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EuGH 15.09.2022 - C-58/21
EuGH 15.09.2022 - C-58/21 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer) - 15. September 2022 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Art. 13 – Bestimmung der anwendbaren Rechtsvorschriften – Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit – Anhang II – Art. 1 Abs. 2 – Rechtsanwalt mit Mittelpunkt der privaten und beruflichen Tätigkeiten in der Schweiz, der seinen Beruf noch in zwei weiteren Mitgliedstaaten ausübt – Antrag auf Gewährung einer vorzeitigen Altersrente – Nationale Regelung, nach der der Betroffene im betreffenden Mitgliedstaat und im Ausland auf die Ausübung dieses Berufs verzichten muss“
Leitsatz
In der Rechtssache C-58/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht Wien (Österreich) mit Entscheidung vom 21. Januar 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 1. Februar 2021, in dem Verfahren
FK,
Beteiligte:
Rechtsanwaltskammer Wien,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. Passer sowie des Richters F. Biltgen (Berichterstatter) und der Richterin M. L. Arastey Sahún,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
von FK, vertreten durch Rechtsanwalt W. Polster,
der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch und E. Samoilova als Bevollmächtigte,
der Europäischen Kommission, vertreten durch B.-R. Killmann und D. Martin als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 13 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, berichtigt in ABl. 2004, L 200, S. 1).
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen FK und der Rechtsanwaltskammer Wien (Österreich) wegen der Abweisung des Antrags von FK auf Gewährung einer vorzeitigen Altersrente.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung Nr. 883/2004
Art. 1 („Definitionen“) der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmt:
„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck:
…
‚Vorruhestandsleistungen‘ alle anderen Geldleistungen als Leistungen bei Arbeitslosigkeit und vorgezogene Leistungen wegen Alters, die ab einem bestimmten Lebensalter Arbeitnehmern, die ihre berufliche Tätigkeit eingeschränkt oder beendet haben oder ihr vorübergehend nicht mehr nachgehen, bis zu dem Lebensalter gewährt werden, in dem sie Anspruch auf Altersrente oder auf vorzeitiges Altersruhegeld geltend machen können, und deren Bezug nicht davon abhängig ist, dass sie der Arbeitsverwaltung des zuständigen Staates zur Verfügung stehen; eine ‚vorgezogene Leistung wegen Alters‘ ist eine Leistung, die vor dem Erreichen des Lebensalters, ab dem üblicherweise Anspruch auf Rente entsteht, gewährt und nach Erreichen dieses Lebensalters weiterhin gewährt oder durch eine andere Leistung bei Alter abgelöst wird;
…“
In Art. 3 („Sachlicher Geltungsbereich“) der Verordnung Nr. 883/2004 heißt es:
„(1) Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften, die folgende Zweige der sozialen Sicherheit betreffen:
…
d) Leistungen bei Alter;
…
i) Vorruhestandsleistungen;
…“
In Art. 11 Abs. 1 und Abs. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 heißt es:
„(1) Personen, für die diese Verordnung gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach diesem Titel.
…
(3) Vorbehaltlich der Artikel 12 bis 16 gilt Folgendes:
eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats;“
Art. 13 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmt:
„Eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, unterliegt:
den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, wenn sie dort einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt,
oder
den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sich der Mittelpunkt ihrer Tätigkeiten befindet, wenn sie nicht in einem der Mitgliedstaaten wohnt, in denen sie einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt.“
Art. 14 Abs. 1 bis 3 der Verordnung Nr. 883/2004 lautet:
„(1) Die Artikel 11 bis 13 gelten nicht für die freiwillige Versicherung oder die freiwillige Weiterversicherung, es sei denn, in einem Mitgliedstaat gibt es für einen der in Artikel 3 Absatz 1 genannten Zweige nur ein System der freiwilligen Versicherung.
(2) Unterliegt die betreffende Person nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats der Pflichtversicherung in diesem Mitgliedstaat, so darf sie in einem anderen Mitgliedstaat keiner freiwilligen Versicherung oder freiwilligen Weiterversicherung unterliegen. In allen übrigen Fällen, in denen für einen bestimmten Zweig eine Wahlmöglichkeit zwischen mehreren Systemen der freiwilligen Versicherung oder der freiwilligen Weiterversicherung besteht, tritt die betreffende Person nur dem System bei, für das sie sich entschieden hat.
(3) Für Leistungen bei Invalidität, Alter und an Hinterbliebene kann die betreffende Person jedoch auch dann der freiwilligen Versicherung oder der freiwilligen Weiterversicherung eines Mitgliedstaats beitreten, wenn sie nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats pflichtversichert ist, sofern sie in der Vergangenheit zu einem Zeitpunkt ihrer beruflichen Laufbahn aufgrund oder infolge einer Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats unterlag und ein solches Zusammentreffen nach den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats ausdrücklich oder stillschweigend zugelassen ist.“
In Art. 90 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 heißt es:
„Die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 [des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung] wird mit dem Beginn der Anwendung dieser Verordnung aufgehoben.
Die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 bleibt jedoch in Kraft und behält ihre Rechtswirkung für die Zwecke:
…
des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum [(EWR) vom 2. Mai 1992 (ABl. 1994, L 1, S. 3)] und des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit … sowie anderer Abkommen, die auf die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 Bezug nehmen, solange diese Abkommen nicht infolge der vorliegenden Verordnung geändert worden sind.“
Verordnung (EG) Nr. 987/2009
Art. 14 („Nähere Vorschriften zu den Artikeln 12 und 13 der [Verordnung Nr. 883/2004]“) der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung Nr. 883/2004 (ABl. 2009, L 284, S. 1) sieht in den Abs. 6, 8 und 9 vor:
„(6) Bei der Anwendung von Artikel 13 Absatz 2 der [Verordnung Nr. 883/2004] beziehen sich die Worte ‚eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt‘ insbesondere auf eine Person, die gleichzeitig oder abwechselnd eine oder mehrere gesonderte selbständige Tätigkeiten in zwei oder mehr Mitgliedstaaten ausübt, und zwar unabhängig von der Eigenart dieser Tätigkeiten.
