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EuGH 02.04.2020 - C-830/18
EuGH 02.04.2020 - C-830/18 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer) - 2. April 2020 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Freizügigkeit der Arbeitnehmer – Verordnung (EU) Nr. 492/2011 – Kinder von Grenzarbeitnehmern – Soziale Vergünstigungen – System der Erstattung von Schülerbeförderungskosten – Voraussetzung des Wohnsitzes in einem Bundesland – Ausschluss der Kinder, die in diesem Bundesland zur Schule gehen und in einem anderen Mitgliedstaat als dem der besuchten Schule wohnen – Ausschluss der inländischen Staatsangehörigen, die in anderen Bundesländern wohnen“
Leitsatz
In der Rechtssache C-830/18
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz (Deutschland) mit Entscheidung vom 11. Dezember 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Dezember 2018, in dem Verfahren
Landkreis Südliche Weinstraße
gegen
PF u. a.,
Beteiligter:
Vertreter des öffentlichen Interesses,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten S. Rodin sowie der Richter D. Šváby und N. Piçarra (Berichterstatter),
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Hödlmayr und B.-R. Killmann als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. 2011, L 141, S. 1).
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen PF und dem Landkreis Südliche Weinstraße über die Übernahme der Schülerbeförderungskosten von Kindern von Grenzarbeitnehmern durch das Bundesland.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
In den Erwägungsgründen 3 bis 5 der Verordnung Nr. 492/2011 heißt es:
Es sollten Bestimmungen festgelegt werden, mit denen die in den Artikeln 45 und 46 des [AEU-]Vertrags … auf dem Gebiet der Freizügigkeit festgelegten Ziele erreicht werden können.
Die Freizügigkeit ist ein Grundrecht der Arbeitnehmer und ihrer Familien. … Allen Arbeitnehmern der Mitgliedstaaten sollte das Recht zuerkannt werden, eine von ihnen gewählte Tätigkeit innerhalb der Union auszuüben.
Dieses Recht sollte gleichermaßen Dauerarbeitnehmern, Saisonarbeitern, Grenzarbeitnehmern oder Arbeitnehmern zustehen, die ihre Tätigkeit im Zusammenhang mit einer Dienstleistung ausüben.“
Art. 7 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung bestimmt:
„(1) Ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, darf aufgrund seiner Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, insbesondere im Hinblick auf Entlohnung, Kündigung und, falls er arbeitslos geworden ist, im Hinblick auf berufliche Wiedereingliederung oder Wiedereinstellung, nicht anders behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer.
(2) Er genießt dort die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer.“
Art. 10 dieser Verordnung sieht vor:
„Die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, können, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen.
Die Mitgliedstaaten fördern die Bemühungen, durch die diesen Kindern ermöglicht werden soll, unter den besten Voraussetzungen am Unterricht teilzunehmen.“
Deutsches Recht
§ 56 Abs. 1 des Rheinland-Pfälzischen Schulgesetzes vom 30. März 2004 (GVBl. RP 2004, S. 239), zuletzt geändert durch Art. 10 des Gesetzes vom 16. Februar 2016 (GVBl. RP 2016, S. 37), bestimmt:
„Der Besuch einer Schule ist Pflicht für alle Kinder, Jugendlichen und Heranwachsenden, die in Rheinland-Pfalz ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben; völkerrechtliche Bestimmungen und zwischenstaatliche Vereinbarungen bleiben unberührt.“
§ 69 („Beförderung der Schülerinnen und Schüler“) dieses Gesetzes sieht vor:
„(1) Den Landkreisen und kreisfreien Städten obliegt es als Pflichtaufgabe der Selbstverwaltung für die Beförderung der Schülerinnen und Schüler zu den in ihrem Gebiet gelegenen Grundschulen und Förderschulen zu sorgen, wenn die Schülerinnen und Schüler ihren Wohnsitz in Rheinland-Pfalz haben und ihnen der Schulweg ohne Benutzung eines Verkehrsmittels nicht zumutbar ist.
Das Gleiche gilt für die Beförderung
1. zu der nächstgelegenen Realschule plus …
Wird eine Schule außerhalb von Rheinland-Pfalz besucht, trägt der Landkreis oder die kreisfreie Stadt, in deren Gebiet die Schülerin oder der Schüler den Wohnsitz hat, die Beförderungskosten.
