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EuGH 16.10.2019 - C-4/18, C-5/18
EuGH 16.10.2019 - C-4/18, C-5/18 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer) - 16. Oktober 2019 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 132 Abs. 1 Buchst. a – Steuerbefreiungen für bestimmte, dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten – Öffentliche Posteinrichtungen – Richtlinie 97/67/EG – Anbieter des Universalpostdienstes – Privater Anbieter förmlicher Zustellungen von Schriftstücken von Gerichten oder Verwaltungsbehörden“
Leitsatz
In den verbundenen Rechtssachen C-4/18 und C-5/18
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzhof (Deutschland) mit Entscheidungen vom 31. Mai 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Januar 2018, in den Verfahren
Michael Winterhoff als Insolvenzverwalter über das Vermögen der DIREKTexpress Holding AG
gegen
Finanzamt Ulm (C-4/18)
und
Jochen Eisenbeis als Insolvenzverwalter über das Vermögen der JUREX GmbH
gegen
Bundeszentralamt für Steuern (C-5/18)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan (Berichterstatter) sowie der Richter I. Jarukaitis, E. Juhász, M. Ilešič und C. Lycourgos,
Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
von Herrn Winterhoff als Insolvenzverwalter über das Vermögen der DIREKTexpress Holding AG und von Herrn Eisenbeis als Insolvenzverwalter über das Vermögen der JUREX GmbH, vertreten durch Steuerberater C. Hahn,
der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und R. Kanitz als Bevollmächtigte,
der finnischen Regierung, vertreten durch H. Leppo als Bevollmächtigte,
der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Mölls, L. Lozano Palacios und L. Nicolae als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 2 Nr. 13 und Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 97/67/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 1997 über gemeinsame Vorschriften für die Entwicklung des Binnenmarktes der Postdienste der Gemeinschaft und die Verbesserung der Dienstequalität (ABl. 1998, L 15, S. 14) in der durch die Richtlinie 2008/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Februar 2008 (ABl. 2008, L 52, S. 3, berichtigt im ABl. 2015, L 225, S. 49) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 97/67) sowie von Art. 132 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1).
Die Ersuchen ergehen im Rahmen von zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen Herrn Michael Winterhoff als Insolvenzverwalter über das Vermögen der DIREKTexpress Holding AG und dem Finanzamt Ulm (Deutschland) (Rechtssache C-4/18) sowie zwischen Herrn Jochen Eisenbeis als Insolvenzverwalter über das Vermögen der JUREX GmbH und dem Bundeszentralamt für Steuern (Deutschland) (Rechtssache C-5/18) wegen der Weigerung, von diesen Unternehmen durchgeführte förmliche Zustellungen von Schriftstücken für Gerichte und Verwaltungsbehörden von der Umsatzsteuer zu befreien.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 97/67
Art. 2 der Richtlinie 97/67, der zu ihrem Kapitel 1 („Zielsetzung und Geltungsbereich“) gehört, enthält folgende Begriffsbestimmungen:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
‚Postdienste‘ die Dienste im Zusammenhang mit der Abholung, dem Sortieren, dem Transport und der Zustellung von Postsendungen;
‚Postdiensteanbieter‘ Unternehmen, die einen oder mehrere Postdienste erbringen;
…
‚Abholung‘ das Einsammeln der Postsendungen durch einen Postdiensteanbieter;
‚Zustellung‘ die Bearbeitungsschritte vom Sortieren in den Zustellzentren bis zur Aushändigung der Sendungen an die Empfänger;
‚Postsendung‘ eine adressierte Sendung in der endgültigen Form, in der sie von einem Postdiensteanbieter übernommen wird. Es handelt sich dabei neben Briefsendungen z. B. um Bücher, Kataloge, Zeitungen und Zeitschriften sowie um Postpakete, die Waren mit oder ohne Handelswert enthalten;
…
‚Einschreibsendung‘ eine Postsendung, die durch den Dienstanbieter pauschal gegen Verlust, Entwendung oder Beschädigung versichert wird und bei der dem Absender, gegebenenfalls auf sein Verlangen, eine Bestätigung über die Entgegennahme der Sendung und/oder ihre Aushändigung an den Empfänger erteilt wird;
…
‚Universaldiensteanbieter‘ einen öffentlichen oder privaten Postdiensteanbieter, der in einem Mitgliedstaat die Leistungen des Universalpostdienstes ganz oder teilweise erbringt und dessen Identität der Kommission gemäß Artikel 4 mitgeteilt wurde;
…
‚Nutzer‘ die natürliche oder juristische Person, die einen Postdienst als Absender oder Empfänger in Anspruch nimmt;
…“
Kapitel 2 („Universaldienst“) der Richtlinie 97/67 umfasst deren Art. 3 bis 6. In Art. 3 der Richtlinie heißt es:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass den Nutzern ein Universaldienst zur Verfügung steht, der ständig flächendeckend postalische Dienstleistungen einer bestimmten Qualität zu tragbaren Preisen für alle Nutzer bietet.
…
(4) Jeder Mitgliedstaat erlässt die erforderlichen Maßnahmen, damit der Universaldienst mindestens folgendes Angebot umfasst:
Abholung, Sortieren, Transport und Zustellung von Postsendungen bis 2 kg;
Abholung, Sortieren, Transport und Zustellung von Postpaketen bis 10 kg;
die Dienste für Einschreib- und Wertsendungen.