…
(8) Bei der Anwendung von Artikel 13 Absätze 1 und 2 der [Verordnung Nr. 883/2004] bedeutet die Ausübung ‚eines wesentlichen Teils der Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit‘ in einem Mitgliedstaat, dass der Arbeitnehmer oder Selbständige dort einen quantitativ erheblichen Teil seiner Tätigkeit ausübt, was aber nicht notwendigerweise der größte Teil seiner Tätigkeit sein muss.
Um festzustellen, ob ein wesentlicher Teil der Tätigkeit in einem Mitgliedstaat ausgeübt wird, werden folgende Orientierungskriterien herangezogen:
im Falle einer Beschäftigung die Arbeitszeit und/oder das Arbeitsentgelt und
im Falle einer selbständigen Erwerbstätigkeit der Umsatz, die Arbeitszeit, die Anzahl der erbrachten Dienstleistungen und/oder das Einkommen.
Wird im Rahmen einer Gesamtbewertung bei den genannten Kriterien ein Anteil von weniger als 25 % erreicht, so ist dies ein Anzeichen dafür, dass ein wesentlicher Teil der Tätigkeit nicht in dem entsprechenden Mitgliedstaat ausgeübt wird.
(9) Bei der Anwendung von Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe b der [Verordnung Nr. 883/2004] wird bei Selbständigen der ‚Mittelpunkt ihrer Tätigkeiten‘ anhand sämtlicher Merkmale bestimmt, die ihre berufliche Tätigkeit kennzeichnen; hierzu gehören namentlich der Ort, an dem sich die feste und ständige Niederlassung befindet, von dem aus die betreffende Person ihre Tätigkeiten ausübt, die gewöhnliche Art oder die Dauer der ausgeübten Tätigkeiten, die Anzahl der erbrachten Dienstleistungen sowie der sich aus sämtlichen Umständen ergebende Wille der betreffenden Person.“
Abkommen EG–Schweiz
Das Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit (ABl. 2002, L 114, S. 6), das am 21. Juni 1999 in Luxemburg unterzeichnet wurde und im Namen der Gemeinschaft mit dem Beschluss 2002/309/EG, Euratom des Rates und – bezüglich des Abkommens über die wissenschaftliche und technische Zusammenarbeit – der Kommission vom 4. April 2002 über den Abschluss von sieben Abkommen mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft (ABl. 2002, L 114, S. 1) genehmigt wurde (im Folgenden: Abkommen EG–Schweiz), bestimmt in Art. 8:
„Die Vertragsparteien regeln die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit gemäß Anhang II, um insbesondere Folgendes zu gewährleisten:
Gleichbehandlung;
Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften;
Zusammenrechnung aller nach den verschiedenen nationalen Rechtsvorschriften berücksichtigten Versicherungszeiten für den Erwerb und die Aufrechterhaltung des Leistungsanspruchs sowie für die Berechnung der Leistungen;
Zahlung der Leistungen an Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien haben;
Amtshilfe und Zusammenarbeit der Behörden und Einrichtungen.“
Anhang II des Abkommens EG–Schweiz, betreffend die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, bestimmt in Art. 1:
„(1) Die Vertragsparteien kommen überein, im Bereich der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit untereinander die gemeinschaftlichen Rechtsakte, auf die Bezug genommen wird, in der zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Abkommens geltenden Fassung einschließlich der in Abschnitt A dieses Anhangs genannten Änderungen oder gleichwertige Vorschriften anzuwenden.
(2) Der Begriff ‚Mitgliedstaat(en)‘ in den Rechtsakten, auf die in Abschnitt A dieses Anhangs Bezug genommen wird, ist außer auf die durch die betreffenden gemeinschaftlichen Rechtsakte erfassten Staaten auch auf die [Schweizerische Eidgenossenschaft] anzuwenden.“
In Abschnitt A des Anhangs II des Abkommens EG–Schweiz wurde u. a. auf die Verordnung Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71) sowie auf die Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 (ABl. 1972, L 74, S. 1) Bezug genommen.
Anhang II des Abkommens EG–Schweiz wurde durch den Beschluss Nr. 1/2012 des Gemischten Ausschusses, eingesetzt im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit, vom 31. März 2012 zur Ersetzung des Anhangs II dieses Abkommens über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2012, L 103, S. 51), der am 1. April 2012 in Kraft trat, aktualisiert. In diesem Anhang wird seither auf die Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 Bezug genommen.
Darüber hinaus gilt die Verordnung Nr. 1408/71, die durch die Verordnung Nr. 883/2004 ersetzt wurde, gemäß Art. 3 der Verordnung (EG) Nr. 647/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005 zur Änderung der Verordnung Nr. 1408/71 und der Verordnung Nr. 574/72 (ABl. 2005, L 117, S. 1) erst ab dem 1. Januar 2005 auch für die „Rentenversicherung der Versorgungseinrichtungen der Kammern der Freien Berufe“, zu der die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nach Ausübung des Rechtsanwaltsberufs gezahlte Rente zählt.
Österreichisches Recht
Die Vorschriften über die Eintragung in die Liste der Rechtsanwälte einer Rechtsanwaltskammer in Österreich und den Bezug der entsprechenden Altersrente sind in den §§ 49 und 50 der Rechtsanwaltsordnung vom 15. Juli 1868 (RGBl. Nr. 96/1868) in der Fassung vom 23. Dezember 2020 (BGBl. I Nr. 156/2020) (im Folgenden: RAO) enthalten.
