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EuGH 19.12.2019 - C-355/18, C-356/18, C-357/18
EuGH 19.12.2019 - C-355/18, C-356/18, C-357/18 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer) - 19. Dezember 2019 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Freier Dienstleistungsverkehr – Direktversicherung (Lebensversicherung) – Richtlinien 90/619/EWG, 92/96/EWG, 2002/83/EG und 2009/138/EG – Rücktrittsrecht – Unzutreffende Information über die Modalitäten der Ausübung des Rücktrittsrechts – Form des Rücktritts – Auswirkungen auf die Verpflichtungen des Versicherers – Frist – Ablauf der Rücktrittsfrist – Zulässigkeit des Rücktritts von einem gekündigten Vertrag – Zahlung des Rückkaufswerts – Erstattung der gezahlten Prämien – Anspruch auf Vergütungszinsen – Verjährung“
Leitsatz
In den verbundenen Rechtssachen C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18
betreffend vier Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesgericht Salzburg (Österreich) mit Entscheidungen vom 16. Mai 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Mai 2018 (C-355/18 bis C-357/18), bzw. vom Bezirksgericht für Handelssachen Wien (Österreich) mit Entscheidung vom 12. Juli 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Juli 2018 (C-479/18), in den Verfahren
Barbara Rust-Hackner (C-355/18),
Christian Gmoser (C-356/18),
Bettina Plackner (C-357/18)
gegen
Nürnberger Versicherung Aktiengesellschaft Österreich
und
KL
gegen
UNIQA Österreich Versicherungen AG,
LK
gegen
DONAU Versicherung AG Vienna Insurance Group,
MJ
gegen
Allianz Elementar Lebensversicherungs-Aktiengesellschaft,
NI
gegen
Allianz Elementar Lebensversicherungs-Aktiengesellschaft (C-479/18)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin) sowie der Richter M. Ilešič, J. Malenovský und F. Biltgen,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: L. Carrasco Marco, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. April 2019,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
von Frau Rust-Hackner, Herrn Gmoser, Frau Plackner und KL, vertreten durch Rechtsanwalt N. Nowak,
von LK, vertreten durch Rechtsanwalt M. Poduschka,
von MJ und NI, vertreten durch Rechtsanwalt P. Mandl,
der Nürnberger Versicherung Aktiengesellschaft Österreich, der UNIQA Österreich Versicherungen AG und der Allianz Elementar Lebensversicherungs-Aktiengesellschaft, vertreten durch Rechtsanwalt P. Konwitschka,
der DONAU Versicherung AG Vienna Insurance Group, vertreten durch die Rechtsanwälte D. Altenburger und G. Hoffmann,
der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Schmoll als Bevollmächtigte,
der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Garofoli, avvocato dello Stato,
der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Tserepa-Lacombe, K.-P. Wojcik und G. Braun als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 11. Juli 2019
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 15 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie 90/619/EWG des Rates vom 8. November 1990 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs sowie zur Änderung der Richtlinie 79/267/EWG (ABl. 1990, L 330, S. 50) in der durch die Richtlinie 92/96/EWG des Rates vom 10. November 1992 (ABl. 1992, L 360, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 90/619), von Art. 31 der Richtlinie 92/96/EWG des Rates vom 10. November 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 79/267/EWG und 90/619/EWG (Dritte Richtlinie Lebensversicherung) (ABl. 1992, L 360, S. 1), von Art. 35 Abs. 1 und Art. 36 der Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. November 2002 über Lebensversicherungen (ABl. 2002, L 345, S. 1) und von Art. 185 Abs. 1 und Art. 186 Abs. 1 der Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II) (ABl. 2009, L 335, S. 1).
Sie ergehen im Rahmen von sieben Rechtsstreitigkeiten. Drei davon sind beim Landesgericht Salzburg (Österreich) anhängig. Es klagen dort Frau Barbara Rust-Hackner, Herr Christian Gmoser bzw. Frau Bettina Plackner gegen die Nürnberger Versicherung Aktiengesellschaft Österreich (im Folgenden: Nürnberger). Vier weitere Rechtsstreitigkeiten sind beim Bezirksgericht für Handelssachen Wien (Österreich) anhängig. Dort klagen KL gegen die UNIQA Österreich Versicherungen AG (im Folgenden: UNIQA), LK gegen die DONAU Versicherung AG Vienna Insurance Group (im Folgenden: DONAU), MJ gegen die Allianz Elementar Lebensversicherungs-Aktiengesellschaft (im Folgenden: Allianz) bzw. NI gegen Allianz. Es geht jeweils um die Tragweite und die Frist für die Ausübung des Rechts auf Rücktritt von einem Lebensversicherungsvertrag.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 90/619
Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619, die durch die Richtlinie 2002/83 aufgehoben wurde, lautete:
„Jeder Mitgliedstaat schreibt vor, dass der Versicherungsnehmer eines individuellen Lebensversicherungsvertrags von dem Zeitpunkt an, zu dem der Versicherungsnehmer davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist, über eine Frist verfügt, die zwischen 14 und 30 Tagen betragen kann, um von dem Vertrag zurückzutreten.
Die Mitteilung des Versicherungsnehmers, dass er vom Vertrag zurücktritt, befreit ihn für die Zukunft von allen aus diesem Vertrag resultierenden Verpflichtungen.
Die übrigen rechtlichen Wirkungen des Rücktritts und die dafür erforderlichen Voraussetzungen werden gemäß dem auf den Versicherungsvertrag nach Artikel 4 anwendbaren Recht geregelt, insbesondere was die Modalitäten betrifft, nach denen der Versicherungsnehmer davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist.“
Richtlinie 92/96
Der 23. Erwägungsgrund der Richtlinie 92/96, die ebenfalls durch die Richtlinie 2002/83 aufgehoben wurde, lautete:
„Im Rahmen eines einheitlichen Versicherungsmarkts wird dem Verbraucher eine größere und weiter gefächerte Auswahl von Verträgen zur Verfügung stehen. Um diese Vielfalt und den verstärkten Wettbewerb voll zu nutzen, muss er im Besitz der notwendigen Informationen sein, um den seinen Bedürfnissen am ehesten entsprechenden Vertrag auszuwählen. Da die Dauer der Verpflichtungen sehr lang sein kann, ist diese Information für den Verbraucher noch wichtiger. Folglich sind die Mindestvorschriften zu koordinieren, damit er klare und genaue Angaben über die wesentlichen Merkmale der ihm angebotenen Produkte und über die Stellen erhält, an die etwaige Beschwerden der Versicherungsnehmer, Versicherten oder Begünstigten des Vertrages zu richten sind.“
Art. 31 der Richtlinie 92/96 bestimmte:
„(1) Vor Abschluss des Versicherungsvertrags sind dem Versicherungsnehmer mindestens die in Anhang II Buchstabe A aufgeführten Angaben mitzuteilen.
…
(4) Die Durchführungsvorschriften zu diesem Artikel und zu Anhang II werden von dem Mitgliedstaat der Verpflichtung erlassen.“
Anhang II („Informationen für die Versicherungsnehmer“) der Richtlinie 92/96 sah vor:
„Dem Versicherungsnehmer sind die nachfolgenden Informationen entweder (A) vor Abschluss des Vertrages oder (B) während der Laufzeit des Vertrages mitzuteilen. Die Informationen sind eindeutig und detailliert schriftlich in einer Amtssprache des Mitgliedstaats der Verpflichtung abzufassen.
…
A. Vor Abschluss des Vertrages mitzuteilende Informationen
Informationen über das Versicherungsunternehmen
Informationen über die Versicherungspolicen
…
…
a.13 Modalitäten der Ausübung des Widerrufs und Rücktrittrechts
…“
Richtlinie 2002/83
In den Erwägungsgründen 46 und 52 der Richtlinie 2002/83, die durch die Richtlinie 2009/138 aufgehoben wurde, hieß es:
Im Rahmen des Binnenmarkts liegt es im Interesse des Versicherungsnehmers, dass er Zugang zu einer möglichst weiten Palette von in der Gemeinschaft angebotenen Versicherungsprodukten hat, um aus ihnen das seinen Bedürfnissen am besten entsprechende Angebot auswählen zu können. Der Mitgliedstaat, in dem die Verpflichtung eingegangen wird, hat darauf zu achten, dass alle in der Gemeinschaft angebotenen Versicherungsprodukte ungehindert auf seinem Hoheitsgebiet vertrieben werden können, soweit sie nicht den gesetzlichen Vorschriften, die in diesem Mitgliedstaat das Allgemeininteresse schützen, zuwiderlaufen und dieses Interesse nicht durch die Regeln des Herkunftsmitgliedstaats geschützt wird; dies gilt jedoch nur unter der Bedingung, dass die betreffenden Vorschriften in nichtdiskriminierender Weise auf alle Unternehmen angewendet werden, die in diesem Mitgliedstaat Geschäfte betreiben, und dass sie für das gewünschte Ziel objektiv erforderlich und angemessen sind.
…
Im Rahmen eines Versicherungsbinnenmarkts wird dem Verbraucher eine größere und weiter gefächerte Auswahl von Verträgen zur Verfügung stehen. Um diese Vielfalt und den verstärkten Wettbewerb voll zu nutzen, muss er im Besitz der notwendigen Informationen sein, um den seinen Bedürfnissen am ehesten entsprechenden Vertrag auszuwählen. Da die Dauer der Verpflichtungen sehr lang sein kann, ist diese Information für den Verbraucher noch wichtiger. Folglich sind die Mindestvorschriften zu koordinieren, damit er klare und genaue Angaben über die wesentlichen Merkmale der ihm angebotenen Produkte und über die Stellen erhält, an die etwaige Beschwerden der Versicherungsnehmer, Versicherten oder Begünstigten des Vertrages zu richten sind.“
In Art. 35 („Rücktrittszeitraum“) der Richtlinie 2002/83 war in Abs. 1 bestimmt:
„Jeder Mitgliedstaat schreibt vor, dass der Versicherungsnehmer eines individuellen Lebensversicherungsvertrags von dem Zeitpunkt an, zu dem er davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist, über eine Frist verfügt, die zwischen 14 und 30 Tagen betragen kann, um von dem Vertrag zurückzutreten.
