabentscheidungsersuchens befunden haben soll.
Gemäß dem gegen MR ausgestellten Europäischen Haftbefehl wird diesem zur Last gelegt, zusammen mit weiteren Mitbeschuldigten ein betrügerisches Anlagesystem geschaffen zu haben, in dessen Rahmen in verschiedenen europäischen Ländern, darunter auch in Deutschland und Österreich, wohnhaften Anlegern über das Internet chancenreiche Anlagen angeboten wurden. In Wirklichkeit wurden die eingezahlten Beträge u. a. zugunsten von MR, einem der Rädelsführer der fraglichen kriminellen Vereinigung, veruntreut.
Mit Beschluss vom 8. März 2021 wurden die Beschwerden von MR gegen den Europäischen Haftbefehl und den diesem zugrunde liegenden nationalen Haftbefehl vom Landgericht Bamberg (Deutschland) mit der Begründung verworfen, dass die Aburteilung von MR durch das Landesgericht Wien nur wegen der Betrugsstraftaten zum Nachteil der Geschädigten in Österreich erfolgt sei, während MR derzeit vor dem Landgericht Bamberg wegen Betrugs gegen in Deutschland wohnhafte Geschädigte verfolgt werde. Daher seien die Sachverhalte dieser beiden Verfahren unterschiedlich, so dass der in Art. 54 SDÜ vorgesehene Grundsatz ne bis in idem keine Anwendung finde.
Hilfsweise verwies das Landgericht Bamberg mit dem Hinweis, dass MR wegen einer Straftat nach § 129 StGB verfolgt werde, welche von der Erklärung der Bundesrepublik Deutschland bei der Ratifikation des SDÜ erfasst sei, auf Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ.
MR erhob gegen den Beschluss eine weitere Beschwerde zum Oberlandesgericht Bamberg (Deutschland), dem vorlegenden Gericht.
In Anbetracht der Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 54 SDÜ äußert das vorlegende Gericht Zweifel, ob der Sachverhalt, für den MR in Österreich abgeurteilt wurde, mit demjenigen identisch ist, für den er in Deutschland verfolgt wird.
Das vorlegende Gericht ist jedoch der Auffassung, dass Art. 54 SDÜ für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits nicht zwangsläufig beachtlich sei. MR werde nämlich wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung verfolgt. Diese in § 129 StGB vorgesehene Straftat sei von der Erklärung der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 55 Abs. 1 SDÜ erfasst, wonach ein Mitgliedstaat in Anwendung von Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ die Möglichkeit habe, zu erklären, dass er nicht durch Art. 54 SDÜ gebunden ist, wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, eine gegen seine Sicherheit oder andere seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen gerichtete Straftat darstellt.
Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, dass es sich bei den in § 129 StGB genannten Straftaten grundsätzlich um Straftaten handle, die gegen wesentliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gerichtet seien. Die bloße Existenz krimineller Vereinigungen stelle ein Gefahrenpotenzial für den öffentlichen Frieden dar, das aufgrund der massierten Bedrohung der Allgemeinheit durch die organisierte Kriminalität eine andere Qualität aufweise als deliktische Einzelaktionen. So sei es für die Beurteilung, ob eine kriminelle Vereinigung die Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats oder andere seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen gefährde, unerheblich, dass diese kriminelle Vereinigung ausschließlich Vermögenskriminalität betreibe und darüber hinaus keine politischen, ideologischen, religiösen oder weltanschaulichen Ziele verfolge oder mit unlauteren Mitteln Einfluss auf Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft gewinnen wolle.
Die Frage der Vereinbarkeit der Erklärung der Bundesrepublik Deutschland mit Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ stelle sich jedoch nur, falls zuvor festgestellt werde, dass die dort eingeräumte Möglichkeit ihrerseits mit Art. 50 der Charta vereinbar sei.
Unter diesen Umständen hat das Oberlandesgericht Bamberg beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist Art. 55 SDÜ insoweit mit Art. 50 der Charta vereinbar und noch gültig, als er vom Verbot der Doppelverfolgung die Ausnahme zulässt, dass eine Vertragspartei bei der Ratifikation, der Annahme oder der Genehmigung dieses Übereinkommens erklären kann, dass sie nicht durch Art. 54 SDÜ gebunden ist, wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, eine gegen die Sicherheit des Staates oder andere gleichermaßen wesentliche Interessen dieser Vertragspartei gerichtete Straftat darstellt?