§ 49 Abs. 2 RAO sieht vor:
„Beitragspflichtig sind grundsätzlich alle in die Liste einer österreichischen Rechtsanwaltskammer oder in die Liste der niedergelassenen europäischen Rechtsanwälte einer österreichischen Rechtsanwaltskammer eingetragenen Rechtsanwälte sowie die in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter einer österreichischen Rechtsanwaltskammer eingetragenen Rechtsanwaltsanwärter, es sei denn, dass diese wegen ihrer rechtsanwaltlichen Tätigkeit bereits auf Grund anderer Rechtsvorschriften einer Pflichtversicherung in einem Altersversicherungssystem eines Mitgliedstaats der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaats des Abkommens über den [EWR] oder der Schweizerischen Eidgenossenschaft unterliegen. Zwei oder mehr Rechtsanwaltskammern können auch eine gemeinsame Versorgungseinrichtung schaffen.“
§ 50 Abs. 1 RAO sieht im Wesentlichen vor, dass jede Person, die den Rechtsanwaltsberuf ausübt, bei Vorliegen der Voraussetzungen und bei Eintritt des Versorgungsfalls Anspruch auf Alters-, Berufsunfähigkeits- und Hinterbliebenenversorgung hat.
Nach § 50 Abs. 2 RAO ist dieser Anspruch in der Satzung der Versorgungseinrichtungen nach festen Regeln festzusetzen. Nach § 50 Abs. 2 Z 2 lit. c sublit. aa RAO muss der Betroffene, um eine vorzeitige Altersrente zu erhalten, im In- und Ausland auf die Ausübung der Rechtsanwaltschaft verzichten.
§ 26 der Verordnung der Vertreterversammlung des österreichischen Rechtsanwaltskammertages über die Versorgungseinrichtungen Teil A der österreichischen Rechtsanwaltskammern (im Folgenden: Satzung Teil A 2018) sieht in Abs. 1 Z 8 als Voraussetzung für den Anspruch auf eine vorzeitige Altersrente vor, dass der Betroffene auf das Recht zur Ausübung der Rechtsanwaltschaft „wo immer“ verzichtet.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Der 1954 geborene FK ist polnischer und deutscher Staatsangehöriger. Seit dem 8. März 1984 ist er in die Liste der Rechtsanwälte der Rechtsanwaltskammer Köln (Deutschland) eingetragen. Er übt dort eine berufliche Tätigkeit nicht nur als Rechtsanwalt aus, sondern auch als vereidigter Dolmetscher und Übersetzer für die polnische Sprache. Seit Beginn seiner anwaltlichen Tätigkeit hat er in Deutschland in das Nordrhein-Westfälische Versorgungssystem Beiträge einbezahlt.
1996 wurde FK in Österreich in die Liste der Rechtsanwälte der Rechtsanwaltskammer Wien eingetragen, wo er, neben seiner anwaltlichen Tätigkeit in Deutschland, den Rechtsanwaltsberuf ausübte. Seit seiner Eintragung in diese Liste entrichtete FK Beiträge zur österreichischen Versorgungseinrichtung.
Der Mittelpunkt der Tätigkeiten von FK blieb bis 2007 in Köln, dem Jahr, in dem FK seinen Wohnsitz und den Mittelpunkt seiner Tätigkeiten in die Schweiz verlegte, wo er nunmehr den Beruf des Rechtsanwalts ausübt und aufgrund seiner Eintragung in die Liste der Rechtsanwälte der Rechtsanwaltskammer Köln in die Liste der Rechtsanwälte eingetragen ist, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Union oder der EFTA sind.
Seither hat sich die Zeit, die FK für die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in Deutschland aufgewandt hat, zugunsten der für die Ausübung dieses Berufs in der Schweiz aufgewandten Zeit schrittweise verringert. Konkret erbrachte FK zuletzt 70 % seiner anwaltlichen Leistungszeit im Zusammenhang mit seiner Schweizer Kanzlei gegenüber 25 % hinsichtlich seiner deutschen Kanzlei und 5 % hinsichtlich seiner österreichischen Kanzlei. Im Übrigen hat die von FK in seiner österreichischen Kanzlei geleistete Arbeitszeit nie mehr als 10 % seiner gesamten rechtsanwaltlichen Arbeitszeit betragen.
FK bezieht seit 2018 in Deutschland eine vorzeitige Altersrente, während er dort weiterhin den Rechtsanwaltsberuf ausübt.
Zudem leistet FK in der Schweiz allgemeine Versorgungsbeiträge.
Am 16. Oktober 2017 stellte FK bei der Rechtsanwaltskammer Wien einen Antrag auf Gewährung einer vorzeitigen Altersrente ab dem 1. November 2017, in dem er ausführte, auf die Ausübung der Rechtsanwaltschaft in Österreich zu verzichten, während er seine Eintragung in der Liste der Rechtsanwälte der Rechtsanwaltskammer Köln und in der Liste der Rechtsanwälte in der Schweiz, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Union oder der EFTA sind, aufrechterhielt.
Mit Bescheid des Ausschusses der Rechtsanwaltskammer Wien vom 29. Mai 2018 wurde dieser Antrag auf der Grundlage von § 26 in Verbindung mit § 29 Satzung Teil A 2018 abgewiesen. Nach diesen Bestimmungen setze die Gewährung einer Altersrente voraus, dass der Antragsteller auf die Ausübung der Rechtsanwaltschaft „wo immer“ verzichte.
Am 3. August 2018 erhob FK gegen diesen Bescheid Beschwerde an das Verwaltungsgericht Wien (Österreich), das vorlegende Gericht, das den Bescheid bestätigte.
Gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien erhob FK außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof (Österreich). Dieser hob das Erkenntnis im Wesentlichen mit der Begründung auf, dass es das Verwaltungsgericht Wien unterlassen habe, den unionsrechtlich relevanten Sachverhalt zu ermitteln, obwohl FK darauf hingewiesen habe, dass das Unionsrecht einer nationalen Regelung entgegenstehe, die für den Bezug einer Altersrente fordere, dass der Betroffene auf die Ausübung der Rechtsanwaltschaft im In- und Ausland verzichte.
Das mit dem Ausgangsrechtsstreit befasste vorlegende Gericht führt aus, dass bis zum 1. Januar 2005 gemäß Anhang II der Verordnung Nr. 1408/71 sowohl die deutschen als auch die österreichischen Sondersysteme für Selbständige, einschließlich Rechtsanwälte, von der Anwendbarkeit dieser Verordnung ausgenommen gewesen seien. Erst ab diesem Zeitpunkt sei die Verordnung Nr. 1408/71 auf Selbständige infolge einer Änderung dieser Verordnung angewandt worden, wonach für die vorausgegangenen Zeiträume keine Ansprüche begründet worden seien, wenngleich die zuvor zurückgelegten Beschäftigungszeiten berücksichtigt worden seien.
