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EuGH 29.07.2019 - C-388/18
EuGH 29.07.2019 - C-388/18 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer) - 29. Juli 2019 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Harmonisierung des Steuerrechts – Richtlinie 2006/112/EG – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Art. 288 Abs. 1 Nr. 1 und Art. 315 – Sonderregelung für Kleinunternehmen – Sonderregelung für steuerpflichtige Wiederverkäufer – Steuerpflichtiger Wiederverkäufer, der der Differenzbesteuerung unterliegt – Für die Anwendbarkeit der Sonderregelung für Kleinunternehmen maßgeblicher Jahresumsatz – Handelsspanne oder vereinnahmte Beträge“
Leitsatz
In der Rechtssache C-388/18
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzhof (Deutschland) mit Entscheidung vom 7. Februar 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Juni 2018, in dem Verfahren
Finanzamt A
gegen
B
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos sowie der Richter E. Juhász (Berichterstatter) und I. Jarukaitis,
Generalanwalt: G. Pitruzzella,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
der deutschen Regierung, zunächst vertreten durch T. Henze und S. Eisenberg, dann durch S. Eisenberg als Bevollmächtigte,
der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Mantl und L. Lozano Palacios als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 288 Abs. 1 Nr. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
Das Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Finanzamt A (Deutschland) und B, der als Gebrauchtwagenhändler tätig ist, über die Methode zur Ermittlung des Jahresumsatzes von B für die Anwendung der in der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Sonderregelung für Kleinunternehmen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Art. 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Bei der Lieferung von Gegenständen und Dienstleistungen, die nicht unter die Artikel 74 bis 77 fallen, umfasst die Steuerbemessungsgrundlage alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer für diese Umsätze vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen.“
Titel XII („Sonderregelungen“) der Mehrwertsteuerrichtlinie enthält in Kapitel 1 eine „Sonderregelung für Kleinunternehmen“. Abschnitt 2 („Steuerbefreiungen und degressive Steuerermäßigungen“) des Kapitels 1 der Richtlinie umfasst ihre Art. 282 bis 292.
Gemäß Art. 282 der Mehrwertsteuerrichtlinie gelten die Steuerbefreiungen und -ermäßigungen nach Abschnitt 2 für Lieferungen von Gegenständen und für Dienstleistungen, die von Kleinunternehmen bewirkt werden.
Art. 288 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Der Umsatz, der bei der Anwendung der Regelung dieses Abschnitts zugrunde zu legen ist, setzt sich aus folgenden Beträgen ohne Mehrwertsteuer zusammen:
Betrag der Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, soweit diese besteuert werden;
Betrag der gemäß Artikel 110, Artikel 111 und Artikel 125 Absatz 1 sowie Artikel 127 und Artikel 128 Absatz 1 mit Recht auf Vorsteuerabzug von der Steuer befreiten Umsätze;
Betrag der gemäß den Artikeln 146 bis 149 sowie den Artikeln 151, 152 und 153 von der Steuer befreiten Umsätze;
Betrag der Umsätze mit Immobilien, der in Artikel 135 Absatz 1 Buchstaben b bis g genannten Finanzgeschäfte sowie der Versicherungsdienstleistungen, sofern diese Umsätze nicht den Charakter von Nebenumsätzen haben.
Veräußerungen von körperlichen oder nicht körperlichen Investitionsgütern des Unternehmens bleiben bei der Ermittlung dieses Umsatzes jedoch außer Ansatz.“
Nach Art. 289 der Mehrwertsteuerrichtlinie haben „Steuerpflichtige, die eine Steuerbefreiung in Anspruch nehmen, … kein Recht auf Vorsteuerabzug gemäß den Artikeln 167 bis 171 und 173 bis 177 und dürfen die Mehrwertsteuer in ihren Rechnungen nicht ausweisen“.
Art. 290 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Steuerpflichtige, die für die Steuerbefreiung in Betracht kommen, können sich entweder für die normale Mehrwertsteuerregelung oder für die Anwendung der in Artikel 281 genannten vereinfachten Modalitäten entscheiden. In diesem Fall gelten für sie die in den nationalen Rechtsvorschriften gegebenenfalls vorgesehenen degressiven Steuerermäßigungen.“
Kapitel 4 des Titels XII der Mehrwertsteuerrichtlinie betrifft „Sonderregelungen für Gebrauchtgegenstände, Kunstgegenstände, Sammlungsstücke und Antiquitäten“. Abschnitt 2 („Sonderregelung für steuerpflichtige Wiederverkäufer“) dieses Kapitels enthält in Unterabschnitt 1 („Differenzbesteuerung“) die Art. 312 bis 325 der Richtlinie.