Für den Fall, dass Frage 1 bejaht wird:
Stehen die Art. 54 und 55 SDÜ sowie Art. 50 und 52 der Charta einer Auslegung der von der Bundesrepublik Deutschland bei der Ratifikation des SDÜ in Bezug auf § 129 StGB abgegebenen Erklärung durch die deutschen Gerichte dahin gehend entgegen, dass von der Erklärung auch solche kriminellen Vereinigungen – wie die im Ausgangsverfahren vorliegende – erfasst werden, die ausschließlich Vermögenskriminalität betreiben und darüber hinaus keine politischen, ideologischen, religiösen oder weltanschaulichen Ziele verfolgen und auch nicht mit unlauteren Mitteln Einfluss auf Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft gewinnen wollen?
Verfahren vor dem Gerichtshof
Das vorlegende Gericht hat beantragt, die Rechtssache nach Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen. Hilfsweise hat es beantragt, die Rechtssache gemäß Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung dem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen.
Was erstens den Antrag auf Anwendung des Eilvorabentscheidungsverfahrens betrifft, hat die Fünfte Kammer auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts am 7. Juli 2021 entschieden, dass diesem Antrag nicht stattzugeben ist, da die in Art. 107 der Verfahrensordnung vorgesehenen Voraussetzungen für die Dringlichkeit nicht erfüllt sind.
Was zweitens den Antrag auf Anwendung des beschleunigten Verfahrens angeht, hat der Präsident des Gerichtshofs nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts entschieden, diesem Antrag nicht stattzugeben.
In Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist nämlich vorgesehen, dass, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert, der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden kann, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen.
Zum einen stellt aber die Rechtsunsicherheit bei einer gesuchten Person wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden keinen außergewöhnlichen Umstand dar, der geeignet wäre, die Durchführung eines beschleunigten Verfahrens zu rechtfertigen (Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 23. Dezember 2015, Vilkas, C-640/15, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:862, Rn. 10 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Zum anderen vermag der Umstand, dass sich ein Vorabentscheidungsersuchen auf die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls bezieht, es für sich genommen nicht zu rechtfertigen, die Rechtssache einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, und die Tatsache, dass sich der Betroffene derzeit nicht in Haft befindet, stellt einen Grund dar, einem Antrag auf ein beschleunigtes Verfahren nicht stattzugeben (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 20. September 2018, Minister for Justice and Equality, C-508/18 und C-509/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:766, Rn. 11 und 13 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
Zu den Vorlagefragen
Einleitende Bemerkungen
Dem Vorabentscheidungsersuchen lässt sich entnehmen, dass das vorlegende Gericht nicht nur Zweifel hinsichtlich der in Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ vorgesehenen Ausnahme vom Grundsatz ne bis in idem hegt, sondern auch unsicher ist, ob die Strafverfolgung des Beschwerdeführers des Ausgangsverfahrens unter diesen Grundsatz fällt.
Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei diesem Grundsatz um einen tragenden Grundsatz des Unionsrechts handelt, der nunmehr in Art. 50 der Charta niedergelegt ist (Urteil vom 28. Oktober 2022, Generalstaatsanwaltschaft München [Auslieferung und ne bis in idem], C-435/22 PPU, EU:C:2022:852, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Außerdem ergibt sich der Grundsatz ne bis in idem, der auch in Art. 54 SDÜ verankert ist, aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten. Diese Bestimmung ist mithin im Licht von Art. 50 der Charta auszulegen; sie gewährleistet, dass dessen Wesensgehalt gewahrt wird (Urteil vom 28. Oktober 2022, Generalstaatsanwaltschaft München [Auslieferung und ne bis in idem], C-435/22 PPU, EU:C:2022:852, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Art. 50 der Charta bestimmt, dass „[n]iemand … wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden [darf]“. So setzt die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem zweierlei voraus, nämlich zum einen, dass es eine frühere endgültige Entscheidung gibt (Voraussetzung „bis“), und zum anderen, dass bei der früheren Entscheidung und bei den späteren Verfolgungsmaßnahmen oder Entscheidungen auf denselben Sachverhalt abgestellt wird (Voraussetzung „idem“) (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C-117/20, EU:C:2022:202, Rn. 28).
Was im Einzelnen die Voraussetzung „idem“ betrifft, ergibt sich schon aus dem Wortlaut von Art. 50 der Charta, dass dieser es verbietet, dieselbe Person mehr als einmal wegen derselben Straftat in einem Strafverfahren zu verfolgen oder zu bestrafen (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C-117/20, EU:C:2022:202, Rn. 31).