Für die Bestimmung der Rechtsvorschriften, die auf eine Person anzuwenden seien, die wie FK in zwei oder drei Mitgliedstaaten eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübten, sei Art. 13 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004 heranzuziehen.
Das vorlegende Gericht möchte wissen, wie diese Bestimmung in einem Fall auszulegen ist, in dem sich der Mittelpunkt der Tätigkeiten der betreffenden Person und ihr Wohnsitz nicht in einem Mitgliedstaat befinden, denn nach wörtlicher Auslegung dieser Bestimmung wären in einem solchen Fall überhaupt keine Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats anzuwenden.
Für den Fall, dass die österreichischen Rechtsvorschriften anwendbar sein sollten, möchte das vorlegende Gericht außerdem wissen, ob die RAO mit dem Unionsrecht, insbesondere mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung, mit dem Eigentumsrecht sowie mit der Personenfreizügigkeit bzw. der Niederlassungsfreiheit vereinbar ist, und, wenn nicht, ob § 50 Abs. 2 Z 2 lit. c sublit. aa RAO aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unangewendet zu bleiben hat.
Unter Hinweis darauf, dass im Ausgangsrechtsstreit unzweifelhaft ein grenzüberschreitender, unionsrechtlicher Sachverhalt gegeben sei, da FK in zwei Mitgliedstaaten niedergelassen sei und eine österreichische Bestimmung in die Rechtsposition des Betroffenen in Deutschland eingreife, erinnert das vorlegende Gericht daran, dass nach Art. 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union das Eigentumsrecht –und damit auch vermögensrechtliche Interessen im Zusammenhang mit gesetzlich vorgesehenen Sozialleistungen wie Ruhebezügen – unverletzlich sei und Beschränkungen eines solchen Grundrechts durch dem Gemeinwohl dienende Ziele gerechtfertigt, zur Erreichung des Zieles geeignet sowie verhältnismäßig sein müssten. In diesem Zusammenhang hegt das vorlegende Gericht Zweifel, ob es die vorliegende Interessenlage rechtfertigt, die Gewährung einer Altersrente davon abhängig zu machen, dass der Betroffene auf die Ausübung der Rechtsanwaltschaft in Österreich und im Ausland verzichtet. Durch die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung werde nämlich die Niederlassungsfreiheit beschränkt, die durch Art. 15 Abs. 2 der Charta der Grundrechte in Verbindung mit Art. 49 AEUV garantiert werde.
Außerdem weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass das Unionsrecht es seinem Wesen nach erlaube, weiterhin eine Tätigkeit in Mitgliedstaaten auszuüben und gleichzeitig eine Altersrente in einem anderen Mitgliedstaat zu beziehen, insbesondere da im Rahmen der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit die Frage des je nach Mitgliedstaat unterschiedlichen Rentenantrittsalters ausdrücklich behandelt werde.
Unter diesen Umständen hat das Verwaltungsgericht Wien beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Wie ist Art. 13 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 883/2004 auszulegen, wenn sich der Mittelpunkt der Tätigkeit einer Person aus quantitativer Sicht in einem Nichtmitgliedstaat befindet, in welchem die Person auch ihren Wohnsitz hat, und diese Person darüber hinaus in zwei Mitgliedstaaten (Deutschland und Österreich) eine Tätigkeit ausübt, wobei die Tätigkeit in beiden Mitgliedstaaten derart verteilt ist, dass der deutlich überwiegende Teil in einem Mitgliedstaat (im konkreten Fall in Deutschland) stattfindet?
Für den Fall, dass sich aus der Auslegung dieser Bestimmung eine Zuständigkeit für Österreich ergibt, wird folgende Frage gestellt:
Sind die Bestimmung des § 50 Abs. 2 Z 2 lit. c sublit. aa RAO und die darauf basierende Bestimmung des § 26 Abs. 1 Z 8 der Satzung Teil A 2018 unionsrechtlich zulässig oder verstoßen diese gegen Unionsrecht sowie die unionsrechtlich garantierten Rechte, indem als Voraussetzung für die Gewährung einer Altersrente der Verzicht auf die Ausübung der Rechtsanwaltschaft im In- und Ausland (§ 50 Abs. 2 Z 2 lit. c sublit. aa) bzw. wo immer (§ 26 Abs. 1 Z 8 Satzung Teil A 2018) gefordert wird?
Zu den Vorlagefragen
Vorbemerkungen
Zur Formulierung der ersten Frage ist festzustellen, dass, wie sich oben aus den Rn. 11 bis 13 ergibt, gemäß Art. 1 Abs. 2 des Anhangs II des Abkommens EG–Schweiz der Begriff „Mitgliedstaat(en)“ in den Rechtsakten, auf die in Abschnitt A dieses Anhangs Bezug genommen wird, außer auf die durch diese Rechtsakte erfassten Mitgliedstaaten der Union auch auf die Schweizerische Eidgenossenschaft anzuwenden ist.
Indem das Abkommen EG–Schweiz in Abschnitt A seines Anhangs II in dessen verschiedenen Fassungen die Verordnungen Nrn. 1408/71 und 883/2004 ausdrücklich erwähnt, erstreckt es den Geltungsbereich dieser Verordnungen somit auf die Schweizerische Eidgenossenschaft, so dass die Schweizerische Eidgenossenschaft, anders als vom vorlegenden Gericht in der ersten Frage impliziert, für die Zwecke der vorliegenden Rechtssache nicht als Drittstaat, sondern als Mitgliedstaat anzusehen ist.
Zur ersten Vorlagefrage
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, welche Rechtsvorschriften nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 883/2004 anzuwenden sind, wenn sich der Wohnsitz und der Mittelpunkt der Tätigkeiten der betreffenden Person in der Schweiz befinden und diese Person auch eine Tätigkeit ausübt, die sich ungleichmäßig auf zwei andere Mitgliedstaaten im Sinne von Art. 1 Abs. 2 des Anhangs II des Abkommens EG–Schweiz, nämlich Deutschland und Österreich, verteilt.