Art. 313 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten wenden auf die Lieferungen von Gebrauchtgegenständen, Kunstgegenständen, Sammlungsstücken und Antiquitäten durch steuerpflichtige Wiederverkäufer eine Sonderregelung zur Besteuerung der von dem steuerpflichtigen Wiederverkäufer erzielten Differenz (Handelsspanne) gemäß diesem Unterabschnitt an.“
Art. 314 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Die Differenzbesteuerung gilt für die Lieferungen von Gebrauchtgegenständen, Kunstgegenständen, Sammlungsstücken und Antiquitäten durch einen steuerpflichtigen Wiederverkäufer, wenn ihm diese Gegenstände innerhalb der [Union] von einer der folgenden Personen geliefert werden:
von einem Nichtsteuerpflichtigen;
von einem anderen Steuerpflichtigen, sofern die Lieferungen des Gegenstands durch diesen anderen Steuerpflichtigen gemäß Artikel 136 von der Steuer befreit ist;
von einem anderen Steuerpflichtigen, sofern für die Lieferung des Gegenstands durch diesen anderen Steuerpflichtigen die Steuerbefreiung für Kleinunternehmen gemäß den Artikeln 282 bis 292 gilt und es sich dabei um ein Investitionsgut handelt;
von einem anderen steuerpflichtigen Wiederverkäufer, sofern die Lieferung des Gegenstands durch diesen anderen steuerpflichtigen Wiederverkäufer gemäß dieser Sonderregelung mehrwertsteuerpflichtig ist.“
Art. 315 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Die Steuerbemessungsgrundlage bei der Lieferung von Gegenständen nach Artikel 314 ist die von dem steuerpflichtigen Wiederverkäufer erzielte Differenz (Handelsspanne), abzüglich des Betrags der auf diese Spanne erhobenen Mehrwertsteuer.
Die Differenz (Handelsspanne) des steuerpflichtigen Wiederverkäufers entspricht dem Unterschied zwischen dem von ihm geforderten Verkaufspreis und dem Einkaufspreis des Gegenstands.“
Deutsches Recht
§ 1 („Steuerbare Umsätze“) des Umsatzsteuergesetzes in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (BGBl. 2005 I S. 386, im Folgenden: UStG) sieht vor:
„(1) Der Umsatzsteuer unterliegen die folgenden Umsätze:
die Lieferungen und sonstigen Leistungen, die ein Unternehmer im Inland gegen Entgelt im Rahmen seines Unternehmens ausführt …“
§ 10 („Bemessungsgrundlage für Lieferungen, sonstige Leistungen und innergemeinschaftliche Erwerbe“) UStG bestimmt:
„Der Umsatz wird bei Lieferungen und sonstigen Leistungen (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1) … nach dem Entgelt bemessen. Entgelt ist alles, was der Leistungsempfänger aufwendet, um die Leistung zu erhalten, jedoch abzüglich der Umsatzsteuer …“
In § 19 („Besteuerung der Kleinunternehmer“) UStG heißt es:
„(1) Die für Umsätze im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 geschuldete Umsatzsteuer wird von Unternehmern … nicht erhoben, wenn der in Satz 2 bezeichnete Umsatz zuzüglich der darauf entfallenden Steuer im vorangegangenen Kalenderjahr 17500 Euro nicht überstiegen hat und im laufenden Kalenderjahr 50000 Euro voraussichtlich nicht übersteigen wird. Umsatz im Sinne des Satzes 1 ist der nach vereinnahmten Entgelten bemessene Gesamtumsatz, gekürzt um die darin enthaltenen Umsätze von Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens. …
…
(3) Gesamtumsatz ist die Summe der vom Unternehmer ausgeführten steuerbaren Umsätze im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 abzüglich folgender Umsätze:
…“
§ 25a („Differenzbesteuerung) UStG sieht vor:
„(1) Für die Lieferungen im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 von beweglichen körperlichen Gegenständen gilt eine Besteuerung nach Maßgabe der nachfolgenden Vorschriften (Differenzbesteuerung), wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:
…
(3) Der Umsatz wird nach dem Betrag bemessen, um den der Verkaufspreis den Einkaufspreis für den Gegenstand übersteigt; …
…“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
B führte im Rahmen seiner Tätigkeit als Gebrauchtwagenhändler Umsätze aus, die der Differenzbesteuerung gemäß § 25a UStG unterlagen. Sein anhand seiner vereinnahmten Entgelte ermittelter Umsatz betrug 27358 Euro für 2009 und 25115 Euro für 2010.