…
(7) Der in diesem Artikel definierte Universaldienst umfasst sowohl Inlandsleistungen als auch grenzüberschreitende Leistungen.“
Art. 4 der Richtlinie 97/67 bestimmt:
„(1) Jeder Mitgliedstaat stellt sicher, dass die Erbringung des Universaldienstes gewährleistet ist, und unterrichtet die Kommission über die von ihm unternommenen Schritte zur Erfüllung dieser Verpflichtung. Der in Artikel 21 genannte Ausschuss wird über die Maßnahmen informiert, die die Mitgliedstaaten getroffen haben, um die Erbringung des Universaldienstes zu gewährleisten.
(2) Die Mitgliedstaaten können ein oder mehrere Unternehmen als Universaldiensteanbieter benennen, so dass das gesamte Hoheitsgebiet abgedeckt werden kann. Die Mitgliedstaaten können verschiedene Unternehmen für die Erbringung verschiedener Bestandteile des Universaldienstes und/oder zur Versorgung verschiedener Teile des Hoheitsgebiets benennen. …
Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission die Identität des/der von ihnen benannten Universaldiensteanbieter(s) mit. …“
Richtlinie 2006/112
Der zu Kapitel 1 („Allgemeine Bestimmungen“) des Titels IX („Steuerbefreiungen“) der Richtlinie 2006/112 gehörende Art. 131 lautet:
„Die Steuerbefreiungen der Kapitel 2 bis 9 werden unbeschadet sonstiger [Unionsvorschriften] und unter den Bedingungen angewandt, die die Mitgliedstaaten zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung dieser Befreiungen und zur Verhinderung von Steuerhinterziehung, Steuerumgehung oder Missbrauch festlegen.“
Kapitel 2 („Steuerbefreiungen für bestimmte, dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten“) des Titels IX der Richtlinie 2006/112 umfasst deren Art. 132, der in Abs. 1 bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:
von öffentlichen Posteinrichtungen erbrachte Dienstleistungen und dazugehörende Lieferungen von Gegenständen mit Ausnahme von Personenbeförderungs- und Telekommunikationsdienstleistungen;
…“
Deutsches Recht
UStG
Von den unter § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Umsatzsteuergesetzes (im Folgenden: UStG) in seiner auf das Ausgangsverfahren in der Rechtssache C-4/18 anwendbaren Fassung fallenden Umsätzen waren nach § 4 Nr. 11b UStG „die unmittelbar dem Postwesen dienenden Umsätze der Deutschen Post AG“ von der Steuer befreit.
In der auf das Ausgangsverfahren in der Rechtssache C-5/18 anwendbaren, ab dem 1. Juli 2010 geltenden Fassung des UStG waren nach dessen § 4 Nr. 11b folgende Umsätze von der Steuer befreit:
„Universaldienstleistungen nach Artikel 3 Absatz 4 der [Richtlinie 97/67]. Die Steuerbefreiung setzt voraus, dass der Unternehmer sich entsprechend einer Bescheinigung des Bundeszentralamtes für Steuern gegenüber dieser Behörde verpflichtet hat, flächendeckend im gesamten Gebiet der Bundesrepublik Deutschland die Gesamtheit der Universaldienstleistungen oder einen Teilbereich dieser Leistungen nach Satz 1 anzubieten.“
Postgesetz
§ 11 („Begriff und Umfang des Universaldienstes“) des Postgesetzes vom 22. Dezember 1997 (BGBl. 1997 I S. 3294) in seiner auf die Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: PostG) sieht vor:
„(1) Universaldienstleistungen sind ein Mindestangebot an Postdienstleistungen nach § 4 Nr. 1, die flächendeckend in einer bestimmten Qualität und zu einem erschwinglichen Preis erbracht werden. Der Universaldienst ist auf lizenzpflichtige Postdienstleistungen und Postdienstleistungen, die zumindest in Teilen beförderungstechnisch mit lizenzpflichtigen Postdienstleistungen erbracht werden können, beschränkt. Er umfasst nur solche Dienstleistungen, die allgemein als unabdingbar angesehen werden.
(2) Die Bundesregierung wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung, die der Zustimmung des Bundestages und des Bundesrates bedarf, nach Maßgabe des Absatzes 1 Inhalt und Umfang des Universaldienstes festzulegen. …“
§ 33 („Verpflichtung zur förmlichen Zustellung“) PostG bestimmt in Abs. 1:
„Ein Lizenznehmer, der Briefzustelldienstleistungen erbringt, ist verpflichtet, Schriftstücke unabhängig von ihrem Gewicht nach den Vorschriften der Prozessordnungen und der Gesetze, die die Verwaltungszustellung regeln, förmlich zuzustellen. Im Umfang dieser Verpflichtung ist der Lizenznehmer mit Hoheitsbefugnissen ausgestattet (beliehener Unternehmer).“
§ 34 („Entgelt für die förmliche Zustellung“) PostG bestimmt:
„Der verpflichtete Lizenznehmer hat Anspruch auf ein Entgelt. Durch dieses werden alle von dem Lizenznehmer erbrachten Leistungen einschließlich der hoheitlichen Beurkundung und Rücksendung der Beurkundungsunterlagen an die auftraggebende Stelle abgegolten. Das Entgelt hat den Maßstäben des § 20 Abs. 1 und 2 zu entsprechen. Es bedarf der Genehmigung durch die Regulierungsbehörde. …“
Post-Universaldienstleistungsverordnung
§ 1 der Post-Universaldienstleistungsverordnung vom 15. Dezember 1999 (BGBl. 1999 I S. 2418) in seiner auf die Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung sieht vor:
„(1) Als Universaldienstleistungen werden folgende Postdienstleistungen bestimmt:
die Beförderung von Briefsendungen im Sinne des § 4 Nr. 2 des Gesetzes, sofern deren Gewicht 2000 Gramm und deren Maße die im Weltpostvertrag und den entsprechenden Vollzugsverordnungen festgelegten Maße nicht überschreiten,
die Beförderung von adressierten Paketen, deren Einzelgewicht 20 Kilogramm nicht übersteigt und deren Maße die im Weltpostvertrag und den entsprechenden Vollzugsverordnungen festgelegten Maße nicht überschreiten,
die Beförderung von Zeitungen und Zeitschriften im Sinne des § 4 Nr. 1 Buchstabe c des Gesetzes. …
(2) Die Briefbeförderung umfasst auch die Sendungsformen
Einschreibsendung (Briefsendung, die pauschal gegen Verlust, Entwendung oder Beschädigung versichert ist und gegen Empfangsbestätigung ausgehändigt wird),
Wertsendung (Briefsendung, deren Inhalt in Höhe des vom Absender angegebenen Wertes gegen Verlust, Entwendung oder Beschädigung versichert ist),
Nachnahmesendung (Briefsendung, die erst nach Einziehung eines bestimmten Geldbetrages an den Empfänger ausgehändigt wird),
Sendung mit Eilzustellung (Briefsendung, die so bald wie möglich nach ihrem Eingang bei einer Zustelleinrichtung durch besonderen Boten zugestellt wird).“
Zivilprozessordnung
Der die förmliche Zustellung betreffende § 176 Abs. 1 der Zivilprozessordnung bestimmt:
„Wird der Post, einem Justizbediensteten oder einem Gerichtsvollzieher ein Zustellungsauftrag erteilt oder wird eine andere Behörde um die Ausführung der Zustellung ersucht, übergibt die Geschäftsstelle das zuzustellende Schriftstück in einem verschlossenen Umschlag und ein vorbereitetes Formular einer Zustellungsurkunde.“
In § 182 der Zivilprozessordnung, der ebenfalls die förmliche Zustellung betrifft, heißt es:
„(1) Zum Nachweis der Zustellung … ist eine Urkunde auf dem hierfür vorgesehenen Formular anzufertigen. …
(3) Die Zustellungsurkunde ist der Geschäftsstelle in Urschrift oder als elektronisches Dokument unverzüglich zurückzuleiten.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Rechtssache C-4/18
Herr Winterhoff ist Insolvenzverwalter über das Vermögen der DIREKTexpress Holding AG, die mit Beschluss des Amtsgerichts Ulm (Deutschland) vom 6. Juli 2011 für zahlungsunfähig erklärt wurde. Mit diesem Beschluss wurde Herr Winterhoff zugleich zum Insolvenzverwalter bestellt. Die DIREKTexpress Holding AG ist Organträgerin, die durch Tochtergesellschaften im gesamten Bundesgebiet Postdienstleistungen erbrachte. In den Jahren 2008 und 2009 bestand die Tätigkeit der Gruppe hauptsächlich in der Ausführung von Postzustellungsaufträgen gemäß den Bestimmungen des deutschen öffentlichen Rechts, die als umsatzsteuerfreie Umsätze behandelt wurden.
Nach einer Steuerprüfung für den Zeitraum von August 2008 bis Mai 2009 vertrat das Finanzamt Ulm die Ansicht, dass die Umsätze aus Zustellungen umsatzsteuerpflichtig seien.
Gegen diese Entscheidung legte DIREKTexpress Holding zunächst Einspruch ein. Nach dessen Zurückweisung erhob sie Klage beim Finanzgericht Baden-Württemberg (Deutschland). Während dieses Verfahrens erließ das Finanzamt Ulm, Beklagter im Verfahren vor dem Finanzgericht, Umsatzsteuerjahresbescheide für die Jahre 2008 und 2009.
Während dieses Verfahrens wurde zudem DIREKTexpress Holding für zahlungsunfähig erklärt und Herr Winterhoff zum Insolvenzverwalter der Gesellschaft bestellt. Als solcher übernahm er das laufende Verfahren.
Das Finanzgericht Baden-Württemberg wies die bei ihm von DIREKTexpress Holding erhobene Klage mit der Begründung ab, dass die förmlichen Zustellungen von Schriftstücken nicht, wie begehrt, von der Steuer befreit werden könnten. Das Finanzgericht ging insbesondere davon aus, dass zum einen die Voraussetzungen von § 4 Nr. 11b UStG nicht erfüllt seien, da nur die unmittelbar dem Postwesen dienenden Umsätze der Deutschen Post AG umsatzsteuerbefreit seien. Zum anderen komme auch keine unmittelbare Berufung auf Art. 132 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 in Betracht, denn bei der förmlichen Zustellung von Briefsendungen handele es sich nicht um eine Universaldienstleistung im Sinne dieser Bestimmung.
Gegen diese Entscheidung legte Herr Winterhoff beim vorlegenden Gericht, dem Bundesfinanzhof (Deutschland), Revision ein.
Das vorlegende Gericht wirft erstens die Frage auf, ob ein Unternehmer, der im Wesentlichen förmliche Zustellungen von Schriftstücken von Gerichten und Verwaltungsbehörden durchführt, als Anbieter von Universaldienstleistungen im Sinne von Art. 2 Nr. 13 der Richtlinie 97/67 gelten kann. Das vorlegende Gericht fragt sich insbesondere, ob diese Tätigkeiten dem Sonderfall einer Postsendung oder eines Postpakets im Sinne von Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 97/67 oder der ebenfalls in dieser Bestimmung angeführten Einschreibsendung gleichgestellt werden können.