Es ist darauf hinzuweisen, dass es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs ist, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat er die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren und in diesem Zusammenhang alle Bestimmungen des Unionsrechts auszulegen, die die nationalen Gerichte benötigen, um die bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, auch wenn diese Bestimmungen in den dem Gerichtshof von diesen Gerichten vorgelegten Fragen nicht ausdrücklich genannt sind (vgl. u. a. Urteile vom 19. Oktober 2017, Otero Ramos, C-531/15, EU:C:2017:789, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 19. September 2018, González Castro, C-41/17, EU:C:2018:736, Rn. 54).
Auch wenn das vorlegende Gericht seine erste Frage formal auf ein Ersuchen um Auslegung von Art. 13 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 883/2004 beschränkt hat, obwohl aufgrund der oben in Rn. 38 vorgenommenen Klarstellung, dass die Schweizerische Eidgenossenschaft als „Mitgliedstaat“ anzusehen ist, die Vorlagefrage die Auslegung von Art. 13 Abs. 2 Buchst. a dieser Verordnung hätte betreffen müssen, hat der Gerichtshof daher aus dem gesamten von diesem Gericht vorgelegten Material, insbesondere aus der Begründung des Vorabentscheidungsersuchens, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Ausgangsrechtsstreits einer Auslegung bedürfen (vgl. u. a. Urteile vom 19. Oktober 2017, Otero Ramos, C-531/15, EU:C:2017:789, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 19. September 2018, González Castro, C-41/17, EU:C:2018:736, Rn. 55).
Im vorliegenden Fall lässt sich dem Vorabentscheidungsersuchen entnehmen, dass der Gerichtshof, um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, andere Bestimmungen des Unionsrechts auszulegen hat.
Aus der Rechtsprechung ergibt sich, dass mit der Verordnung Nr. 883/2004 und der Verordnung Nr. 1408/71 eine Koordinierungsregelung geschaffen wurde, die sich u. a. mit der Bestimmung der Rechtsvorschriften befasst, die auf Arbeitnehmer und Selbständige anzuwenden sind, die unter verschiedenen Umständen von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. April 2008, Derouin, C-103/06, EU:C:2008:185, Rn. 20, vom 26. Oktober 2016, Hoogstad, C-269/15, EU:C:2016:802, Rn. 33, sowie vom 16. Juli 2020, AFMB u. a., C-610/18, EU:C:2020:565, Rn. 40).
Nach den in dieser Koordinierungsregelung vorgesehenen Vorschriften unterliegen die betroffenen Personen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats, damit die Komplikationen, die sich aus der gleichzeitigen Anwendung von Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten ergeben können, vermieden und die Ungleichbehandlungen ausgeschlossen werden, die für innerhalb der Union zu- und abwandernde Personen aus einer teilweisen oder vollständigen Kumulierung der anwendbaren Rechtsvorschriften folgen würden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Februar 2015, de Ruyter, C-623/13, EU:C:2015:123, Rn. 36 und 37, vom 26. Oktober 2016, Hoogstad, C-269/15, EU:C:2016:802, Rn. 35 und 36, sowie vom 16. Juli 2020, AFMB u. a., C-610/18, EU:C:2020:565, Rn. 40).
Dieser Grundsatz der Anwendbarkeit nur eines Rechts findet seinen Ausdruck insbesondere in Art. 13 der Verordnung Nr. 883/2004, der festlegt, welche Rechtsvorschriften auf eine Person anzuwenden sind, die in zwei oder mehr Mitgliedstaaten Tätigkeiten ausübt. Nach seinem Abs. 2 unterliegt eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, entweder den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, wenn sie dort einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeiten ausübt (Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004), oder den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sich der Mittelpunkt ihrer Tätigkeiten befindet, wenn sie nicht in einem der Mitgliedstaaten wohnt, in denen sie einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeiten ausübt (Art. 13 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 883/2004).
Art. 14 Abs. 8 der Verordnung Nr. 987/2009 stellt klar, dass bei der Anwendung von Art. 13 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 883/2004 die Ausübung eines „wesentlichen Teils“ der Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit in einem Mitgliedstaat bedeutet, dass der betreffende Arbeitnehmer oder Selbständige dort einen quantitativ erheblichen Teil seiner Tätigkeit ausübt, was aber nicht notwendigerweise der größte Teil seiner Tätigkeit sein muss. Um festzustellen, ob ein wesentlicher Teil einer Tätigkeit in einem Mitgliedstaat ausgeübt wird, werden im Fall einer Beschäftigung die Arbeitszeit und/oder das Arbeitsentgelt herangezogen. Wird bei diesen Kriterien ein Anteil von weniger als 25 % erreicht, so ist dies ein Anzeichen dafür, dass ein wesentlicher Teil dieser Tätigkeit nicht in dem entsprechenden Mitgliedstaat ausgeübt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Mai 2022, Ryanair, C-33/21, EU:C:2022:402, Rn. 63).
Da FK in Deutschland wohnte, wo sich auch der Mittelpunkt seiner Tätigkeiten befand, bevor er seinen Wohnsitz in die Schweiz verlegte, wo sich derzeit der Mittelpunkt seiner Tätigkeit befindet, ist davon auszugehen, dass er gemäß Art. 13 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004 entweder unter die deutschen oder unter die schweizerischen Rechtsvorschriften fällt.
Im vorliegenden Fall ist vor dem Hintergrund, dass dem vorlegenden Gericht zufolge die von FK in seiner österreichischen Kanzlei geleistete Arbeitszeit nie mehr als 10 % seiner gesamten rechtsanwaltlichen Arbeitszeit betragen hat, festzustellen, dass die österreichischen Rechtsvorschriften nach den Kollisionsnormen der Verordnung Nr. 883/2004 nicht anwendbar sind.