Hierzu ist in Anbetracht der vom vorlegenden Gericht gemachten Angaben sowie der Ausführungen der Beteiligten sowohl in ihren schriftlichen Erklärungen als auch in der mündlichen Verhandlung daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung für die Beurteilung, ob es sich um dieselbe Straftat im Sinne von Art. 50 der Charta handelt, das Kriterium der Identität der materiellen Tat maßgebend ist, verstanden als das Vorliegen einer Gesamtheit konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände, die zum Freispruch oder zur rechtskräftigen Verurteilung des Betroffenen geführt haben. Diese Bestimmung verbietet es somit, wegen derselben Tat mehrere Sanktionen strafrechtlicher Natur am Ende verschiedener zu diesem Zweck durchgeführter Verfahren zu verhängen (Urteil vom 28. Oktober 2022, Generalstaatsanwaltschaft München [Auslieferung und ne bis in idem], C-435/22 PPU, EU:C:2022:852, Rn. 128 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Ferner ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ebenfalls, dass die rechtliche Einordnung der Tat nach nationalem Recht und das geschützte Rechtsgut für die Feststellung, ob dieselbe Straftat vorliegt, nicht erheblich sind, da die Reichweite des in Art. 50 der Charta gewährten Schutzes nicht von einem Mitgliedstaat zum anderen unterschiedlich sein kann (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C-117/20, EU:C:2022:202, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass die Voraussetzung „idem“ eine identische materielle Tat erfordert. Folglich findet der Grundsatz ne bis in idem keine Anwendung, wenn der fragliche Sachverhalt nicht identisch, sondern nur ähnlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Oktober 2022, Generalstaatsanwaltschaft München [Auslieferung und ne bis in idem], C-435/22 PPU, EU:C:2022:852, Rn. 129 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Wie der Gerichtshof ausgeführt hat, ist die Identität der materiellen Tat als die Gesamtheit der konkreten Umstände zu verstehen, die sich aus Ereignissen ergeben, bei denen es sich im Wesentlichen um dieselben handelt, da dieselbe Person gehandelt hat und sie zeitlich sowie räumlich unlösbar miteinander verbunden sind (Urteil vom 28. Oktober 2022, Generalstaatsanwaltschaft München [Auslieferung und ne bis in idem], C-435/22 PPU, EU:C:2022:852, Rn. 130 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Die Prüfung, ob es sich bei den Taten, die Gegenstand der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Strafverfolgung sind, um dieselben handelt wie diejenigen, die von den österreichischen Gerichten rechtskräftig abgeurteilt worden sind, obliegt dem für die Tatsachenfeststellungen allein zuständigen vorlegenden Gericht und nicht dem Gerichtshof. Gleichwohl kann der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts im Rahmen der Beurteilung der Identität der Taten geben (Urteil vom 28. Oktober 2022, Generalstaatsanwaltschaft München [Auslieferung und ne bis in idem], C-435/22 PPU, EU:C:2022:852, Rn. 133 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Dem Vorabentscheidungsersuchen lässt sich entnehmen, dass der Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens eine kriminelle Vereinigung von grenzüberschreitendem Ausmaß gebildet und sich an ihr beteiligt haben soll, diese Vereinigung nach einem ausgeklügelten Modus operandi vorgegangen sein soll und ihre Machenschaften bei tausenden von Opfern erhebliche Vermögensschäden verursacht haben sollen, wobei die geschädigten Personen u. a. in Deutschland und in Österreich wohnten.
Nach den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen wurde der Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens in Österreich rechtskräftig wegen „gewerbsmäßigen schweren Betrugs und Geldwäscherei“ verurteilt.
In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass der Unionsgesetzgeber der Bekämpfung der organisierten Kriminalität eine besondere Bedeutung beimisst, wie dies aus dem ihr gewidmeten Rahmenbeschluss 2008/841 hervorgeht. In dessen erstem Erwägungsgrund heißt es nämlich u. a., dass eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten erforderlich ist, um der von kriminellen Vereinigungen ausgehenden Gefahr und der Ausbreitung dieser Vereinigungen zu begegnen und den Erwartungen der Bürger und den eigenen Bedürfnissen der Mitgliedstaaten zu entsprechen. So verpflichten die Art. 2 und 3 dieses Rahmenbeschlusses die Mitgliedstaaten, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um zum einen Verhaltensweisen, die im Zusammenhang mit einer kriminellen Vereinigung stehen, als Straftatbestände zu bewerten und zum anderen sicherzustellen, dass diese Straftaten mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens zwei bis fünf Jahren bedroht werden.