Die Mitteilung des Versicherungsnehmers, dass er vom Vertrag zurücktritt, befreit ihn für die Zukunft von allen aus diesem Vertrag resultierenden Verpflichtungen.
Die übrigen rechtlichen Wirkungen des Rücktritts und die dafür erforderlichen Voraussetzungen werden gemäß dem auf den Versicherungsvertrag nach Artikel 3[1] anwendbaren Recht geregelt, insbesondere was die Modalitäten betrifft, nach denen der Versicherungsnehmer davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist.“
Art. 36 („Angaben für den Versicherungsnehmer“) der Richtlinie 2002/83 bestimmte:
„(1) Vor Abschluss des Versicherungsvertrags sind dem Versicherungsnehmer mindestens die in Anhang III Buchstabe A aufgeführten Angaben mitzuteilen.
…
(4) Die Durchführungsvorschriften zu diesem Artikel und zu Anhang II werden von dem Mitgliedstaat der Verpflichtung erlassen.“
In Anhang III („Informationen für Versicherungsnehmer“) der Richtlinie 2002/83 war bestimmt:
„Dem Versicherungsnehmer sind die nachfolgenden Informationen entweder (A) vor Abschluss des Vertrages oder (B) während der Laufzeit des Vertrages mitzuteilen. Die Informationen sind eindeutig und detailliert schriftlich in einer Amtssprache des Mitgliedstaats der Verpflichtung abzufassen.
…
A. Vor Abschluss des Vertrages mitzuteilende Informationen
Informationen über das Versicherungsunternehmen
Informationen über die Versicherungspolicen
…
…
a.13 Modalitäten der Ausübung des Widerrufs und Rücktrittsrechts
…“
Richtlinie 2009/138
Der 79. Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/138 lautet:
„In einem Versicherungsbinnenmarkt steht den Verbrauchern eine größere und vielfältigere Auswahl an Verträgen zur Verfügung. Wenn ihnen diese Vielfalt und der verschärfte Wettbewerb in vollem Umfang zugutekommen sollen, müssen sie vor Vertragsabschluss und während der gesamten Vertragslaufzeit alle erforderlichen Informationen erhalten, um entscheiden zu können, welcher Vertrag ihren Bedürfnissen am besten entspricht.“
Art. 185 („Informationen für die Versicherungsnehmer“) dieser Richtlinie bestimmt:
„(1) Dem Versicherungsnehmer sind vor Abschluss des Lebensversicherungsvertrags zumindest die in den Absätzen 2, 3 und 4 genannten Informationen mitzuteilen.
…
(3) Folgende Informationen sind bezüglich der Versicherungspolicen mitzuteilen:
…
Modalitäten der Ausübung des Widerrufs und Rücktrittsrechts;
…
(6) Die in den Absätzen 2 bis 5 genannten Informationen sind eindeutig und detailliert schriftlich in einer Amtssprache des Mitgliedstaats der Verpflichtung abzufassen.
…
(8) Die Durchführungsvorschriften zu den Absätzen 1 bis 7 werden von dem Mitgliedstaat der Verpflichtung erlassen.“
In Art. 186 („Rücktrittszeitraum“) der Richtlinie 2009/138 ist in Abs. 1 bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten schreiben vor, dass Versicherungsnehmer eines individuellen Lebensversicherungsvertrags von dem Zeitpunkt an, zu dem sie davon in Kenntnis gesetzt werden, dass der Vertrag geschlossen ist, über eine Frist verfügen, die zwischen 14 und 30 Tagen betragen kann, um von dem Vertrag zurückzutreten.
Die Mitteilung des Versicherungsnehmers, dass er vom Vertrag zurücktritt, befreit ihn für die Zukunft von allen aus diesem Vertrag resultierenden Verpflichtungen.
Die übrigen rechtlichen Wirkungen des Rücktritts und die dafür erforderlichen Voraussetzungen werden gemäß dem auf den Versicherungsvertrag anwendbaren Recht geregelt, insbesondere was die Modalitäten betrifft, nach denen der Versicherungsnehmer davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist.“
Österreichisches Recht
§ 165a des Bundesgesetzes über den Versicherungsvertrag vom 2. Dezember 1958 (BGBl. 2/1959, im Folgenden: VersVG) in der für den Zeitraum vom 1. Januar 1997 bis zum 30. September 2004 geltenden Fassung lautete:
„(1) Der Versicherungsnehmer ist berechtigt, binnen zweier Wochen nach dem Zustandekommen des Vertrags von diesem zurückzutreten. Hat der Versicherer vorläufige Deckung gewährt, so gebührt ihm hierfür die ihrer Dauer entsprechende Prämie.
(2) Hat der Versicherer der Verpflichtung zur Bekanntgabe seiner Anschrift (§ 9a Abs. 1 Z 1 [des Bundesgesetzes über den Betrieb und die Beaufsichtigung der Vertragsversicherung (Versicherungsaufsichtsgesetz, VAG) vom 18. Oktober 1978 (BGBl. 569/1978)] nicht entsprochen, so beginnt die Frist zum Rücktritt nach Abs. 1 nicht zu laufen, bevor dem Versicherungsnehmer diese Anschrift bekannt wird.
(3) Die vorstehenden Absätze gelten nicht für Gruppenversicherungsverträge und für Verträge mit einer Laufzeit von höchstens sechs Monaten.“
§ 165a VersVG in der für den Zeitraum vom 1. Januar 2007 bis zum 30. Juni 2012 geltenden Fassung lautete:
„(1) Der Versicherungsnehmer ist berechtigt, binnen 30 Tagen nach seiner Verständigung vom Zustandekommen des Vertrags von diesem zurückzutreten. Hat der Versicherer vorläufige Deckung gewährt, so gebührt ihm hierfür die ihrer Dauer entsprechende Prämie.
(2) Hat der Versicherer der Verpflichtung zur Bekanntgabe seiner Anschrift (§ 9a Abs. 1 Z 1 VAG) nicht entsprochen, so beginnt die Frist zum Rücktritt nach Abs. 1 nicht zu laufen, bevor dem Versicherungsnehmer diese Anschrift bekannt wird.
(3) Die vorstehenden Absätze gelten nicht für Gruppenversicherungsverträge und für Verträge mit einer Laufzeit von höchstens sechs Monaten.“
§ 165a VersVG in der für den Zeitraum vom 1. Juli 2012 bis zum 31. Dezember 2015 geltenden Fassung lautete:
„(1) Der Versicherungsnehmer ist berechtigt, binnen 30 Tagen nach seiner Verständigung vom Zustandekommen des Vertrags von diesem zurückzutreten. Hat der Versicherer vorläufige Deckung gewährt, so gebührt ihm hierfür die ihrer Dauer entsprechende Prämie.
(2) Hat der Versicherer der Verpflichtung zur Bekanntgabe seiner Anschrift (§ 9a Abs. 1 Z 1 VAG) nicht entsprochen, so beginnt die Frist zum Rücktritt nach Abs. 1 nicht zu laufen, bevor dem Versicherungsnehmer diese Anschrift bekannt wird.
(2a) Ist der Versicherungsnehmer Verbraucher (§ 1 Abs. 1 Z 2 [des Konsumentenschutzgesetzes (KSchG) vom 8. März 1979 (BGBl. 140/1979)], so beginnt die Frist zum Rücktritt nach Abs. 1 und 2 erst dann zu laufen, wenn er auch über dieses Rücktrittsrecht belehrt worden ist.
(3) Die vorstehenden Absätze gelten nicht für Gruppenversicherungsverträge und für Verträge mit einer Laufzeit von höchstens sechs Monaten.“
§ 176 VersVG in der im BGBl. 509/1994 veröffentlichten Fassung bestimmt:
„(1) Wird eine Kapitalversicherung für den Todesfall, die in der Art genommen ist, dass der Eintritt der Verpflichtung des Versicherers zur Zahlung des vereinbarten Kapitals gewiss ist, durch Rücktritt, Kündigung oder Anfechtung aufgehoben, so hat der Versicherer den auf die Versicherung entfallenden Rückkaufswert zu erstatten.
…
(3) Der Rückkaufswert ist nach den anerkannten Regeln der Versicherungsmathematik auf Grund der Rechnungsgrundlagen der Prämienkalkulation für den Schluss der laufenden Versicherungsperiode Versicherung zu berechnen. Prämienrückstände werden vom Rückkaufswert abgesetzt.