Wenn zwar das mit der Verordnung Nr. 883/2004 geschaffene geschlossene und einheitliche System von Kollisionsnormen den Gesetzgebern der Mitgliedstaaten grundsätzlich die Befugnis nimmt, den Geltungsbereich und die Anwendungsvoraussetzungen ihrer nationalen Rechtsvorschriften im Hinblick darauf nach ihrem Belieben zu bestimmen, welche Personen ihnen unterliegen und in welchem Gebiet die nationalen Bestimmungen ihre Wirkung entfalten sollen (vgl. u. a. Urteile vom 26. Februar 2015, de Ruyter, C-623/13, EU:C:2015:123, Rn. 34 und 35, sowie vom 19. September 2019, van den Berg u. a., C-95/18 und C-96/18, EU:C:2019:767, Rn. 50), so kann jedoch der Grundsatz der Anwendbarkeit nur eines Rechts einem Mitgliedstaat, der nach den Bestimmungen des Titels II der Verordnung Nr. 883/2004 nicht zuständig ist, nicht die Möglichkeit nehmen, einem Wanderarbeitnehmer unter bestimmten Bedingungen Familienbeihilfen oder eine Altersrente nach seinem nationalen Recht zu gewähren, selbst wenn dieser nach Art. 13 dieser Verordnung den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats unterliegt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. April 2015, Franzen u. a., C-382/13, EU:C:2015:261, Rn. 58 bis 61, sowie vom 19. September 2019, van den Berg u. a., C-95/18 und C-96/18, EU:C:2019:767, Rn. 53).
Die Kollisionsnormen der Verordnung Nr. 883/2004 sollen nämlich nur festlegen, welche Rechtsvorschriften für Personen gelten, bei denen einer der in den Bestimmungen zur Festlegung der Kollisionsnormen aufgeführten Fälle vorliegt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Oktober 2016, Hoogstad, C-269/15, EU:C:2016:802, Rn. 37, und vom 1. Februar 2017, Tolley, C-430/15, EU:C:2017:74, Rn. 60). Sie legen als solche nicht die Voraussetzungen fest, unter denen eine Person einem bestimmten System der sozialen Sicherheit beitreten kann oder muss (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. Juni 1998, Kuusijärvi, C-275/96, EU:C:1998:279, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 21. Februar 2013, Dumont de Chassart, C-619/11, EU:C:2013:92, Rn. 39).
Die Verordnung Nr. 883/2004 lässt somit unterschiedliche Systeme bestehen, die zu unterschiedlichen Forderungen gegen unterschiedliche Träger führen, gegen die dem betreffenden Leistungsberechtigten unmittelbare Ansprüche entweder allein nach dem nationalen Recht oder nach dem erforderlichenfalls durch Unionsrecht ergänzten nationalen Recht zustehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Februar 2013, Dumont de Chassart, C-619/11, EU:C:2013:92, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 1. Februar 2017, Tolley, C-430/15, EU:C:2017:74, Rn. 57).
Somit sollen die Kollisionsnormen der Verordnung Nr. 883/2004 nicht die Frage regeln, ob ein Arbeitnehmer Anspruch auf eine Leistung hat, die er aufgrund von Beiträgen erwerben konnte, die er in einem bestimmten Zeitraum an ein System der sozialen Sicherheit eines bestimmten Mitgliedstaats gezahlt hat.
Im vorliegenden Fall ist zum einen darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht ausführt, dass die Beiträge des Klägers des Ausgangsverfahrens zu den Sondersystemen für Rechtsanwälte in Österreich vom Geltungsbereich der durch die Verordnung Nr. 883/2004 ersetzten Verordnung Nr. 1408/71 ausgenommen worden seien und erst seit dem 1. Januar 2005 in den Geltungsbereich dieser Verordnungen fielen. Zum anderen geht aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte nicht hervor, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens die Anwendung von Vorschriften über die Zusammenrechnung oder Anrechnung von in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegten Zeiten im Hinblick auf die Gewährung der beantragten vorzeitigen Altersrente geltend macht, die sich allein nach österreichischem Recht richtet.
Folglich geht es im Ausgangsrechtsstreit nicht darum, welche Rechtsvorschriften nach den Kollisionsnormen der Art. 11 bis 13 der Verordnung Nr. 883/2004 anzuwenden sind, sondern nur darum, ob auf den Betroffenen das nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats vorgesehene System, in das er eingezahlt hat, anwendbar ist.
Diese Schlussfolgerung wird außerdem durch das Vorbringen von FK bestätigt, dass das Sondersystem für Personen, die den Rechtsanwaltsberuf ausüben, als „freiwillige Versicherung oder freiwillige Weiterversicherung“ einzustufen sei.
Vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Prüfung, ob dieses Sondersystem als „freiwillige Versicherung oder freiwillige Weiterversicherung“ einzustufen ist, ist eine solche Versicherung nämlich nach Art. 14 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 3 der Verordnung Nr. 883/2004, zumindest in Bezug auf die seit dem 1. Januar 2005 entrichteten Beiträge, ausdrücklich vom Geltungsbereich des mit dieser Verordnung eingeführten Mechanismus zur Bestimmung der anwendbaren Rechtsvorschriften ausgenommen. Ungeachtet dessen, dass FK den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats – im vorliegenden Fall den schweizerischen Rechtsvorschriften – unterliegt, kann er somit zu dieser freiwilligen Weiterversicherung in Österreich zugelassen werden, da er begonnen hat, Beiträge in das Sonderversicherungssystem für in Österreich als Rechtsanwalt tätige Personen einzuzahlen, als dieses System nicht in den Geltungsbereich der durch die Verordnung Nr. 883/2004 ersetzten Verordnung Nr. 1408/71 fiel, und danach weiterhin entsprechende Beiträge eingezahlt hat.
In einem solchen Fall muss der Betroffene die Option haben, den Anschluss an ein Pflichtversicherungssystem für bestimmte Zeiten fortzusetzen oder zu beenden, soweit diese Wahl sich auf den Umfang der späteren Leistung der sozialen Sicherheit auswirkt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Februar 2015, Bouman, C-114/13, EU:C:2015:81, Rn. 58).
Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Kollisionsnormen des Art. 13 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004 nicht anwendbar sind, wenn in einem Fall, in dem sich der Wohnsitz und der Mittelpunkt der Tätigkeiten einer Person in einem Mitgliedstaat befinden, während diese Person auch eine Tätigkeit ausübt, die sich ungleichmäßig auf zwei andere Mitgliedstaaten verteilt, festgestellt werden soll, ob diese Person gegenüber den Trägern eines dieser beiden anderen Mitgliedstaaten unmittelbare Ansprüche aufgrund von Beiträgen hat, die in einem bestimmten Zeitraum entrichtet wurden.
Zur zweiten Vorlagefrage
Mit seiner zweiten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Gewährung einer vorzeitigen Altersrente davon abhängig macht, dass der Betroffene nicht nur im betreffenden Mitgliedstaat, sondern auch im Ausland auf die Ausübung der Rechtsanwaltschaft verzichtet.
Hierzu ist festzustellen, dass eine Person mit Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats, die den Rechtsanwaltsberuf ausübt und sich in einen anderen Mitgliedstaat begibt, um dort eine Tätigkeit im Rahmen des betreffenden reglementierten Berufs auszuüben, entweder, wenn sie regelmäßig vom Mandanten vergütet wird, unter Art. 49 AEUV über die Niederlassungsfreiheit fällt oder, soweit ihre Vergütung die Form eines Gehalts annimmt, unter Art. 45 AEUV über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer fällt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 30. November 1995, Gebhard, C-55/94, EU:C:1995:411, Rn. 22 bis 25, und vom 17. Dezember 2020, Onofrei, C-218/19, EU:C:2020:1034, Rn. 23).
Zur Frage, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende österreichische Regelung eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit oder der Freizügigkeit der Arbeitnehmer darstellt, ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 883/2004 kein gemeinsames System der sozialen Sicherheit schafft, sondern unterschiedliche nationale Systeme bestehen lässt. Die Mitgliedstaaten sind weiterhin für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit zuständig; in Ermangelung einer Harmonisierung auf Unionsebene bestimmt das Recht eines jeden Mitgliedstaats u. a. die Voraussetzungen für die Begründung von Ansprüchen auf Sozialleistungen. Gleichwohl müssen die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Befugnis das Unionsrecht und insbesondere die Bestimmungen des AEU-Vertrags über die jedem Unionsbürger zuerkannte Freiheit beachten, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (vgl. u. a. Urteile vom 21. Februar 2013, Salgado González, C-282/11, EU:C:2013:86, Rn. 35 bis 37, vom 5. November 2014, Somova, C-103/13, EU:C:2014:2334, Rn. 33 bis 35, und vom 21. Oktober 2021, Zakład Ubezpieczeń Społecznych I Oddział w Warszawie, C-866/19, EU:C:2021:865, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Außerdem sollen sämtliche Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Freizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit den Unionsbürgern die Ausübung jeder Art von Berufstätigkeit im Gebiet der Union erleichtern und stehen Maßnahmen entgegen, die die Unionsbürger benachteiligen könnten, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben wollen (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 15. Dezember 1995, Bosman, C-415/93, EU:C:1995:463, Rn. 94, und vom 5. November 2014, Somova, C-103/13, EU:C:2014:2334, Rn. 36).
Folglich stehen diese Bestimmungen jeder nationalen Maßnahme entgegen, die zwar ohne Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit anwendbar ist, jedoch geeignet ist, die Ausübung der durch den AEU-Vertrag garantierten Grundfreiheiten durch die Unionsangehörigen zu behindern oder weniger attraktiv zu machen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 1. April 2008, Gouvernement de la Communauté française und Gouvernement wallon, C-212/06, EU:C:2008:178, Rn. 45, und vom 5. November 2014, Somova, C-103/13, EU:C:2014:2334, Rn. 38).
Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung unterschiedslos auf alle Personen anwendbar ist, die den Rechtsanwaltsberuf ausüben, und daher keine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit darstellt.
Eine Voraussetzung wie die in den österreichischen Rechtsvorschriften vorgesehene, wonach dem Betroffenen nur dann eine vorzeitige Altersrente gewährt werden kann, wenn er sowohl im In- als auch im Ausland auf die Ausübung der Rechtsanwaltschaft verzichtet, ist jedoch geeignet, Personen, die Anspruch auf eine solche Rente haben, davon abzuhalten, von ihrer Niederlassungsfreiheit oder ihrer Freizügigkeit Gebrauch zu machen.
Außerdem kann ein solcher Verzicht zwar für eine Person, die ihre gesamte Berufstätigkeit in Österreich ausgeübt hat, akzeptabel sein, sich aber für eine Person als schwieriger erweisen, die von der Niederlassungsfreiheit oder der Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, und insbesondere gezwungen ist, ihre Berufstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat auszuüben, weil sie dort noch nicht das gesetzliche Rentenalter erreicht hat.
Daraus folgt, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung eine Beeinträchtigung der durch die Art. 45 und 49 AEUV garantierten Freiheiten darstellt, die nur dann zulässig ist, wenn mit ihr ein berechtigter, mit dem AEU-Vertrag vereinbarer Zweck verfolgt wird und sie aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist. In einem derartigen Fall muss die Anwendung einer solchen Maßnahme auch geeignet sein, die Verwirklichung des in Rede stehenden Zwecks zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zwecks erforderlich ist (vgl. u. a. Urteile vom 16. Mai 2013, Wencel, C-589/10, EU:C:2013:303, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung, vom 5. November 2014, Somova, C-103/13, EU:C:2014:2334, Rn. 46, sowie vom 17. Dezember 2020, Onofrei,C-218/19, EU:C:2020:1034, Rn. 32).