Unter diesen Umständen wird das vorlegende Gericht für die Klärung der Frage, ob der Grundsatz ne bis in idem auf das bei ihm anhängige Verfahren anzuwenden ist, insbesondere zu beurteilen haben, inwieweit die vom Landesgericht Wien bereits gegen den Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens ausgesprochene Verurteilung auf demselben Sachverhalt beruht wie dem, der ihm in dem vom Amtsgericht Bamberg gegen ihn ausgestellten Europäischen Haftbefehl vorgeworfen wird, oder ob sich die Verurteilung vielmehr, wie u. a. in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof angesprochen, lediglich auf betrügerische Handlungen gegen in Österreich wohnhafte Geschädigte bezog, nicht aber auf Handlungen zum Nachteil von in Deutschland wohnhaften Personen. Im zweiten Fall kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich die frühere rechtskräftige österreichische Entscheidung über den Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens auf denselben Sachverhalt bezieht, dessentwegen in Deutschland ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet wurde. Es dürfte allenfalls angenommen werden, dass sich die frühere Entscheidung auf einen ähnlichen Sachverhalt bezieht, was jedoch, wie sich aus der in Rn. 37 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, nicht ausreicht, um die Voraussetzung „idem“ als erfüllt anzusehen.
Die Fragen des vorlegenden Gerichts sind vorbehaltlich dieser einleitenden Bemerkungen zu beantworten.
Zur ersten Frage
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ, soweit darin zugelassen wird, dass ein Mitgliedstaat erklärt, nicht durch Art. 54 SDÜ gebunden zu sein, wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, eine gegen die Sicherheit dieses Mitgliedstaats oder andere seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen gerichtete Straftat darstellt, im Hinblick auf Art. 50 der Charta gültig ist.
Wie in den Rn. 31 und 32 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ist der Grundsatz ne bis in idem in Art. 54 SDÜ, das durch das dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft durch den Vertrag von Amsterdam beigefügte Protokoll zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Europäischen Union (ABl. 1997, C 340, S. 93) in das Unionsrecht eingefügt wurde, wie auch in Art. 50 der Charta niedergelegt.
Somit stellt die in Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ vorgesehene Möglichkeit eines Mitgliedstaats, von diesem Grundsatz abzuweichen, wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, eine gegen die Sicherheit dieses Mitgliedstaats oder andere seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen gerichtete Straftat darstellt, eine Einschränkung des in Art. 50 der Charta garantierten Grundrechts dar.
Eine solche Einschränkung kann allerdings auf der Grundlage von Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt werden (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C-117/20, EU:C:2022:202, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta muss jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 dürfen Einschränkungen dieser Rechte und Freiheiten unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.
Im vorliegenden Fall ist die Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem erstens als gesetzlich vorgesehen anzusehen, da sie sich aus Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ ergibt (vgl. entsprechend Urteil vom 27. Mai 2014, Spasic, C-129/14 PPU, EU:C:2014:586, Rn. 57).
Das Erfordernis, wonach jede Einschränkung der Grundrechtsausübung gesetzlich vorgesehen sein muss, impliziert, dass die gesetzliche Grundlage für den Grundrechtseingriff den Umfang, in dem die Ausübung des betreffenden Rechts eingeschränkt wird, selbst festlegen muss, deckt sich aber insoweit weitgehend mit den Anforderungen an Klarheit und Genauigkeit, die sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben, anhand dessen diese Grundlage zu prüfen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2022, BV, C-570/20, EU:C:2022:348, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Zweitens ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass eine Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem den Wesensgehalt von Art. 50 der Charta wahrt, wenn diese Einschränkung ausschließlich darin besteht, denselben Sachverhalt erneut zu verfolgen und zu ahnden, um ein anderes Ziel zu verfolgen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. März 2022, bpost, C-117/20, EU:C:2022:202, Rn. 43).
Insoweit gilt nach dem Wortlaut von Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ die dort vorgesehene Ausnahme von diesem Grundsatz nur dann, wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, eine gegen die Sicherheit des Mitgliedstaats, der von dieser Ausnahme Gebrauch machen möchte, oder andere seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen gerichtete Straftat darstellt.
Ohne dass im vorliegenden Fall eine abschließende Definition erforderlich wäre, was von dem Begriff der „Sicherheit des Staates“ umfasst ist, ist dieser Begriff jedenfalls, wie der Generalanwalt in Nr. 60 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, dem Begriff der „nationalen Sicherheit“ anzugleichen, der u. a. in Art. 4 Abs. 2 EUV verwendet wird.