(4) Der Versicherer ist zu einem Abzug nur berechtigt, wenn dieser vereinbart und angemessen ist.“
§ 9a VAG in der für den Zeitraum vom 1. August 1996 bis zum 9. Dezember 2007 geltenden Fassung bestimmte:
„(1) Der Versicherungsnehmer ist bei Abschluss eines Versicherungsvertrages über ein im Inland belegenes Risiko vor Abgabe seiner Vertragserklärung schriftlich zu informieren über
Name, Anschrift des Sitzes und Rechtsform des Versicherungsunternehmens, gegebenenfalls auch der Zweitniederlassung, über die der Versicherungsvertrag abgeschlossen wird,
…
die Umstände, unter denen der Versicherungsnehmer den Abschluss des Versicherungsvertrages widerrufen oder von diesem zurücktreten kann.“
§ 9a VAG in der für die Zeit vom 10. Dezember 2007 bis zum 31. Dezember 2015 geltenden Fassung bestimmte:
„(1) Der Versicherungsnehmer ist bei Abschluss eines Direktversicherungsvertrags über ein im Inland belegenes Risiko vor Abgabe seiner Vertragserklärung schriftlich zu informieren über
Name, Anschrift des Sitzes und Rechtsform des Versicherungsunternehmens, gegebenenfalls auch der Zweitniederlassung, über die der Versicherungsvertrag abgeschlossen wird,
…
die Umstände, unter denen der Versicherungsnehmer den Abschluss des Versicherungsvertrages widerrufen oder von diesem zurücktreten kann.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Rechtssachen C-355/18 bis C-357/18
Frau Rust-Hackner, Herr Gmoser und Frau Plackner schlossen bei Nürnberger jeweils eine fondsgebundene Lebensversicherung ab. Aus den Vorlageentscheidungen geht hervor, dass die Versicherungsverträge allesamt die Belehrung enthielten, dass der Rücktritt zu seiner Wirksamkeit der Schriftform bedürfe.
Frau Rust-Hackner kündigte ihre Lebensversicherung am 14. März 2017. Am 23. Mai 2017 erklärte sie wegen fehlerhafter Aufklärung über das Rücktrittsrecht durch Nürnberger den Rücktritt.
Herr Gmoser kaufte 2010 seinen 1998 abgeschlossenen Vertrag zurück. Erst am 3. Mai 2017 erklärte er den Rücktritt, und zwar ebenfalls wegen fehlerhafter Aufklärung über das Rücktrittsrecht.
Aus dem gleichen Grund erklärte auch Frau Plackner am 27. Mai 2017 den Rücktritt von ihrer noch laufenden Lebensversicherung, die sie im Jahr 2000 abgeschlossen hatte.
Das österreichische erstinstanzliche Gericht gab den Klagen von Frau Rust-Hackner, Herrn Gmoser und Frau Plackner auf Rückzahlung sämtlicher gezahlter Prämien nebst Zinsen wegen ungerechtfertigter Bereicherung von Nürnberger statt. Es begründete seine Entscheidung damit, dass der Rücktritt nach österreichischem Recht nicht in Schriftform erfolgen müsse, weshalb die Belehrung, die Nürnberger den Versicherungsnehmern erteilt habe, fehlerhaft gewesen sei. Nach dem Urteil vom 19. Dezember 2013, Endress (C-209/12, EU:C:2013:864), sei eine fehlerhafte Belehrung aber dem Fehlen einer Belehrung gleichzusetzen. Deshalb habe die Rücktrittsfrist nicht zu laufen begonnen, was zu einem unbefristeten Rücktrittsrecht führe, das auch nach Kündigung des Vertrags ausgeübt werden könne.
Als Berufungsgericht fragt sich das Landesgericht Salzburg, ob die Belehrung über das Erfordernis der Schriftlichkeit der Rücktrittserklärung, obwohl durch sie keine Irreführung des Versicherungsnehmers über den Bestand des Kündigungsrechts an sich bewirkt wird, nach Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619 fehlerhaft ist und somit ein unbefristetes Rücktrittsrecht gewährt.
In den vorliegenden Fällen habe die Belehrung den gesetzlichen Vorgaben entsprochen und die Frist für die Ausübung des Rücktrittsrechts richtig wiedergegeben, so dass der Versicherungsnehmer über sein Recht informiert gewesen sei. Außerdem sei die Schriftform nach österreichischem Recht nicht untersagt. Sie diene der Rechtssicherheit und damit auch dem Interesse des Versicherungsnehmers selbst. Im Übrigen erscheine der Hinweis auf die Schriftlichkeit des Rücktritts grundsätzlich nicht geeignet, den Versicherungsnehmer von einem rechtzeitigen Rücktritt abzuhalten.
Sowohl im Hinblick auf das Urteil vom 19. Dezember 2013, Endress (C-209/12, EU:C:2013:864), als auch im Hinblick auf den im 23. Erwägungsgrund der Richtlinie 92/96 angeführten Informationszweck stelle sich aber die Frage, ob dem Versicherungsnehmer in solchen Fällen bei richtlinienkonformer Auslegung des österreichischen Rechts ein unbefristetes Rücktrittsrecht zuzuerkennen sei.
In den Rechtssachen C-355/18 und C-356/18 stelle sich darüber hinaus die Frage, ob ein Rücktritt vom Lebensversicherungsvertrag wegen fehlerhafter Belehrung über das Rücktrittsrecht auch noch nach Auflösung des Versicherungsvertrags infolge Kündigung bzw. Rückkauf durch den Versicherungsnehmer erfolgen könne.
Nach Beendigung des Lebensversicherungsvertrags und der gegenseitigen Leistungserbringung bestünden keinerlei Verpflichtungen mehr aus dem Vertrag, von denen der Versicherungsnehmer im Sinne des Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619 für die Zukunft befreit werden könnte. Ein Rücktritt nach Beendigung des Lebensversicherungsvertrags würde dem Versicherungsnehmer im Übrigen Spekulationsmöglichkeiten auf Kosten des Versicherers und der Versichertengemeinschaft einräumen, was nicht dem beabsichtigten Verbraucherschutz diene.
Das Landesgericht Salzburg hat das Verfahren daher ausgesetzt und dem Gerichtshof in den Rechtssachen C-355/18 und C-356/18 die folgenden beiden Fragen sowie in der Rechtssache C-357/18 die erste dieser beiden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619 in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96 dahin gehend auszulegen, dass die Mitteilung über die Rücktrittsmöglichkeit auch einen Hinweis darauf zu enthalten hat, dass der Rücktritt keiner bestimmten Form bedarf?
Kann der Rücktritt wegen fehlerhafter Belehrung über das Rücktrittsrecht auch noch nach Auflösung des Lebensversicherungsvertrags infolge Kündigung (und Rückkauf) durch den Versicherungsnehmer erklärt werden?
Rechtssache C-479/18
Für das Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C-479/18 hat das Bezirksgericht für Handelssachen Wien vier bei ihm anhängige Verfahren verbunden und als „Verfahren A“, „Verfahren B“, „Verfahren C“ bzw. „Verfahren D“ bezeichnet.
Im „Verfahren A“ klagt KL gegen UNIQA. KL schloss bei der Rechtsvorgängerin von UNIQA eine Lebensversicherung mit Laufzeit vom 1. August 1997 bis zum 1. August 2032 ab. Im Antragsformular wurde KL darüber informiert, dass der Rücktritt zu seiner Rechtswirksamkeit der Schriftform bedürfe.
Am 24. Oktober 2017 erklärte KL gegenüber UNIQA den Rücktritt von ihrem Versicherungsvertrag. Da UNIQA diesen Rücktritt ausdrücklich nicht akzeptierte, verlangte KL die Rückzahlung sämtlicher von ihr gezahlter Prämien ohne Risikokosten sowie Zinsen.
Im „Verfahren B“ klagt LK gegen DONAU. LK schloss bei DONAU einen Vertrag über eine Lebensversicherung mit Laufzeit vom 1. Dezember 2003 bis zum 1. Dezember 2022 ab. LK wurde vor Vertragsabschluss nicht über das ihr zustehende Rücktrittsrecht belehrt.
Nachdem LK den Versicherungsvertrag 2013 gekündigt und den Rückkaufswert der Versicherung erhalten hatte, erklärte sie am 4. Januar 2018 den Rücktritt von diesem Versicherungsvertrag, und zwar mit der Begründung, dass sie mangelhaft über ihr Rücktrittsrecht aufgeklärt worden sei. Da DONAU darauf nicht antwortete, fordert LK nunmehr die Rückzahlung sämtlicher von ihr gezahlter Prämien ohne Risikokosten, zuzüglich Zinsen und abzüglich der bereits 2013 erhaltenen Zahlung des Rückkaufswerts.
Im „Verfahren C“ und im „Verfahren D“ klagen MJ bzw. NI gegen Allianz. MJ und NI schlossen bei Allianz jeweils eine Lebensversicherung mit Laufzeit vom 1. Dezember 2011 bis zum 1. Dezember 2037 ab. Im Antragsformular informierte Allianz MJ und NI darüber, dass sie das Recht hätten, „schriftlich“ vom Vertrag zurückzutreten.
2017 erklärten MJ und NI gegenüber ALLIANZ den Rücktritt von ihren Versicherungsverträgen. Da ALLIANZ diesen Rücktritt ausdrücklich nicht akzeptierte, verlangten MJ und NI nunmehr die Rückzahlung sämtlicher von ihnen gezahlter Prämien ohne Risikokosten sowie Zinsen.
Das Bezirksgericht für Handelssachen Wien weist darauf hin, dass sich nach dem Unionsrecht die Voraussetzungen für die Wirksamkeit des Rücktritts, die nicht unmittelbar unionsrechtlich geregelt sind, nach dem nationalen Recht richteten. Im österreichischen Recht sei für die Rücktrittserklärung aber keine besondere Form vorgeschrieben. Als Erstes stelle sich daher die Frage, ob die Rücktrittsfrist im Falle einer fehlerhaften Belehrung über die Modalitäten der Ausübung des Rücktrittsrechts überhaupt zu laufen beginne. In diesem Zusammenhang sei fraglich, ob die durch das Urteil vom 19. Dezember 2013, Endress (C-209/12, EU:C:2013:864), begründete Rechtsprechung einschlägig sei. In diesem Urteil habe der Gerichtshof entschieden, dass der Versicherer dem Versicherungsnehmer, wenn er ihn überhaupt nicht über sein Rücktrittsrecht belehrt habe, nicht entgegenhalten könne, dass die Rücktrittsfrist abgelaufen sei. Zu klären sei daher, ob dies auch für den Fall gelte, dass der Versicherungsnehmer zutreffend über sein Rücktrittsrecht und die dafür zur Verfügung stehende Frist aufgeklärt worden sei, jedoch unzutreffend auf eine Notwendigkeit der Schriftform für seine Erklärung hingewiesen worden sei.