Hierzu trägt die österreichische Regierung vor, der zwingende Grund des Allgemeininteresses, der die betreffende Maßnahme rechtfertige, ergebe sich aus dem Zweck des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Systems, der darin bestehe, dass die betreffende Rente ein früheres Einkommen ersetze, zu dem kein voller Arbeitsverdienst hinzutreten solle. Das Ziel bestehe nicht nur darin, noch aktive Rechtsanwälte vor der Konkurrenz durch bereits in den Ruhestand getretene Rechtsanwälte zu schützen, sondern auch darin, die Finanzierbarkeit des rechtsanwaltlichen Altersversorgungssystems zu garantieren, das nicht dem allgemeinen Altersversorgungssystem unterliege und – im Gegensatz zu einer Finanzierung mittels Kapitaldeckungsverfahren – im Umlageverfahren finanziert werde.
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass dem Gerichtshof zufolge Ziele im Bereich der Beschäftigungspolitik, wie die u. a. auf die Einführung von Altersgrenzen für das zwingende Ausscheiden aus dem Dienst gerichteten, legitim sein können, um die Schaffung einer ausgewogeneren Altersstruktur zu fördern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Juli 2011, Fuchs und Köhler, C-159/10 und C-160/10, EU:C:2011:508, Rn. 50).
Denn die Rechtmäßigkeit eines solchen im Allgemeininteresse liegenden Ziels mit Bezug zur Beschäftigungspolitik kann nicht ernsthaft in Zweifel gezogen werden, da nach Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 1 EUV die Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus eines der Ziele darstellt, die von der Union verfolgt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. April 2020, Comune di Gesturi, C-670/18, EU:C:2020:272, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Wenngleich sich nicht bestreiten lässt, dass eine nationale Rechtsvorschrift, die den Arbeitsmarkt reguliert, um Arbeitsplätze frei zu machen, die von Personen besetzt sind, die kurz vor dem Rentenalter stehen, und um einen gesunden Wettbewerb zwischen Berufsangehörigen zu gewährleisten, geeignet ist, die Erreichung des angestrebten Ziels sicherzustellen, so ist doch festzustellen, dass angesichts dessen, dass sie vom Betroffenen den Verzicht auf die Ausübung der Rechtsanwaltschaft im betreffenden Mitgliedstaat wie auch im Ausland verlangt, nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.
Eine nationale Regelung, die vom Betroffenen den Verzicht auf die Ausübung der Rechtsanwaltschaft im betreffenden Mitgliedstaat wie auch im Ausland verlangt, um die Personen, die die Rechtsanwaltschaft noch ausüben, vor der Konkurrenz durch diejenigen zu schützen, die ihr Recht auf Eintritt in den Ruhestand bereits geltend gemacht haben, dürfte nämlich insoweit über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist, als dieses Ziel dadurch erreicht werden kann, dass der Verzicht auf die Ausübung jeglicher beruflicher Tätigkeit auf das Inland oder allenfalls auf ein begrenztes geografisches Gebiet in einem anderen Mitgliedstaat beschränkt wird. Eine solche Regelung lässt im Übrigen außer Acht, dass die Voraussetzungen für den Erwerb und die Aufrechterhaltung des Ruhegehaltsanspruchs zwischen den Mitgliedstaaten nicht harmonisiert, sondern nur durch das Unionsrecht koordiniert sind und dass die Betroffenen verpflichtet sein können, in anderen Mitgliedstaaten weiterhin tätig zu sein, um ihren Rentenanspruch nach dem jeweiligen nationalen Recht zu erwerben.
Die Voraussetzung, dass der Betroffene sowohl im Inland als auch im Ausland auf die Ausübung der Rechtsanwaltschaft verzichtet, dürfte auch über das hinausgehen, was erforderlich ist, um zu verhindern, dass zu der so gezahlten vorzeitigen Rente ein voller Arbeitsverdienst hinzutritt.
Was das Ziel der Finanzierbarkeit des betreffenden Sondersystems anbelangt, kann eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit zwar einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen (vgl. u. a. Urteile vom 28. April 1998, Kohll, C-158/96, EU:C:1998:171, Rn. 41, und vom 11. Januar 2007, ITC, C-208/05, EU:C:2007:16, Rn. 43), jedoch geht aus den Erläuterungen der österreichischen Regierung nicht klar hervor, inwiefern die Finanzierung dieses Sondersystems, die von den Beiträgen der von diesem Sondersystem Begünstigten abhängig ist, dadurch der Gefahr einer schweren Beeinträchtigung ausgesetzt sein soll, dass Bezieher von vorzeitigen Altersrenten aus diesem Sondersystem weiterhin in anderen Mitgliedstaaten tätig sind.
Auch wenn es letztlich Sache des vorlegenden Gerichts ist, festzustellen, ob und inwieweit die betreffende nationale Regelung die Voraussetzung der Verhältnismäßigkeit in Bezug auf die Verwirklichung des Ziels der Finanzierbarkeit des betreffenden Sondersystems erfüllt, lässt die dem Gerichtshof vorliegende Akte erkennen, dass dieses Ziel mit weniger einschränkenden Mitteln erreicht werden kann.
Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Art. 45 und 49 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die die Gewährung einer vorzeitigen Altersrente davon abhängig macht, dass der Betroffene auf die Ausübung der Rechtsanwaltschaft verzichtet, ohne insbesondere den Mitgliedstaat zu berücksichtigen, in dem die betreffende Tätigkeit ausgeübt wird.
Kosten
Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:
Die Kollisionsnormen des Art. 13 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit sind nicht anwendbar, wenn in einem Fall, in dem sich der Wohnsitz und der Mittelpunkt der Tätigkeiten einer Person in einem Mitgliedstaat befinden, während diese Person auch eine Tätigkeit ausübt, die sich ungleichmäßig auf zwei andere Mitgliedstaaten verteilt, festgestellt werden soll, ob diese Person gegenüber den Trägern eines dieser beiden anderen Mitgliedstaaten unmittelbare Ansprüche aufgrund von Beiträgen hat, die in einem bestimmten Zeitraum entrichtet wurden.
Art. 45 und 49 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die die Gewährung einer vorzeitigen Altersrente davon abhängig macht, dass der Betroffene auf die Ausübung der Rechtsanwaltschaft verzichtet, ohne insbesondere den Mitgliedstaat zu berücksichtigen, in dem die betreffende Tätigkeit ausgeübt wird.
Unterschriften
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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