In seinen Umsatzsteuererklärungen vom 10. Februar 2010 (für 2009) und vom 23. März 2011 (für 2010) nahm B an, er könne sich auf seine Eigenschaft als „Kleinunternehmer“ im Sinne von § 19 UStG berufen, da seine Umsätze für 200917 328 Euro und für 201017 470 Euro betrugen. B ermittelte diese Umsätze nicht anhand seiner vereinnahmten Entgelte, sondern anhand seiner Handelsspanne gemäß § 25a Abs. 3 UStG.
Bei der ersten Umsatzsteuererklärung vertrat die Finanzverwaltung die Auffassung, der bei der Anwendung der Regelung für Kleinunternehmen zugrunde zu legende Jahresumsatz könne anhand des Betrags der Handelsspanne ermittelt werden, und akzeptierte deshalb die Inanspruchnahme der Sonderregelung für Kleinunternehmen durch B.
Bei der zweiten Umsatzsteuererklärung versagte das Finanzamt A jedoch mit Umsatzsteuerbescheid vom 4. Oktober 2012 B die Anwendung der Kleinunternehmerregelung für das Jahr 2010. Die Verwaltungspraxis hatte sich nämlich durch den Umsatzsteuer-Anwendungserlass vom 1. Oktober 2010 (BStBl. 2010 I, S. 846) geändert, wonach für die Anwendung der Kleinunternehmerregelung u. a. in Fällen der Differenzbesteuerung bei Wiederverkäufern der Jahresumsatz anhand der vereinnahmten Entgelte und nicht anhand der Handelsspanne zu ermitteln war.
Nachdem der gegen diesen Steuerbescheid eingelegte Einspruch zurückgewiesen worden war, erhob B Klage beim zuständigen Finanzgericht (Deutschland), das den Steuerbescheid mit der Begründung aufhob, die vereinnahmten Entgelte, die über die Handelsspanne hinausgingen, seien bei der Ermittlung des Umsatzes für die Anwendung der Sonderregelung für Kleinunternehmen unberücksichtigt zu lassen.
Das Finanzgericht führte aus, Art. 288 Abs. 1 Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie habe unmittelbare Wirkung und stehe der vom Finanzamt A herangezogenen Berechnungsmethode entgegen. Nach dieser Bestimmung setze sich der Umsatz, der bei der Anwendung der Kleinunternehmerregelung zugrunde zu legen sei, nämlich aus dem Betrag der Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen zusammen, „soweit diese besteuert werden“. Bei der Differenzbesteuerung, die für die von B ausgeführten Lieferungen gelte, werde nach Art. 315 der Mehrwertsteuerrichtlinie aber nur die Handelsspanne besteuert.
Das Finanzamt A bringt im Rahmen der von ihm beim Bundesfinanzhof (Deutschland) eingelegten Revision vor, Art. 288 Abs. 1 Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie sei fehlerhaft ausgelegt worden.
Das vorlegende Gericht scheint die Auffassung des Finanzgerichts zu teilen, wonach der Umsatz, der bei der Anwendung der in den Art. 282 ff. der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Kleinunternehmerregelung auf Händler, die gemäß Art. 314 der Richtlinie der Differenzbesteuerung unterlägen, zugrunde zu legen sei, anhand der Handelsspanne zu ermitteln sei, da Art. 313 Abs. 1 der Richtlinie eine für solche Händler geltende Sonderregelung vorsehe. Gemäß Art. 288 Abs. 1 Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie setze sich der zu berücksichtigende Umsatz aus dem Betrag der Lieferungen von Gegenständen zusammen, „soweit diese besteuert werden“. Diese Klarstellung verweise auf den Umfang der Bemessungsgrundlage, die sich bei der in Art. 315 der Richtlinie vorgesehenen Regelung auf die Handelsspanne beschränke.
Die Wendung „soweit diese besteuert werden“ in Art. 288 Abs. 1 Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie könnte jedoch auch dahin verstanden werden, dass nur steuerfreie Leistungen von dem für die Anwendung der Kleinunternehmerregelung maßgeblichen Umsatz ausgeschlossen werden müssten. Bei diesem Ansatz wären die der Differenzbesteuerung unterliegenden Lieferungen, die nicht steuerbefreit seien, sondern als solche besteuert würden, vollständig und nicht nur in Höhe der nach Maßgabe der Sonderregelung in Art. 315 der Richtlinie ermittelten Bemessungsgrundlage des Umsatzes zu erfassen.
Ferner sei nicht ausgeschlossen, dass Art. 288 Abs. 1 Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie mit dem „Betrag“ der Lieferungen von Gegenständen die „Summe“ der erzielten Entgelte und damit die Steuerbemessungsgrundlage im Sinne von Art. 73 der Richtlinie meine.