(2) Der Schulweg ist ohne Benutzung eines Verkehrsmittels nicht zumutbar, wenn er besonders gefährlich ist oder wenn der kürzeste nicht besonders gefährliche Fußweg zwischen Wohnung und Grundschule länger als zwei Kilometer, zwischen Wohnung und Realschule plus … länger als vier Kilometer ist. …
(3) Beim Besuch einer anderen als der nächstgelegenen Schule nach Absatz 1 Satz 2 werden Kosten nur insoweit übernommen, als sie bei der Fahrt zur nächstgelegenen Schule zu übernehmen wären. Bei der Feststellung der nächstgelegenen Schule sind nur Schulen mit der gewählten ersten Fremdsprache zu berücksichtigen. …
(4) Die Aufgabe wird vorrangig erfüllt durch die Übernahme der notwendigen Fahrkosten für öffentliche Verkehrsmittel. Soweit zumutbare öffentliche Verkehrsverbindungen nicht bestehen, sollen Schulbusse eingesetzt werden. Kosten anderer Beförderungsmittel müssen nur bis zu der Höhe übernommen werden, wie sie nach Satz 1 entstehen würden.“
§ 5 Abs. 1 des Rheinland-Pfälzischen Landesgesetzes über den öffentlichen Personennahverkehr vom 17. November 1995 (GVBl. RP 1995, S. 450), zuletzt geändert durch § 12 des Gesetzes vom 22. Dezember 2015 (GVBl. RP 2015, S. 516), bestimmt:
„Aufgabenträger des öffentlichen Personennahverkehrs nach § 1 Abs. 2 Nr. 1 sind die Landkreise und kreisfreien Städte. Sie nehmen die Aufgabe als freie Selbstverwaltungsaufgabe im Rahmen ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit wahr. …“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
PF hat die deutsche Staatsangehörigkeit und wohnt mit seinen Eltern, die ebenfalls die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, in Frankreich. Er besucht eine Realschule plus im Landkreis Südliche Weinstraße des Landes Rheinland-Pfalz (Deutschland). Die Arbeitsstelle seiner Mutter liegt ebenfalls in Deutschland.
Die Schülerbeförderungskosten von PF wurden bis zum Schuljahr 2014/2015 von dem Landkreis getragen, in dem PF die Schule besuchte. Für das Schuljahr 2015/2016 teilte der Landkreis jedoch mit Bescheid vom 16. Juni 2015 mit, dass die Schülerbeförderungskosten von PF gemäß den in Rheinland-Pfalz geltenden gesetzlichen Bestimmungen nicht mehr übernommen würden. Diese sähen nämlich vor, dass der Landkreis die Schülerbeförderung nur für die Schülerinnen und Schüler organisieren müsse, die in diesem Bundesland wohnten.
PF legte gegen den Bescheid des Landkreises Widerspruch ein, der zurückgewiesen wurde. Anschließend erhob er gegen diesen ablehnenden Bescheid Klage beim Verwaltungsgericht Neustadt an der Weinstraße (Deutschland). Dieses gab der Klage mit der Begründung statt, dass PF als Kind einer Grenzgängerin gemäß Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 Anspruch auf Übernahme seiner Schülerbeförderungskosten habe.
Der Landkreis legte gegen dieses Urteil Berufung beim vorlegenden Gericht, dem Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz (Deutschland), ein. Dieses möchte wissen, ob eine Bestimmung wie § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 des Rheinland-Pfälzischen Schulgesetzes gegen Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 verstößt.
Das vorlegende Gericht hält nämlich diese letztgenannte Bestimmung auf den Fall, mit dem es befasst ist, für anwendbar. Zum einen stelle die Übernahme der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Schülerbeförderungskosten eine soziale Vergünstigung im Sinne von Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 dar. Zum anderen seien nach dem Urteil vom 12. Mai 1998, Martínez Sala (C-85/96, EU:C:1998:217, Rn. 25), alle Vergünstigungen betroffen, die – ob sie an einen Arbeitsvertrag anknüpften oder nicht – den inländischen Arbeitnehmern hauptsächlich wegen ihrer objektiven Arbeitnehmereigenschaft oder einfach wegen ihres Wohnorts im Inland gewährt würden und deren Ausdehnung auf die Arbeitnehmer, die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats seien, als geeignet erscheine, deren Mobilität zu erleichtern.
Das vorlegende Gericht fragt sich allerdings, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Maßnahme zu einer mittelbaren Diskriminierung von Wanderarbeitnehmern im Sinne von Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 führt.