Zweitens hegt das vorlegende Gericht Zweifel, ob davon ausgegangen werden kann, dass eine Gesellschaft wie DIREKTexpress Holding von „öffentlichen Posteinrichtungen“ erbrachte Dienstleistungen im Sinne von Art. 132 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 sicherstellt, so dass die von ihr erbrachten förmlichen Zustellungen nach dieser Bestimmung von der Umsatzsteuer zu befreien wären. Hierfür spreche insbesondere, dass die Zustellungen zu einer ordnungsgemäßen Rechtspflege beitrügen und deshalb dem Gemeinwohl dienten. Hingegen könne, da die Durchführung einer förmlichen Zustellung nicht von einem Einzelnen beantragt werden könne, ein solcher Umsatz nicht als eine „allen Nutzern“ zur Verfügung stehende Dienstleistung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 97/67 angesehen werden.
Unter diesen Umständen hat der Bundesfinanzhof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist ein Unternehmer, der die förmliche Zustellung von Schriftstücken nach öffentlich-rechtlichen Vorschriften durchführt, ein „Anbieter von Universaldienstleistungen“ im Sinne des Art. 2 Nr. 13 der Richtlinie 97/67, der die Leistungen des postalischen Universaldienstes ganz oder teilweise erbringt, und sind diese Leistungen nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 steuerfrei?
Rechtssache C-5/18
Herr Eisenbeis ist Insolvenzverwalter über das Vermögen der JUREX GmbH, die mit Beschluss vom 1. Juli 2011 für zahlungsunfähig erklärt wurde. Mit diesem Beschluss wurde zugleich Herr Eisenbeis zum Insolvenzverwalter bestellt. Die JUREX GmbH führte insbesondere Postzustellungsaufträge im deutschen Hoheitsgebiet durch.
Im Jahr 2010 beantragte JUREX beim Bundeszentralamt für Steuern die Ausstellung einer Bescheinigung über die Umsatzsteuerbefreiung in Bezug auf die Zustellungsdienstleistung. Das Unternehmen hatte sich gegenüber dem Bundeszentralamt für Steuern verpflichtet, die förmlichen Zustellungen von Schriftstücken auf der Grundlage der geltenden Prozessordnungen und Gesetze entsprechend der von der Bundesnetzagentur (Deutschland) zu diesem Zweck erteilten Lizenzen im gesamten Bundesgebiet anzubieten.
Mit Bescheid vom 4. August 2010 lehnte das Bundeszentralamt für Steuern diesen Antrag mit der Begründung ab, die betreffende Dienstleistung gehöre nicht zum Post-Universaldienst.
Auf die von Herrn Eisenbeis erhobene Klage hin bestätigte das Finanzgericht Köln (Deutschland) mit derselben Begründung wie das Bundeszentralamt für Steuern, dass die Umsatzsteuerbefreiung für die in Frage stehenden Dienstleistungen zu versagen sei.
Herr Eisenbeis legte gegen diese Entscheidung beim vorlegenden Gericht, dem Bundesfinanzhof, Revision ein.
Aus den im Rahmen der Rechtssache C-4/18 angeführten Gründen hat der Bundesfinanzhof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist die förmliche Zustellung von Schriftstücken nach öffentlich-rechtlichen Vorschriften (Vorschriften der Prozessordnungen und der Gesetze, die die Verwaltungszustellung regeln – § 33 Abs. 1 des Postgesetzes –) eine Post-Universaldienstleistung nach Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 97/67?
Sollte die Frage 1 zu bejahen sein:
Ist ein Unternehmer, der die förmliche Zustellung von Schriftstücken nach öffentlich-rechtlichen Vorschriften durchführt, ein „Anbieter von Universaldienstleistungen“ im Sinne des Art. 2 Nr. 13 der Richtlinie 97/67, der die Leistungen des postalischen Universaldienstes ganz oder teilweise erbringt, und sind diese Leistungen nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 steuerfrei?
Durch Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 1. Februar 2018 sind die Rechtssachen C-4/18 und C-5/18 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.
Zu den Vorlagefragen
Zur Zulässigkeit der Vorabentscheidungsersuchen
Die Revisionskläger der Ausgangsverfahren stellen die Zulässigkeit der Vorabentscheidungsersuchen in Abrede.
Sie machen insbesondere geltend, zum einen seien die Vorlagefragen für die Entscheidung der Ausgangsrechtsstreitigkeiten nicht zweckdienlich, da diese Fragen darauf abzielten, zu ermitteln, ob die in Art. 132 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 vorgesehene Befreiung auf Umsätze wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden anwendbar sei. Soweit die Antwort darin bestünde, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dienstleistungen als zum Universaldienst gehörend anzusehen seien und dass Anbieter von Postdienstleistungen wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden als Anbieter von Universaldienstleistungen anzusehen seien, müssten die Dienstleistungen gemäß dieser Bestimmung zwingend von der Steuer befreit werden.
Zum anderen habe das vorlegende Gericht im Rahmen des Ausgangsverfahrens in der Rechtssache C-5/18 mit Gerichtsbescheid vom 15. Dezember 2016 bereits entschieden, dass die Ausführung von Postzustellungsaufträgen zum umsatzsteuerbefreiten Universaldienst gehöre. Aus diesem Gerichtsbescheid gehe hervor, dass seitens des vorlegenden Gerichts keine Zweifel hinsichtlich der Auslegung der den Gegenstand der vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen bildenden unionsrechtlichen Bestimmungen bestünden, so dass für das vorlegende Gericht keine Notwendigkeit bestehe, den Gerichtshof nach Art. 267 AEUV im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens anzurufen.