Als Zweites möchte das Bezirksgericht für Handelssachen Wien wissen, ob die Rücktrittsfrist jedenfalls zu dem Zeitpunkt zu laufen beginne, zu dem der Versicherungsnehmer trotz einer fehlerhaften Belehrung durch den Versicherer auf andere Weise tatsächlich von seinem Rücktrittsrecht Kenntnis erlangt habe. Diese Frage könnte zu bejahen sein, wenn die einschlägigen Rechtsvorschriften des Unionsrechts allein darauf abzielten, sicherzustellen, dass der Versicherungsnehmer seine Rechte kenne und dementsprechend ausüben könne. Etwas anderes könnte jedoch gelten, wenn der Zweck des Rücktrittsrechts auch darin läge, die Versicherer zur Einhaltung ihrer Mitteilungspflichten zu motivieren.
Als Drittes stelle sich in dem „Verfahren B“, in dem LK seine Lebensversicherung gekündigt und den Rückkaufswert erhalten habe, so dass für die Zukunft keine Verpflichtungen aus dem Vertrag mehr bestünden, die Frage, ob das Rücktrittsrecht, weil es ausschließlich dazu bestimmt sei, den Versicherungsnehmer für die Zukunft von allen aus dem Vertrag resultierenden Verpflichtungen zu befreien, nicht ohnehin erloschen sei.
Als Viertes sei fraglich, ob der Versicherungsnehmer bei einem Rücktritt wegen verspäteter Belehrung über die Modalitäten der Ausübung des Rücktrittsrechts lediglich Anspruch auf den Rückkaufswert habe oder ob er Anspruch auf Erstattung sämtlicher bereits auf den Vertrag geleisteter Zahlungen habe, mit Ausnahme der für die Dauer einer gewährten Deckung gezahlten Prämien. Dem Rücktrittsrecht würde jegliche praktische Wirksamkeit genommen, wenn der Versicherungsnehmer durch den Rücktritt lediglich den Rückkaufswert erlangen könnte.
Klärungsbedürftig sei schließlich auch die Frage, ob für den bereicherungsrechtlichen Anspruch auf Vergütungszinsen die allgemeine Verjährungsfrist von drei Jahren gelte, was dazu führen würde, dass der Anspruch auf die auf diese drei Jahre entfallenden Zinsen beschränkt wäre.
Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (Österreich) sei die Bestimmung des § 165a Abs. 2 VersVG unionsrechtskonform dahin auszulegen, dass eine fehlerhafte Belehrung über das Rücktrittsrecht einer unterlassenen Belehrung gleichzuhalten sei und dass eine fehlerhafte Belehrung über das Rücktrittsrecht zu einem unbefristeten Rücktrittsrecht des Versicherungsnehmers führe.
Das Bezirksgericht für Handelssachen Wien hat die Verfahren deshalb ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Sind Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619 in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96 bzw. Art. 35 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 bzw. Art. 185 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 186 Abs. 1 der Richtlinie 2009/138 dahin auszulegen, dass – im Falle fehlender nationaler Regelungen über die Wirkungen einer fehlerhaften Belehrung über das Rücktrittsrecht vor Vertragsabschluss – die Frist für die Ausübung des Rücktrittsrechts nicht zu laufen beginnt, wenn das Versicherungsunternehmen in der Belehrung angibt, dass die Ausübung des Rücktritts in schriftlicher Form zu erfolgen hat, obwohl der Rücktritt nach nationalem Recht formfrei möglich ist?
Für den Fall der Bejahung der ersten Frage: Ist Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619 in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96 dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach im Falle einer unterlassenen oder fehlerhaften Belehrung über das Rücktrittsrecht vor Vertragsabschluss die Frist für die Ausübung des Rücktrittsrechts zu jenem Zeitpunkt zu laufen beginnt, in dem der Versicherungsnehmer – auf welchem Weg auch immer – von seinem Rücktrittsrecht Kenntnis erlangt hat?
Ist Art. 35 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 dahin auszulegen, dass – im Falle fehlender nationaler Regelungen über die Wirkungen einer unterlassenen oder fehlerhaften Belehrung über das Rücktrittsrecht vor Vertragsabschluss – das Recht des Versicherungsnehmers auf Rücktritt vom Vertrag spätestens erlischt, nachdem ihm aufgrund seiner Kündigung des Vertrags der Rückkaufswert ausbezahlt wurde und damit die Vertragspartner die sich aus dem Vertrag ergebenden Pflichten vollständig erfüllt haben?
Für den Fall der Bejahung der ersten und/oder der Verneinung der dritten Frage: Sind Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619 bzw. Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 bzw. Art. 186 Abs. 1 der Richtlinie 2009/138 dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach dem Versicherungsnehmer im Falle der Ausübung seines Rücktrittsrechts der Rückkaufswert (der nach den anerkannten Regeln der Versicherungsmathematik berechnete Zeitwert der Versicherung) zu erstatten ist?
Für den Fall, dass die vierte Frage zu behandeln war und bejaht wurde: Sind Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619 bzw. Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 bzw. Art. 186 Abs. 1 der Richtlinie 2009/138 dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach im Falle der Ausübung des Rücktrittsrechts der Anspruch auf eine pauschale Verzinsung der rückerstatteten Prämien wegen Verjährung auf jenen Anteil beschränkt werden kann, der den Zeitraum der letzten drei Jahre vor Klagserhebung umfasst?
Verfahren vor dem Gerichtshof
Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 22. Juni 2018 sind die Rechtssachen C-355/18 bis C-357/18 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamem Urteil verbunden worden. Mit Beschluss des Gerichtshofs vom 26. Februar 2019 sind die Rechtssachen C-355/18 bis C-357/18 und die Rechtssache C-479/19 zu gemeinsamem mündlichen Verfahren und zu gemeinsamem Urteil verbunden worden.
Mit einem Schriftsatz, der am 22. November 2019 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, haben Nürnberger, UNIQA und Allianz die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt.
Sie machen erstens geltend, dass den Beteiligten Gelegenheit gegeben werden müsse, das Urteil vom 11. September 2019, Romano (C-143/18, EU:C:2019:701), zu erörtern, das zwei Monate nach der Veröffentlichung der Schlussanträge der Generalanwältin in den vorliegenden Rechtssachen ergangen sei. Zweitens müsse den Parteien Gelegenheit gegeben werden, die die Form des Rücktritts betreffenden Ausführungen in Nr. 51 dieser Schlussanträge zu erörtern, mit denen ein neues Argument aufgeworfen werde. Drittens seien die Schlussanträge der Generalanwältin in der österreichischen und in der Schweizer Literatur in einigen zentralen Punkten kritisiert worden, insbesondere, was die Frage angehe, welche Teile der Versicherungsprämien im Falle einer Rückabwicklung des Versicherungsvertrags zurückzuerstatten seien.
Hierzu ist zum einen festzustellen, dass die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und die Verfahrensordnung des Gerichtshofs für die in Art. 23 der Satzung bezeichneten Beteiligten nicht die Möglichkeit vorsehen, eine Stellungnahme zu den Schlussanträgen des Generalanwalts einzureichen (Urteile vom 6. März 2018, Achmea, C-284/16, EU:C:2018:158, Rn. 26, und vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C-585/18, C-624/18 und C-625/18, EU:C:2019:982, Rn. 61).
Zum anderen stellt der Generalanwalt nach Art. 252 Abs. 2 AEUV öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen, in denen nach der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union seine Mitwirkung erforderlich ist. Der Gerichtshof ist weder an diese Schlussanträge noch an ihre Begründung durch den Generalanwalt gebunden. Dass eine Partei nicht mit den Schlussanträgen des Generalanwalts einverstanden ist, kann folglich unabhängig von den darin untersuchten Fragen für sich genommen kein Grund sein, der die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens rechtfertigt (Urteile vom 6. März 2018, Achmea, C-284/16, EU:C:2018:158, Rn. 27, und vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C-585/18, C-624/18 und C-625/18, EU:C:2019:982, Rn. 62).
Der Gerichtshof kann jedoch gemäß Art. 83 seiner Verfahrensordnung jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält, wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs ist, oder wenn ein zwischen den Beteiligten nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist.
Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof nach Anhörung der Generalanwältin jedoch zu der Auffassung gelangt, dass sich aus dem gestellten Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens keine neue Tatsache ergibt, die für seine Entscheidung in den vorliegenden Rechtssachen von Bedeutung sein könnte. Gegenstand des Urteils vom 11. September 2019, Romano (C-143/18, EU:C:2019:701), ist ein Vorabentscheidungsersuchen über die Auslegung von Art. 4 Abs. 2, Art. 5 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2 zweiter Gedankenstrich, Abs. 2 Buchst. c und Abs. 6 sowie Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher und zur Änderung der Richtlinie 90/619/EWG des Rates und der Richtlinien 97/7/EG und 98/27/EG (ABl. 2002, L 271, S. 16). Diese Richtlinie ist hier in keiner Weise einschlägig.
Im Übrigen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass er nach Abschluss des schriftlichen und des mündlichen Verfahrens in den vorliegenden Rechtssachen über alle für die Beantwortung der Vorlagefragen erforderlichen Informationen verfügt und dass die oben in Rn. 47 dargestellten Argumente, die nicht zwischen den Beteiligten erörtert worden sein sollen, für die Beantwortung der Vorlagefragen nicht relevant sind.
Das mündliche Verfahren ist daher nicht wiederzueröffnen.