Da nach Ansicht des Bundesfinanzhofs die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits die Auslegung von Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie erfordert, hat er beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist in Fällen der Differenzbesteuerung nach den Art. 311 ff. der Mehrwertsteuerrichtlinie die Bestimmung des Art. 288 Abs. 1 Nr. 1 dieser Richtlinie dahin gehend auszulegen, dass für die Bemessung des danach maßgeblichen Umsatzes bei der Lieferung von Gegenständen nach Art. 314 der Mehrwertsteuerrichtlinie gemäß Art. 315 der Richtlinie auf die Differenz zwischen dem geforderten Verkaufspreis und dem Einkaufspreis (Handelsspanne) abzustellen ist?
Zur Vorlagefrage
Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 288 Abs. 1 Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin gehend auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung oder einer nationalen Verwaltungspraxis entgegensteht, wonach bei der Ermittlung des Umsatzes, der für die Anwendbarkeit der Sonderregelung für Kleinunternehmen auf einen der Differenzbesteuerung bei steuerpflichtigen Wiederverkäufern unterliegenden Steuerpflichtigen zugrunde zu legen ist, gemäß Art. 315 der Richtlinie nur die erzielte Handelsspanne berücksichtigt wird.
Nach Art. 288 Abs. 1 Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie setzt sich der Umsatz, der bei der Anwendung der Sonderregelung für Kleinunternehmen zugrunde zu legen ist, aus dem Betrag ohne Mehrwertsteuer der Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen zusammen, soweit diese besteuert werden.
Nach ständiger Rechtsprechung verlangen die einheitliche Anwendung des Unionsrechts und der Gleichheitssatz, dass die Begriffe einer unionsrechtlichen Vorschrift, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union autonom und einheitlich auszulegen sind, wobei diese Auslegung unter Berücksichtigung nicht nur des Wortlauts der Bestimmung, sondern auch ihres Regelungszusammenhangs und des mit der fraglichen Regelung verfolgten Zwecks zu erfolgen hat (Urteil vom 23. Mai 2019, WB, C-658/17, EU:C:2019:444, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Zunächst ist zur wörtlichen Auslegung von Art. 288 Abs. 1 Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie festzustellen, dass sich der Umsatz des Steuerpflichtigen schon nach dem Wortlaut dieser Bestimmung aus dem Gesamtbetrag ohne Mehrwertsteuer der besteuerten Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen zusammensetzt, wobei sich das Wort „besteuert“ aber nicht auf das Wort „Betrag“, sondern auf „Lieferungen“ oder „Leistungen“ bezieht.
Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung müssen demnach Lieferungen oder Leistungen als solche besteuert werden, damit ihr Betrag in den Umsatz des Steuerpflichtigen einbezogen wird, ohne nähere Angaben dazu, wie sie zu besteuern sind, d. h. ohne Angabe der Modalitäten, nach denen sie besteuert werden.
Dem Wortlaut ist auch nicht zu entnehmen, dass die Lieferungen oder Leistungen in jedem Fall vollständig besteuert werden müssen.
Fest steht aber, dass die vom steuerpflichtigen Wiederverkäufer ausgeführten Lieferungen besteuert werden, wenn auch nach einer Sonderregelung.
Deshalb impliziert eine wörtliche Auslegung von Art. 288 Abs. 1 Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie, dass der Gesamtbetrag der von den steuerpflichtigen Wiederverkäufern ausgeführten Lieferungen und nicht deren Handelsspanne den Umsatz darstellt, der für die Anwendbarkeit der Sonderregelung für Kleinunternehmen zugrunde zu legen ist.
Diese Auslegung wird durch die Systematik, die Entstehungsgeschichte und die Zielsetzung der Mehrwertsteuerrichtlinie bestätigt.
Zur Systematik der Richtlinie ist darauf hinzuweisen, dass es im vorliegenden Fall um das Zusammenspiel zweier in der Richtlinie vorgesehener Sonderregelungen – der Sonderregelung für Kleinunternehmen und der Sonderregelung für steuerpflichtige Wiederverkäufer – geht.
Wie die deutsche Regierung zu Recht ausgeführt hat, sind die Sonderregelung für Kleinunternehmen und die Sonderregelung für steuerpflichtige Wiederverkäufer aber zwei voneinander unabhängige autonome Sonderregelungen. Wird in einer von ihnen nicht auf die Tatbestandsmerkmale und Begriffe der anderen Regelung Bezug genommen, ist der Inhalt der einen grundsätzlich zu beurteilen, ohne dass der Inhalt der anderen berücksichtigt zu werden braucht.