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen ihm und den nationalen Gerichten allein das mit dem Rechtsstreit befasste nationale Gericht, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen hat. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über die ihm vorgelegten Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 5. März 2019, Eesti Pagar, C-349/17, EU:C:2019:172, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Folglich spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 5. März 2019, Eesti Pagar, C-349/17, EU:C:2019:172, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Im vorliegenden Fall ist hinsichtlich des in Rn. 33 des vorliegenden Urteils dargelegten Vorbringens festzustellen, dass sich aus den dem Gerichtshof zur Verfügung stehenden Angaben ergibt, dass das vorlegende Gericht tatsächlich mit Rechtsstreitigkeiten befasst ist, in deren Rahmen es darüber zu entscheiden hat, ob die von DIREKTexpress Holding und JUREX durchgeführten Tätigkeiten der förmlichen Zustellung von Schriftstücken nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 von der Umsatzsteuer hätten befreit werden müssen. Insoweit geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass das vorlegende Gericht die Antwort des Gerichtshofs auf die von ihm gestellten Fragen als für diese Rechtsstreitigkeiten entscheidungserheblich ansieht. Unter diesen Umständen ist die Antwort des Gerichtshofs auf die vorgelegten Fragen erforderlich, um dem vorlegenden Gericht den Erlass seines Urteils zu ermöglichen.
Zu dem in Rn. 34 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Vorbringen der Revisionskläger der Ausgangsverfahren genügt die Feststellung, dass das vorlegende Gericht in seinen Vorabentscheidungsersuchen ausführt, dass es Zweifel hege, wie der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen beantworten werde. Im Übrigen haben die Revisionskläger der Ausgangsverfahren nichts vorgebracht, was geeignet wäre, die in der vorstehenden Randnummer angestellten Erwägungen in Frage zu stellen, wonach das vorlegende Gericht mit Rechtsstreitigkeiten befasst ist, deren Entscheidung von den Antworten abhängt, die der Gerichtshof auf die Vorlagefragen geben wird.
Somit sind die Vorabentscheidungsersuchen zur Gänze zulässig.
Zur Beantwortung der Fragen
Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Nr. 13 und Art. 3 der Richtlinie 97/67 dahin auszulegen sind, dass Anbieter von Briefzustelldienstleistungen wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die in ihrer Eigenschaft als Inhaber einer nationalen Lizenz, die ihnen die Erbringung dieser Dienstleistung gestattet, verpflichtet sind, förmliche Zustellungen von Schriftstücken von Gerichten oder Verwaltungsbehörden nach Vorschriften des nationalen Rechts durchzuführen, als „Universaldiensteanbieter“ im Sinne dieser Bestimmungen anzusehen sind, so dass solche förmlichen Zustellungen als von „öffentlichen Posteinrichtungen“ erbrachte Dienstleistungen nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 von der Umsatzsteuer zu befreien sind.
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 von öffentlichen Posteinrichtungen erbrachte Dienstleistungen und dazugehörende Lieferungen von Gegenständen von der Umsatzsteuer befreit sind.
Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, werden zwar nach Art. 131 der Richtlinie 2006/112 die Steuerbefreiungen ihrer Kapitel 2 bis 9 namentlich unter den Bedingungen angewandt, die die Mitgliedstaaten zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung dieser Befreiungen und zur Verhinderung von Steuerhinterziehung, Steuerumgehung oder Missbrauch festlegen, doch können sich die Bedingungen nicht auf die Definition des Inhalts der vorgesehenen Steuerbefreiungen erstrecken (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. Januar 2001, Kommission/Frankreich, C-76/99, EU:C:2001:12, Rn. 26, und vom 26. Mai 2005, Kingscrest Associates und Montecello, C-498/03, EU:C:2005:322, Rn. 24).
Die in Art. 132 der Richtlinie 2006/112 vorgesehenen Steuerbefreiungen stellen nämlich eigenständige Begriffe des Unionsrechts dar und erfordern daher eine einheitliche Definition auf der Ebene der Europäischen Union (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Mai 2005, Kingscrest Associates und Montecello, C-498/03, EU:C:2005:322, Rn. 22, und vom 21. Januar 2016, Les Jardins de Jouvence, C-335/14, EU:C:2016:36, Rn. 47).
Daher kann die Beantwortung der Frage, ob ein bestimmter Umsatz der Mehrwertsteuer zu unterwerfen oder zu befreien ist, nicht davon abhängen, wie er nach nationalem Recht qualifiziert wird (Urteile vom 26. Mai 2005, Kingscrest Associates und Montecello, C-498/03, EU:C:2005:322, Rn. 25, und vom 14. Juni 2007, Haderer, C-445/05, EU:C:2007:344, Rn. 25).
Darüber hinaus sind nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die Begriffe, mit denen eine Steuerbefreiung wie die in Art. 132 der Richtlinie 2006/112 vorgesehenen umschrieben wird, eng auszulegen, da sie eine Ausnahme von dem allgemeinen Grundsatz darstellt, dass jede Dienstleistung, die ein Steuerpflichtiger gegen Entgelt erbringt, der Umsatzsteuer unterliegt. Die Auslegung dieser Begriffe muss jedoch mit den Zielen im Einklang stehen, die mit den Befreiungen verfolgt werden, und den Erfordernissen des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität entsprechen, auf dem das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht. Die Regel einer engen Auslegung bedeutet somit nicht, dass die zur Definition der in Art. 132 aufgeführten Steuerbefreiungen verwendeten Begriffe in einer Weise auszulegen sind, die den Befreiungen ihre Wirkung nähme (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. September 2017, Aviva, C-605/15, EU:C:2017:718, Rn. 30, und vom 26. Oktober 2017, The English Bridge Union, C-90/16, EU:C:2017:814, Rn. 20).