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
Frau Rust-Hackner, Herr Gmoser und Frau Plackner sowie, was die dritte und die fünfte Frage in der Rechtssache C-479/18 angeht, auch Allianz und UNIQA meinen, der Gerichtshof sei für die Beantwortung der Vorlagefragen nicht zuständig. Diese beträfen ausschließlich nationales Recht. Zum einen seien die Modalitäten für die Ausübung des Rücktrittsrechts von den Mitgliedstaaten zu regeln. Zum anderen habe das anwendbare österreichische Recht für den Versicherer gerade die Verpflichtung vorgesehen, den Versicherungsnehmer vor Vertragsabschluss schriftlich über die Umstände zu informieren, unter denen er den Abschluss des Versicherungsvertrags widerrufen oder von diesem zurücktreten könne.
Hierzu ist festzustellen, dass, wie die Generalanwältin in den Nrn. 23 bis 25 ihrer Schlussanträge dargelegt hat, Art. 15 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 90/619 und Art. 31 Abs. 1 und 4 der Richtlinie 92/96 in Verbindung mit deren Anhang II Buchst. A a.13 die Regelung der Modalitäten der Ausübung des Rücktrittsrechts und der Mitteilung von Informationen, insbesondere zur Ausübung dieses Rechts, den Mitgliedstaaten überlassen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs müssen die Mitgliedstaaten beim Erlass der entsprechenden Rechtsvorschriften jedoch dafür sorgen, dass bei den genannten Richtlinien im Hinblick auf den mit ihnen verfolgten Zweck die praktische Wirksamkeit gewährleistet ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2013, Endress, C-209/12, EU:C:2013:864, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Mithin ist der Gerichtshof für die Auslegung der hier einschlägigen Vorschriften des Unionsrechts und damit für die Beantwortung der Vorlagefragen zuständig.
Zu den Vorlagefragen
Zur Zulässigkeit der Vorabentscheidungsersuchen in den Rechtssachen C-355/18 bis C-357/18
Frau Rust-Hackner, Herr Gmoser und Frau Plackner halten die Vorabentscheidungsersuchen in den Rechtssachen C-355/18 bis C-357/18 für unzulässig. Die Darstellung des nationalen Rechtsrahmens in den betreffenden Vorlageentscheidungen genüge nicht den Anforderungen von Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.
Hierzu ist festzustellen, dass Gegenstand der betreffenden Vorlagefragen unmittelbar die Auslegung von Vorschriften des Unionsrechts ist und dass das vorlegende Gericht wissen möchte, wie weit die in diesen Vorschriften vorgesehene Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Regelung der Modalitäten der Ausübung des Rücktrittsrechts reicht. Durch die Darstellung des nationalen Rechtsrahmens in den Vorlageentscheidungen sind also weder der Gerichtshof noch die Beteiligten in irgendeiner Weise gehindert, die Vorlagefragen und deren Zusammenhang zu verstehen.
Die Vorabentscheidungsersuchen sind daher zulässig.
Zur einzigen Frage in der Rechtssache C-357/18 und zur ersten Frage in den Rechtssachen C-355/18, C-356/18 und C-479/18
Mit der einzigen Frage in der Rechtssache C-357/18 und der jeweils ersten Frage in den Rechtssachen C-355/18, C-356/18 und C-479/18 möchten die vorlegenden Gerichte wissen, ob Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619 in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96, Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 in Verbindung mit deren Art. 36 Abs. 1 und Art. 185 Abs. 1 der Richtlinie 2009/138 in Verbindung mit deren Art. 186 Abs. 1 dahin auszulegen sind, dass die Rücktrittsfrist bei einem Lebensversicherungsvertrag auch dann ab dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, zu dem der Versicherungsnehmer davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist, wenn in den Informationen, die dem Versicherungsnehmer vom Versicherer mitgeteilt werden, entweder nicht angegeben ist, dass die Erklärung des Rücktritts nach dem auf den Vertrag anwendbaren nationalen Recht keiner besonderen Form bedarf, oder eine Form verlangt wird, die das auf den Vertrag anwendbare nationale Recht nicht vorschreibt.
Hierzu ist zunächst festzustellen, dass die Bestimmungen des Unionsrechts, die in zeitlicher Hinsicht auf die Rechtsstreitigkeiten der Ausgangsverfahren anwendbar sind, im Wesentlichen alle vorsehen, dass der Versicherungsnehmer eines individuellen Lebensversicherungsvertrags von dem Zeitpunkt an, zu dem er davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist, über eine Frist verfügt, die zwischen 14 und 30 Tagen betragen kann, um von dem Vertrag zurückzutreten, wobei der Rücktritt ihn für die Zukunft von allen aus dem Vertrag resultierenden Verpflichtungen befreit, und dass die übrigen rechtlichen Wirkungen des Rücktritts und die dafür erforderlichen Voraussetzungen gemäß dem auf den Versicherungsvertrag anwendbaren Recht geregelt werden, insbesondere was die Modalitäten betrifft, nach denen der Versicherungsnehmer davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist.
Wie bereits ausgeführt (siehe oben, Rn. 55), hat der Gerichtshof hierzu bereits entschieden, dass die Mitgliedstaaten die Modalitäten der Ausübung des Rücktrittsrechts im Einzelnen regeln können, womit naturgemäß Einschränkungen des Rücktrittsrechts einhergehen können. Beim Erlass der entsprechenden Rechtsvorschriften müssen die Mitgliedstaaten jedoch dafür sorgen, dass bei den Richtlinien 90/619 und 92/96 im Hinblick auf den mit ihnen verfolgten Zweck die praktische Wirksamkeit gewährleistet ist.
Was den Zweck der genannten Richtlinien angeht, so heißt es im 23. Erwägungsgrund der Richtlinie 92/96, dass im „Rahmen eines einheitlichen Versicherungsmarkts … dem Verbraucher eine größere und weiter gefächerte Auswahl von Verträgen zur Verfügung stehen wird“ und dass dieser, „[u]m diese Vielfalt und den verstärkten Wettbewerb voll zu nutzen, … im Besitz der notwendigen Informationen sein [muss], um den seinen Bedürfnissen am ehesten entsprechenden Vertrag auszuwählen“. Weiter heißt es dort, dass diese Information, „[d]a die Dauer der Verpflichtungen sehr lang sein kann, … für den Verbraucher noch wichtiger“ ist (Urteil vom 19. Dezember 2013, Endress, C-209/12, EU:C:2013:864, Rn. 24).
Im Hinblick auf diesen Informationszweck sah Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 92/96 in Verbindung mit deren Anhang II Buchst. A a.13 vor, dass dem Versicherungsnehmer „mindestens“ die „Modalitäten der Ausübung des Widerrufs und Rücktrittsrechts“ mitgeteilt werden mussten, und zwar „[v]or Abschluss des Vertrages“ (Urteil vom 19. Dezember 2013, Endress, C-209/12, EU:C:2013:864, Rn. 25).
Der Gerichtshof hat daraus gefolgert, dass eine nationale Bestimmung, wonach das Rücktrittsrecht des Versicherungsnehmers zu einem Zeitpunkt erlischt, zu dem er nicht über dieses Recht belehrt war, der Verwirklichung eines grundlegenden Ziels der Richtlinien 90/619 und 92/96 und damit deren praktischer Wirksamkeit zuwiderläuft.
Diese Erwägungen lassen sich auf die Richtlinien 2002/83 und 2009/138 übertragen, in denen in den Erwägungsgründen 52 bzw. 79 im Wesentlichen dieselben Ziele genannt sind.
Danach ist als Erstes festzustellen, dass in Fällen, in denen der Versicherungsnehmer keine Informationen darüber erhalten hat, dass er überhaupt ein Rücktrittsrecht hat, die Frist für die Ausübung dieses Rechts nicht zu laufen beginnen kann.
Unter diesen Umständen kann der Versicherungsnehmer das Rücktrittsrecht, von dem er nichts weiß, nämlich nicht ausüben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2013, Endress, C-209/12, EU:C:2013:864, Rn. 27).
Der Versicherer kann sich nicht mit Erfolg auf Gründe der Rechtssicherheit berufen, um einer Situation abzuhelfen, die er dadurch selbst herbeigeführt hat, dass er seiner unionsrechtlichen Obliegenheit zur Mitteilung bestimmter Informationen, zu denen insbesondere die Informationen über das Recht des Versicherungsnehmers, vom Vertrag zurückzutreten, gehören, nicht nachgekommen ist (Urteil vom 19. Dezember 2013, Endress, C-209/12, EU:C:2013:864, Rn. 30).
Als Zweites ist festzustellen, dass der Versicherungsnehmer nicht nur darüber zu informieren ist, dass er ein Rücktrittsrecht hat. Nach Anhang II Buchst. A a.13 der Richtlinie 92/96, Anhang III Buchst. A a.13 der Richtlinie 2002/83 und Art. 185 Abs. 3 Buchst. j und Abs. 6 der Richtlinie 2009/138 müssen ihm auch Informationen über die Modalitäten der Ausübung des Rücktrittsrechts mitgeteilt werden, die eindeutig und detailliert schriftlich abzufassen sind.
Aus den einschlägigen Bestimmungen der genannten Richtlinien geht demnach eindeutig hervor, dass mit ihnen sichergestellt werden soll, dass der Versicherungsnehmer insbesondere über sein Rücktrittsrecht zutreffend belehrt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2013, Endress, C-209/12, EU:C:2013:864, Rn. 25).
Soweit der Versicherungsnehmer, um sein Rücktrittsrecht ausüben zu können, auf Informationen über die Form der Rücktrittserklärung angewiesen ist, sind ihm diese mitzuteilen. Dies gilt insbesondere dann, wenn das nationale Recht den Parteien eines Lebensversicherungsvertrags eine bestimmte Form vorschreibt. Eine Rücktrittserklärung, die in einer anderen Form als der vorgeschriebenen abgegeben wird, könnte nämlich als unwirksam angesehen werden.
Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten geht hervor, dass in den vorliegenden Rechtssachen das auf die Ausgangsverfahren anwendbare österreichische Recht für die Erklärung des Rücktritts keine besondere Form vorschrieb. Aus den Akten ist jedoch nicht ersichtlich, ob die Vereinbarung einer bestimmten Form für die Erklärung des Rücktritts durch die Parteien des Versicherungsvertrags nach österreichischem Recht zulässig war.
Wenn die Vereinbarung einer bestimmten Form für die Erklärung des Rücktritts durch die Parteien des Versicherungsvertrags nach österreichischem Recht nicht zulässig wäre, wäre es, um die praktische Wirksamkeit des Rücktrittsrechts zu gewährleisten, nicht erforderlich, zu verlangen, dass der Versicherungsnehmer zwingend darüber informiert wird, dass der Rücktritt formfrei erklärt werden kann. Der Versicherungsnehmer könnte dem Versicherer seine Absicht, vom Vertrag zurückzutreten, in diesem Fall in der Form seiner Wahl mitteilen. Der Versicherer könnte nicht verlangen, dass der Rücktritt in einer bestimmten Form erklärt wird. Mithin wäre die Ausübung des im Unionsrecht vorgesehenen Rücktrittsrechts in keiner Weise beschränkt. Natürlich bliebe es dem Versicherer auch in diesem Fall unbenommen, den Versicherungsnehmer darüber zu informieren, dass nach dem nationalen Recht keine besondere Form vorgeschrieben ist.
Könnten die Vertragsparteien nach österreichischem Recht hingegen abweichend von der gesetzlichen Formfreiheit eine bestimmte Form vereinbaren, müsste der Versicherungsnehmer zwingend über diese Formvoraussetzung des Rücktrittsrechts belehrt werden.
Unabhängig davon, ob es sich um eine gesetzlich vorgeschriebene oder eine von den Vertragsparteien vereinbarte Form des Rücktrittsrechts handelte, müsste die Belehrung, wenn sie zutreffend sein soll, mit dem nationalen Recht bzw. den gemäß dem auf den Vertrag anwendbaren Recht vereinbarten Bestimmungen des Vertrags in Einklang stehen.
Danach ist eine Belehrung eines Versicherers über eine bei der Erklärung des Rücktritts einzuhaltende Form als fehlerhaft anzusehen, wenn sie nicht den zwingenden Vorgaben des anwendbaren Rechts oder den Bestimmungen des Vertrags entspricht. Die vorlegenden Gerichte werden zu prüfen haben, ob dies in den Ausgangsverfahren der Fall ist.
Die fehlerhafte schriftliche Belehrung des Versicherungsnehmers über die für die Erklärung des Rücktritts vorgeschriebene Form ist geeignet, den Verbraucher im Hinblick auf sein Rücktrittsrecht irrezuführen, und daher einer fehlenden Belehrung zu diesem Punkt gleichzusetzen (vgl. entsprechend Urteil vom 10. April 2008, Hamilton, C-412/06, EU:C:2008:215, Rn. 35). Allerdings ist nicht jede unrichtige Information über die Form der Erklärung des Rücktritts, die in der Belehrung, die der Versicherungsnehmer vom Versicherer erhält, enthalten ist, als fehlerhafte Belehrung anzusehen.
Wird dem Versicherungsnehmer durch die Belehrung, auch wenn diese fehlerhaft ist, nicht die Möglichkeit genommen, sein Rücktrittsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben, wäre es unverhältnismäßig, es ihm zu ermöglichen, sich von den Verpflichtungen aus einem in gutem Glauben geschlossenen Vertrag zu lösen.
In solchen Fällen bliebe es dem über sein Rücktrittsrecht informierten Versicherungsnehmer unbenommen, sein Rücktrittsrecht auszuüben und sich von den eingegangenen Verpflichtungen zu lösen, so dass das oben in den Rn. 63 bis 66 genannte Ziel der Richtlinien 90/619, 92/96, 2002/83 und 2009/138 erreicht würde.
In den Ausgangsverfahren werden die vorlegenden Gerichte zu prüfen haben, ob die Versicherer Informationen über die Form der Rücktrittserklärung mitgeteilt haben. Wenn ja, werden sie ferner zu prüfen haben, ob diese Informationen zutreffend waren oder derart unrichtig, dass den Versicherungsnehmern die Möglichkeit genommen wurde, ihr Rücktrittsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben, wobei im Wege einer Gesamtwürdigung insbesondere dem nationalen Rechtsrahmen und den Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen sein wird.
Somit ist auf die einzige Frage in der Rechtssache C-357/18 und auf die jeweils erste Frage in den Rechtssachen C-355/18, C-356/18 und C-479/18 zu antworten, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619 in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96, Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 in Verbindung mit deren Art. 36 Abs. 1 und Art. 185 Abs. 1 der Richtlinie 2009/138 in Verbindung mit deren Art. 186 Abs. 1 dahin auszulegen sind, dass die Rücktrittsfrist bei einem Lebensversicherungsvertrag auch dann ab dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, zu dem der Versicherungsnehmer davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist, wenn in den Informationen, die der Versicherer dem Versicherungsnehmer mitteilt,
nicht angegeben ist, dass die Erklärung des Rücktritts nach dem auf den Vertrag anwendbaren nationalen Recht keiner besonderen Form bedarf, oder
eine Form verlangt wird, die nach dem auf den Vertrag anwendbaren nationalen Recht oder den Bestimmungen des Vertrags nicht vorgeschrieben ist, solange dem Versicherungsnehmer durch die Informationen nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Rücktrittsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen auszuüben. Die vorlegenden Gerichte werden im Wege einer Gesamtwürdigung, bei der insbesondere dem nationalen Rechtsrahmen und den Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen sein wird, zu prüfen haben, ob den Versicherungsnehmern diese Möglichkeit durch den in den ihnen mitgeteilten Informationen enthaltenen Fehler genommen wurde.
Zur zweiten Frage in der Rechtssache C-479/18
Mit der zweiten Frage in der Rechtssache C-479/18 möchte das Bezirksgericht für Handelssachen Wien wissen, ob Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619 in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96 dahin auszulegen ist, dass, wenn der Versicherer dem Versicherungsnehmer überhaupt keine Informationen über sein Rücktrittsrecht mitgeteilt hat oder die vom Versicherer dem Versicherungsnehmer mitgeteilten Informationen derart fehlerhaft sind, dass dem Versicherungsnehmer die Möglichkeit genommen wird, sein Rücktrittsrecht unter im Wesentlichen denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen auszuüben, die Rücktrittsfrist selbst dann nicht zu laufen beginnt, wenn der Versicherungsnehmer auf anderem Wege von seinem Rücktrittsrecht Kenntnis erlangt hat.
Hierzu ist festzustellen, dass weder Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619 noch Art. 31 der Richtlinie 92/96 ausdrücklich vorsehen, dass dem Versicherungsnehmer die Informationen, auf die sich diese Bestimmungen beziehen, vom Versicherer mitgeteilt werden müssten.
Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, ist der Versicherer unionsrechtlich verpflichtet, dem Versicherungsnehmer bestimmte Informationen mitzuteilen, u. a. Informationen über dessen Recht, vom Vertrag zurückzutreten (Urteil vom 19. Dezember 2013, Endress, C-209/12, EU:C:2013:864, Rn. 30).
Dass der Versicherungsnehmer genau die Informationen, die er vom Versicherer hätte erhalten müssen, auf anderem Wege erhalten hat, kann im Hinblick auf die Rücktrittsfrist daher nicht dieselben rechtlichen Wirkungen haben wie die insoweit schuldbefreiende Mitteilung dieser Informationen durch den Versicherer.
Etwas anderes wäre nämlich nicht mit dem in Rn. 71 des vorliegenden Urteils erwähnten Ziel der Richtlinie 2002/83 zu vereinbaren, sicherzustellen, dass der Versicherungsnehmer insbesondere über sein Rücktrittsrecht zutreffend belehrt wird. Wie bereits ausgeführt (siehe oben, Rn. 85), müssen die entsprechenden Informationen vom Versicherer mitgeteilt werden.
Im Übrigen weist die Generalanwältin in Nr. 65 ihrer Schlussanträge zu Recht auf die Beweisschwierigkeiten hin, die in Fällen, in denen der Versicherungsnehmer von seinem Rücktrittsrecht außerhalb des Vertragsverhältnisses zwischen ihm und dem Versicherer Kenntnis erlangt, insbesondere hinsichtlich des Zeitpunkts der Kenntniserlangung und damit der Berechnung der Rücktrittsfrist auftreten können.
Ferner macht die Europäische Kommission zu Recht geltend, dass der Versicherer, wenn er von seiner Verpflichtung zur Mitteilung bestimmter Informationen befreit wäre, weil der Versicherungsnehmer diese auf anderem Wege erlangt hat, nicht ausreichend dazu motiviert würde, seiner Verpflichtung zur zutreffenden Belehrung nachzukommen.
Somit ist auf die zweite Frage in der Rechtssache C-479/18 zu antworten, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619 in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96 dahin auszulegen ist, dass, wenn der Versicherer dem Versicherungsnehmer überhaupt keine Informationen über sein Rücktrittsrecht mitgeteilt hat oder die mitgeteilten Informationen derart fehlerhaft sind, dass dem Versicherungsnehmer die Möglichkeit genommen wird, sein Rücktrittsrecht unter im Wesentlichen denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen auszuüben, die Rücktrittsfrist selbst dann nicht zu laufen beginnt, wenn der Versicherungsnehmer auf anderem Wege von seinem Rücktrittsrecht Kenntnis erlangt hat.