Auch die Entstehungsgeschichte der Mehrwertsteuerregelung bestätigt, dass sich der Begriff „von dem steuerpflichtigen Wiederverkäufer erzielte Differenz (Handelsspanne)“ keinen Einfluss darauf haben kann, wie der Begriff „Umsatz“ im Rahmen der Sonderregelung für Kleinunternehmen auszulegen ist.
Die Sonderregelung für Kleinunternehmen wurde nämlich durch die Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. 1977, L 145, S. 1) eingeführt; erst später wurde mit der Richtlinie 94/5/EG des Rates vom 14. Februar 1994 zur Ergänzung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG – Sonderregelung für Gebrauchtgegenstände, Kunstgegenstände, Sammlungsstücke oder Antiquitäten (ABl. 1994, L 60, S. 16) eine Sonderregelung für steuerpflichtige Wiederverkäufer geschaffen.
Deshalb kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich die durch die Sechste Richtlinie 77/388 eingeführten Vorschriften zur Ermittlung des Umsatzes für die Anwendung der Sonderregelung für Kleinunternehmen nach den Vorschriften der durch die Richtlinie 94/5 eingeführten Sonderregelung für steuerpflichtige Wiederverkäufer richten, es sei denn, dies wäre ausdrücklich so vorgesehen.
In Bezug auf die Zielsetzung der Sonderregelung für Kleinunternehmen hat der Gerichtshof entschieden, dass der Unionsgesetzgeber mit ihr die Anforderungen an die Buchführung, die das normale Mehrwertsteuersystem mit sich bringt, herabsetzen wollte (Urteil vom 6. Oktober 2005, MyTravel, C-291/03, EU:C:2005:591, Rn. 39), wobei diese Verwaltungsvereinfachungen insbesondere die Gründung und Tätigkeit von Kleinunternehmen fördern und deren Wettbewerbsfähigkeit stärken sollen (Urteile vom 26. Oktober 2010, Schmelz, C-97/09, EU:C:2010:632, Rn. 63, und vom 2. Mai 2019, Jarmuškienė, C-265/18, EU:C:2019:348, Rn. 37).
Insoweit ist der deutschen Regierung beizupflichten, dass das mit der Sonderregelung für Kleinunternehmen verfolgte Ziel nicht die Wettbewerbsfähigkeit großer, als Weiterverkäufer von Gebrauchtgegenständen tätiger Unternehmen stärken soll. Würden die über die Handelsspanne hinausgehenden vereinnahmten Entgelte bei der Ermittlung des Umsatzes für die Anwendung dieser Sonderregelung nicht berücksichtigt, könnten solche Unternehmen, die einen hohen Umsatz erzielen und eine geringe Handelsspanne haben, unter die Sonderregelung fallen und dadurch einen ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil erlangen.
Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 288 Abs. 1 Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin gehend auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung oder einer nationalen Verwaltungspraxis entgegensteht, wonach bei der Ermittlung des Umsatzes, der für die Anwendbarkeit der Sonderregelung für Kleinunternehmen auf einen der Differenzbesteuerung bei steuerpflichtigen Wiederverkäufern unterliegenden Steuerpflichtigen zugrunde zu legen ist, gemäß Art. 315 der Richtlinie nur die erzielte Handelsspanne berücksichtigt wird. Dieser Umsatz ist auf der Grundlage aller von dem steuerpflichtigen Wiederverkäufer vereinnahmten oder zu vereinnahmenden Beträge ohne Mehrwertsteuer zu ermitteln, unabhängig von den Modalitäten, nach denen diese Beträge tatsächlich besteuert werden.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 288 Abs. 1 Nr. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin gehend auszulegen, dass er einer nationalen Regelung oder einer nationalen Verwaltungspraxis entgegensteht, wonach bei der Ermittlung des Umsatzes, der für die Anwendbarkeit der Sonderregelung für Kleinunternehmen auf einen der Differenzbesteuerung bei steuerpflichtigen Wiederverkäufern unterliegenden Steuerpflichtigen zugrunde zu legen ist, gemäß Art. 315 der Richtlinie nur die erzielte Handelsspanne berücksichtigt wird. Dieser Umsatz ist auf der Grundlage aller von dem steuerpflichtigen Wiederverkäufer vereinnahmten oder zu vereinnahmenden Beträge ohne Mehrwertsteuer zu ermitteln, unabhängig von den Modalitäten, nach denen diese Beträge tatsächlich besteuert werden.
Lycourgos
Juhász
Jarukaitis
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 29. Juli 2019.
Der Kanzler
A. Calot Escobar
Der Präsident der Zehnten Kammer
C. Lycourgos
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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