Hierzu hebt es u. a. hervor, dass sich in den vom Gerichtshof entschiedenen Rechtssachen das Wohnsitzerfordernis auf das gesamte Staatsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats erstreckt habe. Da im Ausgangsverfahren das Wohnsitzerfordernis auf einen Teil des deutschen Staatsgebiets beschränkt sei, schließe die nationale Maßnahme fast ausschließlich Kinder von Arbeitnehmern mit Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat von der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden sozialen Leistung aus, während nur eine begrenzte Zahl von Kindern von Wanderarbeitnehmern betroffen sei.
Sollte diese nationale Maßnahme jedoch als mittelbar diskriminierend angesehen werden, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob sie durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses, im vorliegenden Fall die Notwendigkeit, eine effektive Organisation des Schulwesens sicherzustellen, gerechtfertigt werden kann. Dieses legitime Ziel falle unter die Schulpflicht, die zum Ziel habe, das in Art. 26 der am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommenen Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in Art. 14 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Recht auf Bildung sicherzustellen.
Die Organisation des Schulwesens sei untrennbar gebietsbezogen, weshalb das von den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften vorgesehene Wohnsitzerfordernis gerechtfertigt werden könnte. Es verweist insoweit auf Art. 10 der Verordnung Nr. 492/2011, der das Recht auf Zugang zum allgemeinen Unterricht von einem Wohnsitzerfordernis im Mitgliedstaat abhängig mache, wie der Gerichtshof im Urteil vom 13. Juni 2013, Hadj Ahmed (C-45/12, EU:C:2013:390, Rn. 31), festgestellt habe.
Außerdem sei das Absehen von einem solchen Wohnsitzerfordernis schwerlich umzusetzen. Es sei nämlich schwierig, bei einem Schüler, der in einem anderen Mitgliedstaat als dem der besuchten Schule wohne, die nächstgelegene Schule zu bestimmen, um die Höhe der zu erstattenden Schülerbeförderungskosten zu berechnen.
Unter diesen Umständen hat das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 dahin gehend auszulegen, dass einer Vorschrift des nationalen Rechts, die die Pflicht nationaler Gebietskörperschaften (Landkreise) zur Schülerbeförderung auf die Einwohner des übergeordneten Gliedstaats (Bundesland) beschränkt, mittelbar diskriminierende Wirkung zukommt, auch wenn aufgrund der tatsächlichen Umstände feststeht, dass durch das Wohnsitzerfordernis ganz überwiegend Einwohner des übrigen Staatsgebiets des Mitgliedstaats von der Leistung ausgeschlossen werden?
Falls Frage 1 zu bejahen ist:
Stellt die effektive Organisation des Schulwesens ein zwingendes Erfordernis des Allgemeinwohls dar, das eine mittelbare Diskriminierung zu rechtfertigen vermag?
Zur ersten Vorlagefrage
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 dahin auszulegen ist, dass eine nationale Rechtsvorschrift, die die Übernahme der Schülerbeförderung durch ein Bundesland von der Voraussetzung eines Wohnsitzes in diesem Bundesland abhängig macht, eine mittelbar diskriminierende Maßnahme darstellt.
Zur Beantwortung dieser Frage ist als Erstes darauf hinzuweisen, dass jeder Unionsbürger, der vom Recht auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer Gebrauch macht und in einem anderen Mitgliedstaat als seinem Wohnsitzstaat eine Berufstätigkeit ausübt, unabhängig von seinem Wohnort und seiner Staatsangehörigkeit in den Anwendungsbereich von Art. 45 AEUV, den die Verordnung Nr. 492/2011 konkretisieren soll, fällt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Februar 2006, Ritter-Coulais, C-152/03, EU:C:2006:123, Rn. 31).
Daher fällt ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der zwar seine Arbeitsstelle in diesem Mitgliedstaat behält, seinen Wohnsitz aber in einen anderen Mitgliedstaat verlegt, in den Anwendungsbereich der Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und damit in den der Verordnung Nr. 492/2011 (vgl. in diesem Sinne bezüglich der Verordnung [EWG] Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft [ABl. 1968, L 257, S. 2], die durch die Verordnung Nr. 492/2011 aufgehoben und ersetzt wurde, Urteil vom 18. Juli 2007, Hartmann, C-212/05, EU:C:2007:437, Rn. 19).
Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass diese Verordnung Grenzarbeitnehmern zugutekommt, wie aus ihren Erwägungsgründen 4 und 5 hervorgeht, wonach das Recht aller Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten, eine von ihnen gewählte Tätigkeit innerhalb der Union auszuüben, gleichermaßen Dauerarbeitnehmern, Saisonarbeitern, Grenzarbeitnehmern oder Arbeitnehmern, die ihre Tätigkeit im Zusammenhang mit einer Dienstleistung ausüben, zustehen sollte. Gleichermaßen wird in Art. 7 der Verordnung Nr. 492/2011, dessen Wortlaut mit dem von Art. 7 der Verordnung Nr. 1612/68 identisch ist, ohne Einschränkung auf den „Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist“, Bezug genommen (Urteile vom 27. November 1997, Meints, C-57/96, EU:C:1997:564, Rn. 50, und vom 18. Juli 2007, Geven, C-213/05, EU:C:2007:438, Rn. 15).
Zudem geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der zwar seine Arbeitsstelle in diesem Mitgliedstaat behält, seinen Wohnsitz aber in einen anderen Mitgliedstaat verlegt und seitdem seine berufliche Tätigkeit als Grenzarbeitnehmer ausübt, den Status eines „Wanderarbeitnehmers“ im Sinne der Verordnung Nr. 492/2011 für sich in Anspruch nehmen kann (vgl. in Bezug auf die Verordnung Nr. 1612/68, die durch die Verordnung Nr. 492/2011 aufgehoben und ersetzt wurde, Urteil vom 18. Juli 2007, Hartmann, C-212/05, EU:C:2007:437, Rn. 20).
Vorliegend betrifft das Ausgangsverfahren eine deutsche Staatsangehörige, die in Deutschland arbeitet, aber in Frankreich wohnt. Der Anknüpfungspunkt an das Unionsrecht liegt folglich im Wohnort dieser Arbeitnehmerin in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dessen Staatsangehörige sie ist. Da diese Arbeitnehmerin von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat, ist sie daher berechtigt, sich gegenüber dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, auf die Verordnung Nr. 492/2011, die die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union umsetzen soll, und insbesondere deren Art. 7 Abs. 2 zu berufen.
Als Zweites ist darauf hinzuweisen, dass die Familienangehörigen eines Wanderarbeitnehmers mittelbare Nutznießer der diesem durch Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 zuerkannten Gleichbehandlung sind (vgl. in Bezug auf Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1612/68, nunmehr Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011, Urteil vom 20. Juni 2013, Giersch u. a., C-20/12, EU:C:2013:411, Rn. 40).
Der in Art. 7 Abs. 2 dieser Verordnung genannte Begriff der sozialen Vergünstigung umfasst alle Vergünstigungen, die – ob sie an einen Arbeitsvertrag anknüpfen oder nicht – den inländischen Arbeitnehmern einfach wegen ihres Wohnorts im Inland gewährt werden und deren Ausdehnung auf die Arbeitnehmer, die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats sind, als geeignet erscheint, deren Mobilität zu erleichtern (vgl. u. a. Urteile vom 12. Mai 1998, Martínez Sala, C-85/96, EU:C:1998:217, Rn. 25, und vom 20. Juni 2013, Giersch u. a., C-20/12, EU:C:2013:411, Rn. 38).
Daraus folgt, dass die Übernahme der Schülerbeförderung eines Familienangehörigen eine soziale Vergünstigung im Sinne dieser Bestimmung darstellt.
Als Drittes ist darauf hinzuweisen, dass Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 eine besondere Ausprägung des in Art. 45 AEUV enthaltenen Gleichbehandlungsgrundsatzes auf dem spezifischen Gebiet der Gewährung sozialer Vergünstigungen und daher ebenso wie Art. 45 AEUV auszulegen ist (Urteil vom 10. Oktober 2019, Krah, C-703/17, EU:C:2019:850, Rn. 21, vgl. in Bezug auf Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1612/68, nunmehr Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011, auch Urteil vom 20. Juni 2013, Giersch u. a., C-20/12, EU:C:2013:411, Rn. 35).
Der Gleichbehandlungsgrundsatz verbietet nicht nur offensichtliche Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle verschleierten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungskriterien tatsächlich zum gleichen Ergebnis führen (Urteil vom 10. Oktober 2019, Krah, C-703/17, EU:C:2019:850, Rn. 23, vgl. in Bezug auf Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1612/68, nunmehr Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011, auch Urteil vom 20. Juni 2013, Giersch u. a., C-20/12, EU:C:2013:411, Rn. 41 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
So stellt die Voraussetzung eines Wohnsitzes im Inland, die von einer nationalen Rechtsvorschrift vorgeschrieben ist, um in den Genuss von Erziehungsgeld zu kommen, eine mittelbare Diskriminierung dar, da sie sich ihrem Wesen nach eher auf Wanderarbeitnehmer als auf inländische Arbeitnehmer auswirken kann und folglich die Gefahr besteht, dass sie Wanderarbeitnehmer besonders benachteiligt (vgl. in Bezug auf die Verordnung Nr. 1612/68, die durch die Verordnung Nr. 492/2011 aufgehoben und ersetzt wurde, Urteil vom 18. Juli 2007, Hartmann, C-212/05, EU:C:2007:437, Rn. 28 bis 31).