Zu dem zuletzt genannten Begriff hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass das Ziel der Wahrung der nationalen Sicherheit dem zentralen Anliegen entspricht, die wesentlichen Funktionen des Staates und die grundlegenden Interessen der Gesellschaft durch die Verhütung und Ahndung von Tätigkeiten zu schützen, die geeignet sind, die tragenden Strukturen eines Landes im Bereich der Verfassung, Politik oder Wirtschaft oder im sozialen Bereich in schwerwiegender Weise zu destabilisieren und insbesondere die Gesellschaft, die Bevölkerung oder den Staat als solchen unmittelbar zu bedrohen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a., C-511/18, C-512/18 und C-520/18, EU:C:2020:791, Rn. 135, sowie vom 20. September 2022, SpaceNet und Telekom Deutschland, C-793/19 und C-794/19, EU:C:2022:702, Rn. 92 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
Daraus ergibt sich, dass die Straftaten, für die Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ eine Ausnahme vom Grundsatz ne bis in idem zulässt, da sie die Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats beeinträchtigen, neben ihrer besonderen Schwere diesen Mitgliedstaat selbst betreffen müssen. Das Gleiche gilt für die übrigen in dieser Bestimmung genannten Interessen des Mitgliedstaats. Da sie für diesen Mitgliedstaat gleichermaßen wesentlich wie seine Sicherheit sein müssen, müssen sie nämlich von einer seiner Sicherheit vergleichbaren Bedeutung sein und folglich dem Mitgliedstaat ebenso immanent sein.
Soweit Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ für einen Mitgliedstaat die Möglichkeit vorsieht, für eine gegen seine Sicherheit oder andere seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen gerichtete Straftat eine Ausnahme vom Grundsatz ne bis in idem zuzulassen, wahrt diese Bestimmung daher den Wesensgehalt dieses Grundsatzes, da sie diesem Mitgliedstaat ermöglicht, Straftaten zu ahnden, die ihn selbst betreffen, und damit Ziele zu verfolgen, die sich zwangsläufig von denen unterscheiden, aus denen die verfolgte Person bereits in einem anderen Mitgliedstaat abgeurteilt wurde.
Drittens entspricht die in Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ vorgesehene Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem in Anbetracht der Bedeutung der Ahndung von Beeinträchtigungen der Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats oder anderer seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung.
Was viertens den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angeht, so verlangt dieser Grundsatz, dass die Einschränkungen, die insbesondere durch Unionsrechtsakte an den in der Charta niedergelegten Rechten und Freiheiten vorgenommen werden können, nicht über die Grenzen dessen hinausgehen, was zur Erreichung der verfolgten legitimen Ziele oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer geeignet und erforderlich ist, wobei, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist. Außerdem kann eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung nicht verfolgt werden, ohne dem Umstand Rechnung zu tragen, dass sie mit den von der Maßnahme betroffenen Grundrechten in Einklang gebracht werden muss, indem eine ausgewogene Gewichtung der dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung und der fraglichen Rechte vorgenommen wird, damit die durch diese Maßnahme bedingten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen. Daher ist die Möglichkeit, eine Einschränkung des in Art. 50 der Charta garantierten Grundsatzes ne bis in idem zu rechtfertigen, zu beurteilen, indem die Schwere des mit einer solchen Einschränkung verbundenen Eingriffs bestimmt und geprüft wird, ob die mit ihr verfolgte, dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung in angemessenem Verhältnis zur Schwere des Eingriffs steht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C-694/20, EU:C:2022:963, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Hierzu ist anzumerken, dass die in Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ vorgesehene Möglichkeit geeignet ist, die dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung der Ahndung von Beeinträchtigungen der Sicherheit eines Mitgliedstaats oder anderer seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen zu erreichen.