Zur zweiten Frage in den Rechtssachen C-355/18 und C-356/18 und zur dritten Frage in der Rechtssache C-479/18
Mit der zweiten Frage in den Rechtssachen C-355/18 und C-356/18 und mit der dritten Frage in der Rechtssache C-479/18 wollen die vorlegenden Gerichte wissen, ob Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619 in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96 und Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 in Verbindung mit deren Art. 36 Abs. 1 dahin auszulegen sind, dass der Versicherungsnehmer sein Rücktrittsrecht auch noch nach Kündigung und Erfüllung aller Verpflichtungen aus dem Vertrag, u. a. der Zahlung des Rückkaufswerts durch den Versicherer, ausüben kann, weil in dem auf den Vertrag anwendbaren Recht nicht geregelt ist, welche rechtlichen Wirkungen es hat, wenn überhaupt keine Informationen über das Rücktrittsrecht mitgeteilt wurden oder die darüber mitgeteilten Informationen fehlerhaft waren.
Hierzu ist festzustellen, dass die Mitteilung des Versicherungsnehmers, dass er vom Vertrag zurücktritt, ihn für die Zukunft von allen aus diesem Vertrag resultierenden Verpflichtungen befreit (Art. 15 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 90/619 und Art. 35 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2002/83).
Danach ist der Versicherungsnehmer bei fristgerechter Erklärung des Rücktritts für die Zukunft von allen aus dem Vertrag resultierenden Verpflichtungen befreit. Der Versicherer hat insoweit keine Ansprüche mehr gegen ihn.
In Art. 15 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 90/619 und Art. 35 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2002/83 sind jedoch weder die für die Rücktrittserklärung erforderlichen Voraussetzungen noch die rechtlichen Wirkungen dieses Rücktritts auf Verpflichtungen, insbesondere Verpflichtungen zur Erstattung, die sich für den Versicherer aus dem nationalen Recht ergeben können, geregelt.
Diese Aspekte fallen nicht in den Anwendungsbereich der genannten Bestimmungen. Nach Art. 15 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 90/619 und Art. 35 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2002/83 werden sie gemäß dem auf den Versicherungsvertrag anwendbaren Recht geregelt.
Daraus folgt, dass Art. 15 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 90/619 und Art. 35 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2002/83 nicht dahin ausgelegt werden können, dass die Mitgliedstaaten danach verpflichtet wären, die Möglichkeit des Rücktritts von einem Lebensversicherungsvertrag oder die rechtlichen Wirkungen einer fristgerechten Erklärung des Rücktritts von einem solchen Vertrag, wie etwa das Entstehen einer Verpflichtung zur Erstattung, vom Stand der Durchführung des Vertrags abhängig zu machen. Da im österreichischen Recht nichts anderes bestimmt ist, kann das Rücktrittsrecht in den vorliegenden Fällen daher auch noch nach Beendigung des Vertrags und nach Erfüllung aller sich aus dem Vertrag ergebenden Verpflichtungen ausgeübt werden.
Anders als DONAU und die österreichische Regierung in ihren Erklärungen argumentieren, steht diese Auslegung von Art. 15 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 90/619 und Art. 35 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2002/83 nicht im Widerspruch zu dem Urteil vom 10. April 2008, Hamilton (C-412/06, EU:C:2008:215), in dem der Gerichtshof festgestellt hat, dass das in der Richtlinie 85/577/EWG des Rates vom 20. Dezember 1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen (ABl. 1985, L 372, S. 31) vorgesehene Widerrufsrecht nicht mehr ausgeübt werden kann, wenn keinerlei Verpflichtung aus dem widerrufenen Vertrag mehr besteht. Dieses Urteil betrifft nämlich die Frage, ob mit dieser Richtlinie eine nationale Bestimmung vereinbar ist, nach der das Widerrufsrecht einen Monat nach vollständiger Erfüllung der sich aus einem Vertrag ergebenden Pflichten durch die Vertragspartner erlischt. In den vorliegenden Fällen geht es aber nicht um eine derartige Bestimmung, da der österreichische Gesetzgeber für Lebensversicherungsverträge eine solche Bestimmung nicht erlassen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2013, Endress, C-209/12, EU:C:2013:864, Rn. 31).
Somit ist auf die zweite Frage in den Rechtssachen C-355/18 und C-356/18 und auf die dritte Frage in der Rechtssache C-479/18 zu antworten, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619 in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96 und Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 in Verbindung mit deren Art. 36 Abs. 1 dahin auszulegen sind, dass der Versicherungsnehmer sein Rücktrittsrecht auch noch nach Kündigung und Erfüllung aller Verpflichtungen aus dem Vertrag, u. a. der Zahlung des Rückkaufswerts durch den Versicherer, ausüben kann, sofern in dem auf den Vertrag anwendbaren Recht nicht geregelt ist, welche rechtlichen Wirkungen es hat, wenn überhaupt keine Informationen über das Rücktrittsrecht mitgeteilt wurden oder die darüber mitgeteilten Informationen fehlerhaft waren.
Zur vierten Frage in der Rechtssache C-479/18
Mit seiner vierten Frage möchte das Bezirksgericht für Handelssachen Wien wissen, ob Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619, Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 und Art. 186 Abs. 1 der Richtlinie 2009/138 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der der Versicherer einem Versicherungsnehmer, der von seinem Vertrag zurückgetreten ist, lediglich den Rückkaufswert zu erstatten hat.
Wie bereits ausgeführt (siehe oben, Rn. 61, 62 und 66), werden die rechtlichen Wirkungen des Rücktritts, sofern sie nicht in den genannten Bestimmungen des Unionsrechts geregelt sind, gemäß dem auf den Vertrag anwendbaren Recht geregelt und müssen die Mitgliedstaaten beim Erlass der entsprechenden Rechtsvorschriften dafür sorgen, dass bei den Richtlinien 90/619, 92/96, 2002/83 und 2009/138 im Hinblick auf den mit ihnen verfolgten Zweck die praktische Wirksamkeit gewährleistet ist.
Wie bereits ausgeführt (siehe oben, Rn. 63), soll dem Versicherungsnehmer mit dem Rücktrittsrecht ermöglicht werden, den seinen Bedürfnissen am ehesten entsprechenden Vertrag auszuwählen. Er soll deshalb von einem Vertrag zurücktreten können, bei dem sich nach dessen Abschluss innerhalb der für die Ausübung des Rücktrittsrechts vorgesehenen Überlegungsfrist herausstellt, dass er nicht seinen Bedürfnissen entspricht.
Dem Erfordernis, eine solche Wahlfreiheit zu gewährleisten, tragen insbesondere die Bestimmungen von Art. 15 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 90/619, Art. 35 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2002/83 und Art. 186 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2009/138 Rechnung, nach denen der Versicherungsnehmer, wenn er fristgerecht erklärt, dass er vom Vertrag zurücktritt, für die Zukunft von allen aus dem Vertrag resultierenden Verpflichtungen befreit ist.
Bliebe der Versicherungsnehmer auch nach dem Rücktritt für die Zukunft an den Vertrag gebunden, würde er von der Ausübung seines Rücktrittsrechts abgehalten. Ihm würde dadurch die Möglichkeit genommen, den Vertrag zu wählen, der seinen Bedürfnissen am ehesten entspricht.
Auch die übrigen rechtlichen Wirkungen, die die Ausübung des Rücktrittsrechts nach dem auf den Vertrag anwendbare Recht hat, müssen, damit die praktische Wirksamkeit des Rücktrittsrechts gewährleistet ist, so beschaffen sein, dass sie den Versicherungsnehmer nicht davon abhalten, sein Rücktrittsrecht auszuüben.
Wie sich aus der Vorlageentscheidung in der Rechtssache C-479/18 ergibt, sieht § 176 VersVG in der für die Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung vor, dass der Versicherer, wenn Versicherungen wie die, um die es in den Ausgangsverfahren geht, durch Rücktritt, Kündigung oder Anfechtung aufgehoben werden, den auf die Versicherung entfallenden Rückkaufswert zu erstatten hat.
Mit einer solchen Regelung werden der Fall, dass der Versicherungsnehmer zu dem Schluss gelangt, dass der Vertrag seinen Bedürfnissen entspricht, und sich deshalb dafür entscheidet, nicht von seinem Rücktrittsrecht Gebrauch zu machen, den Vertrag dann aber aus anderen Gründen kündigt, und der Fall, dass der Versicherungsnehmer zu dem Schluss gelangt, dass der Vertrag nicht seinen Bedürfnissen entspricht, und deshalb von seinem Rücktrittsrecht Gebrauch macht, gleichbehandelt.
Soweit § 176 VersVG in der für die Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung für den Rücktritt und die Kündigung des Vertrags dieselben rechtlichen Wirkungen vorsieht, nimmt er dem unionsrechtlich vorgesehenen Rücktrittsrecht somit jegliche praktische Wirksamkeit.
Diese Auslegung wird auch nicht durch den von Allianz vorgebrachten Aspekt in Frage gestellt, dass, wenn der Versicherungsnehmer Anspruch auf Rückerstattung der gezahlten Beträge hätte, die finanziellen Nachteile hauptsächlich von der Versichertengemeinschaft zu tragen wären und dass der Gerichtshof in seinem Urteil vom 15. April 2010, E. Friz (C-215/08, EU:C:2010:186), anerkannt habe, dass die betreffende Person im Falle eines verspäteten Rücktritts einen Teil der Risiken zu tragen habe.