Daraus folgt, dass sich die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Maßnahme, da sie die Erstattung der Schülerbeförderungskosten von der Voraussetzung eines Wohnsitzes im Bundesland abhängig macht, ihrem Wesen nach eher auf Wanderarbeitnehmer, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, auswirken kann. Infolgedessen stellt sie eine durch Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 verbotene mittelbare Diskriminierung dar.
Dieses Ergebnis kann nicht durch die Tatsache in Frage gestellt werden, dass inländische Arbeitnehmer, die in anderen Bundesländern wohnen, auch unter dieser nationalen Maßnahme leiden.
Zum einen ist nämlich darauf hinzuweisen, dass es, sobald feststeht, dass sich die nationale Regelung ihrem Wesen nach eher auf Grenzarbeitnehmer als auf inländische Arbeitnehmer auswirken kann, für die Einstufung als mittelbare Diskriminierung keine Rolle spielt, dass die nationale Maßnahme gegebenenfalls sowohl die Inländer, die ein solches Kriterium nicht erfüllen können, als auch die Wanderarbeitnehmer betrifft. Um eine Maßnahme als mittelbar diskriminierend qualifizieren zu können, muss sie nämlich nicht bewirken, dass alle Inländer begünstigt werden oder dass unter Ausschluss der Inländer nur die Grenzarbeitnehmer benachteiligt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. März 2019, Gemeinsamer Betriebsrat EurothermenResort Bad Schallerbach, C-437/17, EU:C:2019:193, Rn. 31 und 32, vgl. in Bezug auf die Verordnung Nr. 1612/68, die durch die Verordnung Nr. 492/2011 aufgehoben und ersetzt wurde, auch Urteil vom 20. Juni 2013, Giersch u. a., C-20/12, EU:C:2013:411, Rn. 45).
Zum anderen ist es, da die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Diskriminierung auf die Voraussetzung eines Wohnsitzes in einem Teil des Staatsgebiets eines Mitgliedstaats zurückgeht und nicht auf eine Staatsangehörigkeitsvoraussetzung, für die Feststellung einer Diskriminierung, wie sie in den Rn. 30 und 31 des vorliegenden Urteils definiert wird, unerheblich, dass die inländischen Arbeitnehmer, die in einem anderen Bundesland wohnen, durch dieses Wohnsitzerfordernis ebenfalls diskriminiert werden. Ihre Situation fällt gegebenenfalls unter den Begriff der umgekehrten Diskriminierung und wird vom Unionsrecht nicht berücksichtigt (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 19. Juni 2008, Kurt, C-104/08, nicht veröffentlicht, EU:C:2008:357, Rn. 22 und 23).
Jedenfalls stellt eine solche nationale Maßnahme eine durch Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 verbotene Beeinträchtigung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer dar, da sie, auch wenn sie unterschiedslos anwendbar ist, Staatsangehörige eines Mitgliedstaats daran hindern oder davon abhalten kann, ihren Herkunftsmitgliedstaat zu verlassen, um ihr Recht auf Freizügigkeit auszuüben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Dezember 1995, Bosman, C-415/93, EU:C:1995:463, Rn. 96).
Nach alledem ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 dahin auszulegen ist, dass eine nationale Rechtsvorschrift, die die Übernahme der Schülerbeförderung durch ein Bundesland von der Voraussetzung eines Wohnsitzes in diesem Bundesland abhängig macht, eine mittelbare Diskriminierung darstellt, da sie sich ihrem Wesen nach eher auf Grenzarbeitnehmer als auf inländische Arbeitnehmer auswirken kann.
Zur zweiten Vorlagefrage
Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 dahin auszulegen ist, dass die effektive Organisation des Schulwesens einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellt, der eine als mittelbare Diskriminierung eingestufte nationale Maßnahme rechtfertigen kann.