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 132 der Richtlinie 2006/112 in Kapitel 2 („Steuerbefreiungen für bestimmte, dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten“) ihres Titels IX enthalten ist. Daraus ergibt sich, dass die in dieser Bestimmung vorgesehenen Steuerbefreiungen bestimmte Tätigkeiten im Gemeinwohlinteresse, wie die von den öffentlichen Posteinrichtungen erbrachten Dienstleistungen im Sinne von Art. 132 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie, fördern sollen.
Insbesondere aus der Natur dieses Zwecks ergibt sich, dass die Befreiung nicht für spezifische, von den Dienstleistungen von allgemeinem Interesse trennbare Dienstleistungen gilt, zu denen Dienstleistungen gehören, die besonderen Bedürfnissen von Wirtschaftsteilnehmern entsprechen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. April 2009, TNT Post UK, C-357/07, EU:C:2009:248, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Daher können Dienstleistungen öffentlicher Posteinrichtungen, deren Bedingungen einzelvertraglich ausgehandelt worden sind, nicht als nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 befreit gelten. Schon aufgrund ihrer Natur entsprechen solche Leistungen besonderen Bedürfnissen der betreffenden Nutzer (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. April 2009, TNT Post UK, C-357/07, EU:C:2009:248, Rn. 47).
Darüber hinaus mündet der in Rn. 46 des vorliegenden Urteils dargelegte allgemeine Zweck im Postbereich in den spezifischeren Zweck ein, postalische Dienstleistungen, die den Grundbedürfnissen der Bevölkerung entsprechen, zu ermäßigten Kosten anzubieten. Beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts stimmt ein solcher Zweck im Kern mit dem von der Richtlinie 97/67 verfolgten Zweck, einen Universalpostdienst anzubieten, überein (Urteil vom 23. April 2009, TNT Post UK, C-357/07, EU:C:2009:248, Rn. 33 und 34).
Insoweit hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass als „öffentliche Posteinrichtungen“ im Sinne von Art. 132 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 öffentliche oder private Betreiber zu betrachten sind, die sich verpflichten, postalische Dienstleistungen zu erbringen, die den grundlegenden Bedürfnissen der Bevölkerung entsprechen, und damit in der Praxis den gesamten Universalpostdienst in einem Mitgliedstaat, wie er in Art. 3 der Richtlinie 97/67 beschrieben ist, oder einen Teil davon zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. April 2009, TNT Post UK, C-357/07, EU:C:2009:248, Rn. 36, und vom 21. April 2015, Kommission/Schweden, C-114/14, EU:C:2015:249, Rn. 28).
Zwar werden die Eckpunkte des Begriffs „Leistungen des Universalpostdienstes“ in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 97/67 definiert; demnach bietet ein solcher Dienst ständig flächendeckend postalische Dienstleistungen einer bestimmten Qualität zu tragbaren Preisen für alle Nutzer. Jedoch erlassen die Mitgliedstaaten nach Art. 3 Abs. 4 die erforderlichen Maßnahmen, damit der Universaldienst mindestens Leistungen, die aus der Abholung, dem Sortieren, dem Transport und der Zustellung von Postsendungen und Postpaketen, deren Gewicht das in dieser Bestimmung angegebene Gewicht nicht überschreitet, bestehen, sowie Dienste für Einschreib- und Wertsendungen umfasst. Art. 2 Nrn. 4 bis 6 und 9 der Richtlinie 97/67 enthält mittels verschiedener Definitionen zusätzliche Angaben zum Inhalt eines solchen Mindestangebots.
Den Vorabentscheidungsersuchen ist zu entnehmen, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Leistungen aus der förmlichen Zustellung von Schriftstücken im Rahmen von Gerichts- oder Verwaltungsverfahren bestehen. Nach den auf eine solche Zustellung anwendbaren Vorschriften ist das zuzustellende Schriftstück Gegenstand eines Zustellungsauftrags, der der Post oder einem entsprechenden Dienstleister erteilt wird. Das Schriftstück wird in einen zu verschließenden Umschlag gesteckt, dem ein vorbereiteter Vordruck einer Zustellungsurkunde beigefügt ist, die nach Zustellung des Schriftstücks wieder an die Stelle zurückgelangt, die den Zustellungsauftrag erteilt hat. Aus den Vorabentscheidungsersuchen geht ebenfalls hervor, dass keine pauschale Versicherung durch den Dienstanbieter stattfindet, der förmliche Zustellungen durchführt.
Aus dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 97/67 und insbesondere dem darin enthaltenen Begriff „mindestens“ geht hervor, dass ein Mitgliedstaat zwar zumindest sicherstellen muss, dass die dort genannten Leistungen gewährleistet sind; gleichwohl können auch andere Postdienste als gegebenenfalls unter den von ihm gewährleisteten Universaldienst fallend angesehen werden.
Somit ist, ohne dass geprüft zu werden braucht, ob Leistungen wie diejenigen, die von DIREKTexpress Holding und JUREX erbracht wurden, unter eine der speziellen Kategorien von Postdiensten gemäß Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 97/67 fallen, im vorliegenden Fall festzustellen, dass diese Leistungen wegen der ihnen eigenen Merkmale und des Kontexts, in dem sie erbracht werden, in jedem Fall als Teil des Universaldienstes, wie er in dieser Bestimmung definiert ist, anzusehen sind.
Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass für die Anbieter, die den gesamten postalischen Universaldienst oder einen Teil davon gewährleisten, eine besondere rechtliche Grundlage gilt, die spezielle Verpflichtungen umfasst. Der Unterschied zwischen „öffentlichen Posteinrichtungen“ und anderen Anbietern beruht nämlich nicht auf der Art der erbrachten Leistungen, sondern darauf, dass für sie eine solche rechtliche Grundlage gilt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. April 2015, Kommission/Schweden, C-114/14, EU:C:2015:249, Rn. 33).
Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den dem Gerichtshof zur Verfügung stehenden Angaben, dass für DIREKTexpress Holding und JUREX während des maßgeblichen Zeitraums Vorschriften galten, die nicht einzelvertraglich ausgehandelt wurden, sondern sich aus speziellen Verpflichtungen aufgrund der deutschen Regelung ergaben.
Insbesondere ist nach dieser Regelung der Inhaber einer Lizenz, die es ihm gestattet, Briefzustelldienstleistungen zu erbringen, verpflichtet, förmliche Zustellungen von Schriftstücken unabhängig von ihrem Gewicht gemäß den Verfahrensordnungen und den Gesetzen über die Verwaltungszustellung durchzuführen. Darüber hinaus richtet sich das Entgelt eines solchen Lizenzinhabers nach den in dieser Regelung vorgesehenen Anforderungen und muss von der zuständigen nationalen Behörde genehmigt werden. Zudem geht aus den dem Gerichtshof zur Verfügung stehenden Angaben hervor, dass die förmliche Zustellung von Gerichtsentscheidungen Rechtsmittelfristen in Lauf setzt und eine Übertragung hoheitlicher Aufgaben impliziert, da der Anbieter von Briefzustelldienstleistungen, wenn er einen förmlichen Zustellungsauftrag durchzuführen hat, nach der deutschen Regelung mit Hoheitsbefugnissen ausgestattet ist, damit er seine Verpflichtungen erfüllen kann.
Hieraus folgt, dass diese Dienste nicht besonderen Bedürfnissen von Wirtschaftsteilnehmern oder von bestimmten anderen einzelnen Nutzern entsprechen sollen, sondern darauf abzielen, eine ordnungsgemäße Rechtspflege sicherzustellen, da sie die förmliche Zustellung von Dokumenten im Rahmen von Gerichts- oder Verwaltungsverfahren ermöglichen.
Was sodann die Voraussetzung in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 97/67 anbelangt, wonach der Universaldienst „für alle Nutzer“ angeboten wird, sind, wie das vorlegende Gericht ausführt, hauptsächlich Gerichte und Verwaltungsbehörden die Auftraggeber förmlicher Zustellungen nach der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden deutschen Regelung. Folglich können diese Zustellungen nicht von jeder Privatperson in Auftrag gegeben werden, sondern stehen im Wesentlichen öffentlichen Stellen zur Verfügung.
Trotz dieses Umstands ist die in der vorstehenden Randnummer angesprochene Voraussetzung jedoch im vorliegenden Fall als erfüllt anzusehen. Insbesondere sind erstens, worauf die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen zu Recht hinweist, die „Nutzer“ von Postdiensten nach Art. 2 Nr. 17 der Richtlinie 97/67 nicht nur diejenigen natürlichen oder juristischen Personen, die einen solchen Dienst als Absender in Anspruch nehmen, sondern auch die Empfänger dieser Dienste.
Zweitens werden förmliche Zustellungen zwar in Erfüllung von Aufträgen öffentlicher Stellen durchgeführt, doch zielt deren Tätigkeit nicht darauf ab, ihnen eigene Bedürfnisse zu befriedigen, sondern darauf, das ordnungsgemäße Funktionieren des Justiz- oder Verwaltungssystems zu gewährleisten, dem sie angehören. Diese Tätigkeit wird somit für all diejenigen ausgeführt, die von der Möglichkeit betroffen sind, ein Schriftstück gemäß dem in Rn. 52 des vorliegenden Urteils dargelegten Verfahren zuzustellen.
Drittens stellt, wie die Kommission ebenfalls zu Recht hervorhebt, die förmliche Zustellung von Schriftstücken nur einen Bestandteil des von einem Mitgliedstaat sicherzustellenden Universaldienstes dar, wobei es ihm zudem frei steht, nach Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 97/67 mehrere Anbieter für die Gewährleistung verschiedener Bestandteile des Universaldienstes oder für die Versorgung verschiedener Teile seines Hoheitsgebiets zu benennen.
Schließlich geht aus den dem Gerichtshof vorgelegten Unterlagen hervor, dass die förmlichen Zustellungen von Schriftstücken, die zwingend vom Inhaber einer Lizenz, die ihm die Erbringung von Briefzustelldienstleistungen gestattet, erbracht werden müssen, nach der für sie maßgebenden nationalen Regelung offenbar flächendeckend zu tragbaren Preisen zu erbringen sind; dies zu prüfen ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts.
Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass Dienstleistungen wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden im Einklang mit dem in Rn. 49 des vorliegenden Urteils dargelegten spezifischen Zweck im Postbereich Grundbedürfnissen der deutschen Bevölkerung entsprechen.