Wird der Versicherungsnehmer vom Versicherer zutreffend über sein Rücktrittsrecht informiert, steht dem Versicherungsnehmer nur eine relativ kurze Frist zur Verfügung, um sein Rücktrittsrecht auszuüben, so dass die finanziellen Folgen, die ein Rücktritt für die Versichertengemeinschaft hat, als Teil des allgemeinen Managements der versicherten Risiken angesehen werden können. Wird der Rücktritt hingegen nicht fristgerecht erklärt, weil überhaupt keine Informationen mitgeteilt werden oder die mitgeteilten Informationen derart fehlerhaft sind, dass dem Versicherungsnehmer die Möglichkeit genommen wird, sein Rücktrittsrecht unter im Wesentlichen denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen auszuüben, ist es Sache des Versicherers, einer Situation abzuhelfen, die er dadurch selbst herbeigeführt hat, dass er seiner unionsrechtlichen Obliegenheit zur Mitteilung bestimmter Informationen, zu denen insbesondere die Informationen über das Recht des Versicherungsnehmers, vom Vertrag zurückzutreten, gehören, nicht nachgekommen ist (siehe oben, Rn. 69).
Die Tragweite des Urteils vom 15. April 2010, E. Friz (C-215/08, EU:C:2010:186), ist nach dessen Rn. 24 ausdrücklich auf den Beitritt eines Verbrauchers zu einem geschlossenen Immobilienfonds in Form einer Personengesellschaft beschränkt. Das Urteil betrifft also nicht allgemein aleatorische Verträge.
Somit ist auf die vierte Frage in der Rechtssache C-479/18 zu antworten, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619, Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 und Art. 185 Abs. 1 der Richtlinie 2009/138 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der der Versicherer einem Versicherungsnehmer, der von seinem Vertrag zurückgetreten ist, lediglich den Rückkaufswert zu erstatten hat.
Zur fünften Frage in der Rechtssache C-479/18
Mit seiner fünften Frage möchte das Bezirksgericht für Handelssachen Wien wissen, ob Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619, Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 und Art. 186 Abs. 1 der Richtlinie 2009/138 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der Vergütungszinsen auf Beträge, die der Versicherungsnehmer nach seinem Rücktritt vom Vertrag wegen ungerechtfertigter Bereicherung zurückverlangt, in drei Jahren verjähren.
Hierzu ist festzustellen, dass die genannten Bestimmungen des Unionsrechts, nach denen der Versicherungsnehmer eines individuellen Lebensversicherungsvertrags von dem Zeitpunkt an, zu dem er davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist, über eine Frist verfügt, die zwischen 14 und 30 Tagen betragen kann, um von dem Vertrag zurückzutreten, dem Versicherungsnehmer ein Rücktrittsrecht einräumen.
Das Rücktrittsrecht des Versicherungsnehmers wird also bereits durch den Abschluss des Lebensversicherungsvertrags begründet. Die Mitteilung der Bedingungen für seine Ausübung durch den Versicherer bewirkt lediglich, dass der Lauf der Rücktrittsfrist in Gang gesetzt wird.
Aus den dem Gerichtshof in der Rechtssache C-479/18 vorgelegten Akten geht hervor, dass das auf die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verträge anwendbare österreichische Recht zur Regelung der rechtlichen Wirkungen des Rücktritts im Einklang mit den genannten Bestimmungen des Unionsrechts für den Rücktritt vorsieht, dass geleistete Zahlungen zu erstatten und auf die zu erstattenden Beträge Vergütungszinsen zu zahlen sind. Der Anspruch auf die Vergütungszinsen verjährt in drei Jahren. Es handelt sich dabei um die vom Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch für Forderungen von rückständigen jährlichen Leistungen allgemein vorgesehene Verjährungsfrist.
Da diese Frist jedoch nur die Vergütungszinsen betrifft, berührt sie nicht unmittelbar das Rücktrittsrecht des Versicherungsnehmers.
Das Bezirksgericht für Handelssachen Wien wird jedoch zu prüfen haben, ob eine solche Verjährung des Anspruchs auf Vergütungszinsen geeignet ist, die Wirksamkeit des dem Versicherungsnehmer unionsrechtlich zuerkannten Rücktrittsrechts selbst zu beeinträchtigen.
Wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, sind Versicherungsverträge rechtlich komplexe Finanzprodukte, die je nach anbietendem Versicherer große Unterschiede aufweisen und über einen potenziell sehr langen Zeitraum erhebliche finanzielle Verpflichtungen mit sich bringen können (Urteil vom 19. Dezember 2013, Endress, C-209/12, EU:C:2013:864, Rn. 29).
Wenn unter diesen Umständen die Tatsache, dass die für mehr als drei Jahre fälligen Zinsen verjährt sind, dazu führen sollte, dass der Versicherungsnehmer sein Rücktrittsrecht nicht ausübt, obwohl der Vertrag seinen Bedürfnissen nicht entspricht, wäre eine solche Verjährung geeignet, das Rücktrittsrecht zu beeinträchtigen, insbesondere wenn der Versicherungsnehmer nicht richtig über die Bedingungen für die Ausübung dieses Rechts informiert wurde.
Bei der Beurteilung der Bedürfnisse des Versicherungsnehmers ist jedoch auf den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses abzustellen. Vorteile, die der Versicherungsnehmer aus einem verspäteten Rücktritt ziehen könnte, bleiben außer Betracht. Ein solcher Rücktritt würde nämlich nicht dazu dienen, die Wahlfreiheit des Versicherungsnehmers zu schützen, sondern dazu, ihm eine höhere Rendite zu ermöglichen oder gar auf die Differenz zwischen der effektiven Rendite des Vertrags und dem Satz der Vergütungszinsen zu spekulieren.
Somit ist auf die fünfte Frage in der Rechtssache C-479/18 zu antworten, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619, Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 und Art. 186 Abs. 1 der Richtlinie 2009/138 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung, nach der Vergütungszinsen auf Beträge, die der Versicherungsnehmer nach seinem Rücktritt vom Vertrag wegen ungerechtfertigter Bereicherung zurückverlangt, in drei Jahren verjähren, nicht entgegenstehen, sofern dadurch die Wirksamkeit des Rücktrittsrechts des Versicherungsnehmers nicht beeinträchtigt wird, was das vorlegende Gericht in der Rechtssache C-479/18 zu prüfen haben wird.
Kosten
Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei den vorlegenden Gerichten anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieser Gerichte. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 15 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie 90/619/EWG des Rates vom 8. November 1990 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs sowie zur Änderung der Richtlinie 79/267/EWG in der durch die Richtlinie 92/96/EWG des Rates vom 10. November 1992 geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96/EWG des Rates vom 10. November 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 79/267/EWG und 90/619/EWG (Dritte Richtlinie Lebensversicherung), Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. November 2002 über Lebensversicherungen in Verbindung mit deren Art. 36 Abs. 1 und Art. 185 Abs. 1 der Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II) in Verbindung mit deren Art. 186 Abs. 1 sind dahin auszulegen, dass die Rücktrittsfrist bei einem Lebensversicherungsvertrag auch dann ab dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, zu dem der Versicherungsnehmer davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist, wenn in den Informationen, die der Versicherer dem Versicherungsnehmer mitteilt,
nicht angegeben ist, dass die Erklärung des Rücktritts nach dem auf den Vertrag anwendbaren nationalen Recht keiner besonderen Form bedarf, oder
eine Form verlangt wird, die nach dem auf den Vertrag anwendbaren nationalen Recht oder den Bestimmungen des Vertrags nicht vorgeschrieben ist, solange dem Versicherungsnehmer durch die Informationen nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Rücktrittsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen auszuüben. Die vorlegenden Gerichte werden im Wege einer Gesamtwürdigung, bei der insbesondere dem nationalen Rechtsrahmen und den Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen sein wird, zu prüfen haben, ob den Versicherungsnehmern diese Möglichkeit durch den in den ihnen mitgeteilten Informationen enthaltenen Fehler genommen wurde.
Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619 in der durch die Richtlinie 92/96 geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96 ist dahin auszulegen, dass, wenn der Versicherer dem Versicherungsnehmer überhaupt keine Informationen über sein Rücktrittsrecht mitgeteilt hat oder die mitgeteilten Informationen derart fehlerhaft sind, dass dem Versicherungsnehmer die Möglichkeit genommen wird, sein Rücktrittsrecht unter im Wesentlichen denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen auszuüben, die Rücktrittsfrist selbst dann nicht zu laufen beginnt, wenn der Versicherungsnehmer auf anderem Wege von seinem Rücktrittsrecht Kenntnis erlangt hat.
Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619 in der durch die Richtlinie 92/96 geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96 und Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 in Verbindung mit deren Art. 36 Abs. 1 sind dahin auszulegen, dass der Versicherungsnehmer sein Rücktrittsrecht auch noch nach Kündigung und Erfüllung aller Verpflichtungen aus dem Vertrag, u. a. der Zahlung des Rückkaufswerts durch den Versicherer, ausüben kann, sofern in dem auf den Vertrag anwendbaren Recht nicht geregelt ist, welche rechtlichen Wirkungen es hat, wenn überhaupt keine Informationen über das Rücktrittsrecht mitgeteilt wurden oder die darüber mitgeteilten Informationen fehlerhaft waren.
Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619 in der durch die Richtlinie 92/96 geänderten Fassung, Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 und Art. 185 Abs. 1 der Richtlinie 2009/138 sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der der Versicherer einem Versicherungsnehmer, der von seinem Vertrag zurückgetreten ist, lediglich den Rückkaufswert zu erstatten hat.
Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619 in der durch die Richtlinie 92/96 geänderten Fassung, Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 und Art. 186 Abs. 1 der Richtlinie 2009/138 sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung, nach der Vergütungszinsen auf Beträge, die der Versicherungsnehmer nach seinem Rücktritt vom Vertrag wegen ungerechtfertigter Bereicherung zurückverlangt, in drei Jahren verjähren, nicht entgegenstehen, sofern dadurch die Wirksamkeit des Rücktrittsrechts des Versicherungsnehmers nicht beeinträchtigt wird, was das vorlegende Gericht in der Rechtssache C-479/18 zu prüfen haben wird.
Unterschriften
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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