In Anbetracht der Art und der besonderen Schwere derartiger Beeinträchtigungen übersteigt die Bedeutung dieses dem Gemeinwohl dienenden Ziels das Ziel, die Kriminalität im Allgemeinen, auch schwere Kriminalität, zu bekämpfen. Vorbehaltlich der Erfüllung der übrigen in Art. 52 Abs. 1 der Charta vorgesehenen Anforderungen ist ein solches Ziel daher geeignet, Maßnahmen zu rechtfertigen, die Grundrechtseingriffe enthalten, die nicht erlaubt wären, um Straftaten im Allgemeinen zu verfolgen und zu ahnden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a., C-511/18, C-512/18 und C-520/18, EU:C:2020:791, Rn. 136, und vom 5. April 2022, Commissioner of the Garda Síochána u. a., C-140/20, EU:C:2022:258, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Dies ist u. a. bei einer Maßnahme der Fall, nach der für einen Mitgliedstaat die Möglichkeit besteht, eine Erklärung abzugeben, bei der Verfolgung und Ahndung von Taten, die eine gegen seine Sicherheit oder andere seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen gerichtete Straftat darstellen, nicht durch den Grundsatz ne bis in idem gebunden zu sein, wenn die Taten bereits Gegenstand eines ausländischen Urteils waren. Insoweit ist auch darauf hinzuweisen, dass Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ aufgrund seines besonderen Zwecks nur sachlich beschränkte Ausnahmen von diesem Grundsatz zulässt.
Zudem ist im Hinblick auf die zwingende Erforderlichkeit der in dieser Bestimmung vorgesehenen Ausnahme vom angeführten Grundsatz zunächst festzustellen, dass Art. 55 Abs. 2 SDÜ verlangt, dass ein Mitgliedstaat, der eine Erklärung betreffend die in Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ genannten Ausnahme abgibt, die Arten von Straftaten, auf die diese Ausnahme Anwendung finden kann, bezeichnet. Somit müssen Mitgliedstaaten, die von dieser Ausnahme Gebrauch machen möchten, klare und präzise Regeln aufstellen, die es den Bürgern ermöglichen, vorherzusehen, für welche Handlungen und Unterlassungen eine erneute Strafverfolgung in Frage kommt, auch wenn sie bereits Gegenstand eines ausländischen Urteils waren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a., C-537/16, EU:C:2018:193, Rn. 51).
Weiterhin wird nach Art. 56 SDÜ, wenn ein Mitgliedstaat eine erneute Verfolgung gegen eine Person einleitet, die bereits durch einen anderen Mitgliedstaat wegen derselben Tat rechtskräftig abgeurteilt wurde, zum einen jede in dessen Hoheitsgebiet wegen dieser Tat erlittene Freiheitsentziehung auf eine etwa zu verhängende Sanktion angerechnet und zum anderen werden, soweit das nationale Recht dies erlaubt, andere als freiheitsentziehende Sanktionen ebenfalls berücksichtigt, sofern sie bereits vollstreckt wurden.
Somit ist die in Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ vorgesehene Möglichkeit, eine Ausnahme vom Grundsatz ne bis in idem zuzulassen, an Regeln gebunden, mit denen sichergestellt werden kann, dass die sich daraus für die Betroffenen ergebenden Belastungen auf das zur Erreichung des in Rn. 58 des vorliegenden Urteils genannte Ziel zwingend Erforderliche beschränkt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a., C-537/16, EU:C:2018:193, Rn. 54).
Eine derartige Möglichkeit geht folglich nicht über das hinaus, was geeignet und erforderlich ist, um einem Mitgliedstaat die Ahndung von Beeinträchtigungen seiner Sicherheit oder anderer seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen zu ermöglichen.
Nach alledem hat die Prüfung der ersten Frage nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ im Hinblick auf Art. 50 der Charta beeinträchtigen könnte.
Zur zweiten Frage
Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ in Verbindung mit Art. 50 und Art. 52 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer Praxis entgegensteht, nach der die Gerichte eines Mitgliedstaats die von diesem gemäß Art. 55 Abs. 1 SDÜ abgegebene Erklärung dahin auslegen, dass dieser Mitgliedstaat hinsichtlich der Straftat der Bildung einer kriminellen Vereinigung nicht an Art. 54 SDÜ gebunden ist, wenn die kriminelle Vereinigung, an der die verfolgte Person beteiligt war, ausschließlich Vermögensdelikte begangen hat.
Wenn ein Mitgliedstaat mit einer gemäß Art. 55 Abs. 1 SDÜ abgegebenen Erklärung von der Möglichkeit Gebrauch machen möchte, die in Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ vorgesehene Ausnahme vom Grundsatz ne bis in idem zu nutzen, indem er erklärt, für die bezeichneten Straftaten nicht an die Bestimmungen von Art. 54 SDÜ gebunden zu sein, kann eine solche Erklärung Art. 50 und Art. 52 Abs. 1 der Charta beachten, sofern die vom SDÜ hierfür vorgesehenen Anforderungen erfüllt sind, die – wie sich aus der Antwort auf die erste Frage ergibt – die Vereinbarkeit einer solchen Möglichkeit mit Art. 50 der Charta sicherstellen.