Es ist darauf hinzuweisen, dass eine mittelbare Diskriminierung grundsätzlich verboten ist, sofern sie nicht objektiv gerechtfertigt ist. Dafür muss sie geeignet sein, die Verwirklichung eines legitimen Ziels zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was zu seiner Erreichung erforderlich ist (Urteile vom 20. Juni 2013, Giersch u. a., C-20/12, EU:C:2013:411, Rn. 46, sowie vom 10. Juli 2019, Aubriet, C-410/18, EU:C:2019:582, Rn. 29).
Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass mit einer Maßnahme, die ein Mitgliedstaat trifft, um ein hohes Ausbildungsniveau der gebietsansässigen Bevölkerung zu gewährleisten, ein legitimes Ziel verfolgt wird, das eine mittelbare Diskriminierung rechtfertigen kann, und dass ein Hochschulstudium ein im allgemeinen Interesse liegendes Ziel ist, das auf Unionsebene anerkannt ist (Urteile vom 20. Juni 2013, Giersch u. a., C-20/12, EU:C:2013:411, Rn. 53, sowie vom 10. Juli 2019, Aubriet, C-410/18, EU:C:2019:582, Rn. 31).
Daraus folgt, dass das vom vorlegenden Gericht in der vorliegenden Rechtssache genannte Ziel, nämlich die effiziente Organisation des Schulwesens, da es das von Art. 14 der Grundrechtecharta gewährleistete Recht auf Bildung betrifft, ein legitimes Ziel im Sinne der in Rn. 39 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung darstellen kann.
Zum einen allerdings gehören die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften zwar zu einem Gesetz über die Organisation des rheinland-pfälzischen Schulsystems, doch betreffen sie ausschließlich die Organisation der Schülerbeförderung in diesem Bundesland. Zum anderen belegt die Tatsache, dass gemäß § 69 des Rheinland-pfälzischen Schulgesetzes der Landkreis oder die kreisfreie Stadt, in deren Gebiet die Schülerin oder der Schüler den Wohnsitz hat, die Beförderungskosten trägt, wenn eine Schule außerhalb von Rheinland-Pfalz besucht wird, dass die Organisation der Schülerbeförderung auf der Ebene des Bundeslands und die Organisation des Schulwesens innerhalb dieses Bundeslands nicht zwangsläufig miteinander verknüpft sind.
Daher weisen – wie die Europäische Kommission bemerkt – die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Vorschriften keine hinreichend enge Verbindung mit der Organisation des Schulwesens auf, dass davon ausgegangen werden könnte, dass diese Vorschriften ein solches legitimes Ziel verfolgen.
Jedenfalls kann das den Parteien des Ausgangsverfahrens entgegengehaltene Wohnsitzerfordernis nicht als für die Planung und Organisation der Schülerbeförderung unabdingbar angesehen werden, da, wie das vorlegende Gericht ausführt, andere Maßnahmen in Betracht gezogen werden könnten. Insbesondere könnte für die Berechnung der zu erstattenden Schülerbeförderungskosten der Wohnsitz des Schülers „fiktiv dorthin verlegt werden, wo die Luftlinie zwischen tatsächlichem Wohnort und nächstgelegener Schule die Landesgrenze schneidet“.
Hierzu ist hervorzuheben, dass die vom vorlegenden Gericht erwähnte Tatsache, dass solche alternativen Maßnahmen von den nationalen Behörden schwieriger umzusetzen seien, nicht ausreicht, um für sich genommen die Beeinträchtigung einer durch den AEU-Vertrag gewährleisteten Grundfreiheit zu rechtfertigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Mai 2016, Kohll und Kohll-Schlesser, C-300/15, EU:C:2016:361, Rn. 59) und infolgedessen eine Beeinträchtigung im Hinblick auf Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 zu rechtfertigen.
Nach alledem ist auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 dahin auszulegen ist, dass praktische Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der effizienten Organisation der Schülerbeförderung in einem Bundesland keinen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen, der eine als mittelbare Diskriminierung eingestufte nationale Maßnahme rechtfertigen kann.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union ist dahin auszulegen, dass eine nationale Rechtsvorschrift, die die Übernahme der Schülerbeförderung durch ein Bundesland von der Voraussetzung eines Wohnsitzes in diesem Bundesland abhängig macht, eine mittelbare Diskriminierung darstellt, da sie sich ihrem Wesen nach eher auf Grenzarbeitnehmer als auf inländische Arbeitnehmer auswirken kann.
Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 ist dahin auszulegen, dass praktische Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der effizienten Organisation der Schülerbeförderung in einem Bundesland keinen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen, der eine als mittelbare Diskriminierung eingestufte nationale Maßnahme rechtfertigen kann.
Unterschriften
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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