Nach alledem ist festzustellen, dass Wirtschaftsteilnehmer wie DIREKTexpress Holding und JUREX, die – wie sich aus den dem Gerichtshof zur Verfügung stehenden Angaben ergibt, was aber vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist –Inhaber einer Lizenz für die Erbringung von Briefzustelldienstleistungen waren und die somit verpflichtet waren, im deutschen Hoheitsgebiet flächendeckend förmliche Zustellungen von Schriftstücken unter den speziellen in Rn. 57 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen zu gewährleisten, einen Teil der „Leistungen des Universalpostdienstes“ im Sinne von Art. 3 der Richtlinie 97/67 sicherstellen. Wie aus Rn. 50 des vorliegenden Urteils hervorgeht, sind solche Wirtschaftsteilnehmer jedoch aufgrund der Tatsache, dass diese Leistungen zum Universalpostdienst gehören, bei ihrer Erbringung als „öffentliche Posteinrichtungen“ im Sinne von Art. 132 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 anzusehen, so dass diese Leistungen nach der letztgenannten Bestimmung von der Umsatzsteuer zu befreien sind.
Diese Erwägungen können nicht dadurch in Frage gestellt werden, dass die betreffenden Dienstleistungen nach der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung nicht als Teil des Universaldienstes angesehen werden. Wie den Rn. 42 bis 44 des vorliegenden Urteils zu entnehmen ist, kann nämlich die Einstufung eines bestimmten Umsatzes nach nationalem Recht nicht bewirken, dass er mit Umsatzsteuer belegt wird, obwohl er nach dem Unionsrecht von der Umsatzsteuer befreit ist.
Gleiches gilt hinsichtlich des von der finnischen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen hervorgehobenen Umstandes, dass der Kommission entgegen der Verpflichtung in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 97/67 die Identität von DIREKTexpress Holding und JUREX als Anbieter eines Teils der Leistungen des Universalpostdienstes nicht mitgeteilt worden sei.
Insbesondere kann der Verstoß gegen diese Mitteilungspflicht – sein Vorliegen unterstellt – für sich genommen nicht dazu führen, dass die Mitgliedstaaten die Anwendbarkeit der in Art. 132 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 vorgesehenen Befreiung nach ihrem Belieben ausschließen können, obwohl es um Leistungen des Universalpostdienstes geht. Hätten die Mitgliedstaaten diese Möglichkeit, bestünde nämlich die Gefahr eines Verstoßes nicht nur gegen die in den Rn. 42 bis 44 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung, sondern auch gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität, der es nicht zulässt, dass Wirtschaftsteilnehmer, die gleichartige Umsätze tätigen, bei der Erhebung der Mehrwertsteuer unterschiedlich behandelt werden (vgl. dazu Urteil vom 28. Juni 2007, JP Morgan Fleming Claverhouse Investment Trust und The Association of Investment Trust Companies, C-363/05, EU:C:2007:391, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Die Erwägungen in Rn. 65 des vorliegenden Urteils werden auch nicht durch Art. 3 Abs. 7 der Richtlinie 97/67 entkräftet, wonach der Universaldienst sowohl Inlandsleistungen als auch grenzüberschreitende Leistungen umfasst.
Zwar werden durch diese Bestimmung grenzüberschreitende Postdienstleistungen in den in Art. 3 der Richtlinie 97/67 definierten Begriff „Universaldienst“ einbezogen, doch kann sie nicht allein deshalb dahin ausgelegt werden, dass sie zum Ausschluss nationaler Leistungen wie der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden vom Anwendungsbereich dieses Begriffs führt, weil das Leistungsangebot des betreffenden Anbieters keine grenzüberschreitenden Leistungen umfasst. Wie nämlich aus Rn. 62 des vorliegenden Urteils hervorgeht, steht es einem Mitgliedstaat frei, mehrere Anbieter für die Gewährleistung verschiedener Bestandteile des Universaldienstes oder für die Versorgung verschiedener Teile seines Hoheitsgebiets zu benennen; dies impliziert, dass der Mitgliedstaat beschließen kann, einen bestimmten Anbieter nur mit der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden förmlichen Zustellung von Schriftstücken in seinem Hoheitsgebiet zu betrauen.
Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 2 Nr. 13 und Art. 3 der Richtlinie 97/67 dahin auszulegen sind, dass Anbieter von Briefzustelldienstleistungen wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die in ihrer Eigenschaft als Inhaber einer nationalen Lizenz, die ihnen die Erbringung dieser Dienstleistung gestattet, verpflichtet sind, förmliche Zustellungen von Schriftstücken von Gerichten oder Verwaltungsbehörden nach Vorschriften des nationalen Rechts durchzuführen, als „Universaldiensteanbieter“ im Sinne dieser Bestimmungen anzusehen sind, so dass solche förmlichen Zustellungen als von „öffentlichen Posteinrichtungen“ erbrachte Dienstleistungen nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 von der Umsatzsteuer zu befreien sind.
Kosten
Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 2 Nr. 13 und Art. 3 der Richtlinie 97/67/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 1997 über gemeinsame Vorschriften für die Entwicklung des Binnenmarktes der Postdienste der Gemeinschaft und die Verbesserung der Dienstequalität in der durch die Richtlinie 2008/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Februar 2008 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass Anbieter von Briefzustelldienstleistungen wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die in ihrer Eigenschaft als Inhaber einer nationalen Lizenz, die ihnen die Erbringung dieser Dienstleistung gestattet, verpflichtet sind, förmliche Zustellungen von Schriftstücken von Gerichten oder Verwaltungsbehörden nach Vorschriften des nationalen Rechts durchzuführen, als „Universaldiensteanbieter“ im Sinne dieser Bestimmungen anzusehen sind, so dass solche förmlichen Zustellungen als von „öffentlichen Posteinrichtungen“ erbrachte Dienstleistungen nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem von der Umsatzsteuer zu befreien sind.
Regan
Jarukaitis
Juhász
Ilešič
Lycourgos
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 16. Oktober 2019.
Der Kanzler
A. Calot Escobar
Der Präsident der Fünften Kammer
E. Regan
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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