Somit ist zunächst klarzustellen, dass über die Frage nach der Bedeutung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Straftaten hinaus die in Rn. 63 des vorliegenden Urteils dargestellten Anforderungen erfüllt sein müssen. Zum Zeitpunkt der Ratifikation des SDÜ hat die Bundesrepublik Deutschland eine im Bundesgesetzblatt veröffentlichte Erklärung abgegeben, in der gemäß Art. 55 Abs. 2 SDÜ angegeben wird, dass sie durch Art. 54 SDÜ u. a. nicht gebunden ist, wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, den Straftatbestand von § 129 StGB erfüllt.
Damit steht fest, dass klare und präzise Regeln aufgestellt wurden, die es den Bürgern ermöglichen, vorherzusehen, für welche Handlungen und Unterlassungen eine erneute Strafverfolgung in Frage kommt, auch wenn sie bereits Gegenstand eines ausländischen Urteils waren. Dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts.
Hierzu ist klarzustellen, dass das Bestehen solcher Regeln nicht damit in Abrede gestellt werden kann, dass, wie u. a. die Republik Österreich in ihren schriftlichen Erklärungen geltend macht, diese Regeln die Durchführung von Recherchen notwendig machen, die ein gewisses juristisches Fachwissen voraussetzen.
Wie der Gerichtshof entschieden hat, ist nämlich der Umstand, dass der Betroffene zum einen neben dem Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen die Auslegung durch die nationalen Gerichte zu berücksichtigen hat und dass er zum anderen gezwungen ist, fachkundigen Rat einzuholen, um zu beurteilen, welche Folgen sich aus einer bestimmten Handlung ergeben können, für sich genommen nicht geeignet, die Klarheit und Genauigkeit der Regeln zu Ausnahmen vom Grundsatz ne bis in idem in Frage zu stellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2022, BV, C-570/20, EU:C:2022:348, Rn. 39 und 43).
In Ansehung dieser Vorbemerkungen ist hervorzuheben, dass die Strafverfolgung, die in Anwendung einer Erklärung eines Mitgliedstaats zur Umsetzung der in Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ vorgesehenen Möglichkeit einer Ausnahme von diesem Grundsatz durchgeführt wird, im Einklang mit dieser Bestimmung nur darauf gerichtet sein darf, Beeinträchtigungen der Sicherheit dieses Mitgliedstaats oder anderer seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen zu ahnden. Die nationalen Gerichte haben folglich zu prüfen, ob die Möglichkeit besteht, die gemäß Art. 55 Abs. 1 SDÜ abgegebene Erklärung des betreffenden Mitgliedstaats dahin auszulegen, dass eine nach dieser Bestimmung eingeleitete Strafverfolgung deren Anforderungen entspricht.
Hierzu ist erstens anzumerken, dass zum ersten Teil der in Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ vorgesehenen Ausnahme Straftaten wie Spionage, Hochverrat oder schwere Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit der öffentlichen Gewalt gehören, die schon ihrer Natur nach mit der Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats oder anderen seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen im Zusammenhang stehen.
Daraus lässt sich allerdings nicht ableiten, dass der Anwendungsbereich dieser Ausnahme zwingend auf derartige Straftaten beschränkt wäre. Es lässt sich nämlich nicht ausschließen, dass die Verfolgung von Straftaten, deren Tatbestand keine spezifische Beeinträchtigung der Sicherheit des Mitgliedstaats oder anderer seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen beinhaltet, ebenfalls unter diese Ausnahme fallen kann, wenn in Anbetracht der Umstände, unter denen die Straftat begangen wurde, mit hinreichender Gewissheit nachgewiesen werden kann, dass der Zweck der Strafverfolgung der in Rede stehenden Tat darauf ausgerichtet ist, Beeinträchtigungen der Sicherheit des Mitgliedstaats oder anderer seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen zu ahnden.
Zweitens muss – wie sich aus den Rn. 55, 56, 61 und 62 des vorliegenden Urteils ergibt – die Verfolgung einer Straftat, die in einer Erklärung bezeichnet ist, mit der von der in Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, soweit diese Verfolgung mit der Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats oder anderen seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen in Zusammenhang steht, eine Tat betreffen, die den betreffenden Mitgliedstaat selbst und besonders schwerwiegend beeinträchtigt.
Nicht jede kriminelle Vereinigung beeinträchtigt aber zwingend und als solche die Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats oder andere seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen. Somit darf die Straftat der Bildung einer kriminellen Vereinigung nur für solche Vereinigungen zu einer Strafverfolgung gemäß der Ausnahme von dem in Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ vorgesehenen Grundsatz ne bis in idem führen, deren Handlungen aufgrund von sie auszeichnenden Merkmalen als derartige Beeinträchtigungen eingestuft werden können.
Die vom vorlegenden Gericht aufgeworfenen Fragen beziehen sich in diesem Zusammenhang darauf, welche Relevanz dem Umstand beizumessen ist, dass eine kriminelle Vereinigung ausschließlich Vermögenskriminalität betreibt, ohne politische, ideologische, religiöse oder weltanschauliche Ziele zu verfolgen oder mit unlauteren Mitteln Einfluss auf Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft gewinnen zu wollen.
Hierzu ist zunächst klarzustellen, dass die in der vorstehenden Randnummer angeführten und auf die Ziele oder den angestrebten Einfluss bezogenen Merkmale ohne eine Berücksichtigung der Schwere der Schäden, die die Handlungen der kriminellen Vereinigung dem Mitgliedstaat zugefügt haben, nicht ausreichen können, um sie als eine Vereinigung einzustufen, die zwangsläufig die Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats oder andere seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen beeinträchtigt.
Weiterhin lässt sich nicht ausschließen, dass eine kriminelle Vereinigung, die ausschließlich Vermögenskriminalität betreibt, unter bestimmten Umständen die Sicherheit eines Mitgliedstaats oder andere seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen beeinträchtigt. Insoweit müssen die Straftaten, unabhängig von den tatsächlichen Zielen der Vereinigung und über die mit jeder Straftat verbundene Störung der öffentlichen Ordnung hinaus, den Mitgliedstaat selbst schädigen, damit die Handlungen dieser kriminellen Vereinigung als eine derartige Beeinträchtigung eingestuft werden können.
In Anbetracht der dem Gerichtshof vorliegenden Informationen ist trotz des Umfangs der Vermögensschäden bei den geschädigten Personen nicht ersichtlich, dass die Handlungen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden kriminellen Vereinigung bewirkt hätten, dass die Bundesrepublik Deutschland selbst geschädigt worden wäre, so dass die Handlungen der genannten kriminellen Vereinigung wohl nicht zu Straftaten zählen, die gegen die Sicherheit des Staates oder andere seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen gerichtet sind, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ in Verbindung mit Art. 50 und Art. 52 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer Praxis nicht entgegensteht, nach der die Gerichte eines Mitgliedstaats die von diesem gemäß Art. 55 Abs. 1 SDÜ abgegebene Erklärung dahin auslegen, dass dieser Mitgliedstaat hinsichtlich der Straftat der Bildung einer kriminellen Vereinigung nicht an Art. 54 SDÜ gebunden ist, wenn die kriminelle Vereinigung, an der die verfolgte Person beteiligt war, ausschließlich Vermögensdelikte begangen hat, sofern die Strafverfolgung in Anbetracht der Handlungen dieser Vereinigung Beeinträchtigungen der Sicherheit dieses Mitgliedstaats oder anderer seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen ahnden soll.
Kosten
Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:
Die Prüfung der ersten Vorlagefrage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 55 Abs. 1 Buchst. b des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten und am 26. März 1995 in Kraft getretenen Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen im Hinblick auf Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union beeinträchtigen könnte.
Art. 55 Abs. 1 Buchst. b des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen in Verbindung mit Art. 50 und Art. 52 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
ist dahin auszulegen, dass
er einer Praxis nicht entgegensteht, nach der die Gerichte eines Mitgliedstaats die von diesem gemäß Art. 55 Abs. 1 dieses Übereinkommens abgegebene Erklärung dahin auslegen, dass dieser Mitgliedstaat hinsichtlich der Straftat der Bildung einer kriminellen Vereinigung nicht an Art. 54 des Übereinkommens gebunden ist, wenn die kriminelle Vereinigung, an der die verfolgte Person beteiligt war, ausschließlich Vermögensdelikte begangen hat, sofern die Strafverfolgung in Anbetracht der Handlungen dieser Vereinigung Beeinträchtigungen der Sicherheit dieses Mitgliedstaats oder anderer seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen ahnden soll.
Regan
Rossi
Gratsias
Ilešič
Jarukaitis
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 23. März 2023.
Der Kanzler
A. Calot Escobar
Der Kammerpräsident
E. Regan
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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