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EuGH 21.12.2016 - C-508/15, C-509/15
EuGH 21.12.2016 - C-508/15, C-509/15 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer) - 21. Dezember 2016 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung — Assoziierungsabkommen EWG — Türkei — Beschluss Nr. 1/80 — Art. 7 Abs. 1 — Aufenthaltsrecht der Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört — Voraussetzungen — Fehlen eines Erfordernisses, wonach der türkische Arbeitnehmer während der ersten drei Jahre des Aufenthalts des Familienangehörigen dem regulären Arbeitsmarkt angehören muss“
Leitsatz
In den verbundenen Rechtssachen C-508/15 und C-509/15
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht Berlin (Deutschland) mit Entscheidungen vom 9. Juli 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 24. September 2015, in den Verfahren
Sidika Ucar (C-508/15),
Recep Kilic (C-509/15)
gegen
Land Berlin
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev, C. G. Fernlund und S. Rodin,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
von Frau Ucar, vertreten durch die Rechtsanwälte P. Meyer und C. Rosenkranz und die Rechtsanwältin M. Wilken,
des Landes Berlin, vertreten durch M. Wehner als Bevollmächtigten,
der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin und T. Maxian Rusche als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. September 2016
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, der dem von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits am 12. September 1963 in Ankara unterzeichneten und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 im Namen der Gemeinschaft geschlossenen, gebilligten und bestätigten Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685) (im Folgenden: Assoziierungsabkommen) beigefügt ist.
Sie ergehen im Rahmen von zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen Frau Sidika Ucar (Rechtssache C-508/15) und Herrn Recep Kilic (Rechtssache C-509/15) einerseits und dem Land Berlin (Deutschland) andererseits wegen der Ablehnung ihrer jeweiligen Anträge auf Verlängerung ihrer deutschen Aufenthaltserlaubnis durch die Ausländerbehörde (im Folgenden: Ausländerbehörde) des Landesamts für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten Berlin (Deutschland) und im Fall von Herrn Kilic außerdem wegen der Entscheidung der Ausländerbehörde, mit der seine Ausweisung aus dem deutschen Hoheitsgebiet angeordnet wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Assoziierungsabkommen
Nach Art. 2 Abs. 1 des Assoziierungsabkommens hat dieses zum Ziel, eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien unter voller Berücksichtigung der Notwendigkeit zu fördern, dass hierbei der beschleunigte Aufbau der türkischen Wirtschaft sowie die Hebung des Beschäftigungsstands und der Lebensbedingungen des türkischen Volkes gewährleistet werden.
Dazu sieht das Assoziierungsabkommen eine Vorbereitungsphase vor, die es der Republik Türkei ermöglichen soll, ihre Wirtschaft mit Hilfe der Gemeinschaft zu festigen (Art. 3), eine Übergangsphase, in der die schrittweise Errichtung einer Zollunion und die Annäherung der Wirtschaftspolitiken vorgesehen sind (Art. 4), und eine auf der Zollunion beruhende Endphase, die eine verstärkte Koordinierung der Wirtschaftspolitiken der Vertragsparteien einschließt (Art. 5).
Art. 12 in Titel II („Durchführung der Übergangsphase“) des Assoziierungsabkommens lautet:
„Die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln [45, 46 und 47 AEUV] leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen.“
Zusatzprotokoll
Das am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichnete und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 (ABl. 1972, L 293, S. 1) im Namen der Gemeinschaft geschlossene, gebilligte und bestätigte Zusatzprotokoll (im Folgenden: Zusatzprotokoll) legt in Art. 1 die Bedingungen, die Einzelheiten und den Zeitplan für die Verwirklichung der in Art. 4 des Assoziierungsabkommens genannten Übergangsphase fest.
Nach Art. 62 des Zusatzprotokolls ist es Bestandteil dieses Abkommens.
Das Zusatzprotokoll enthält einen Titel II („Freizügigkeit und Dienstleistungsverkehr“), dessen Kapitel I Arbeitskräfte betrifft.
Art. 36 des Zusatzprotokolls, der zu Kapitel I gehört, bestimmt, dass die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und der Türkei nach den Grundsätzen des Art. 12 des Assoziierungsabkommens zwischen dem Ende des zwölften und dem Ende des zweiundzwanzigsten Jahres nach dem Inkrafttreten des genannten Abkommens schrittweise hergestellt wird und der Assoziationsrat die hierfür erforderlichen Regeln festlegt.
Beschluss Nr. 1/80
Am 19. September 1980 erließ der Assoziationsrat den Beschluss Nr. 1/80. Die Art. 6, 7 und 14 dieses Beschlusses stehen in Abschnitt 1 („Fragen betreffend die Beschäftigung und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer“) des Kapitels II („Soziale Bestimmungen“) dieses Beschlusses.
Art. 6 Abs. 1 dieses Beschlusses lautet:
„Vorbehaltlich der Bestimmungen in Artikel 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, in diesem Mitgliedstaat
nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt;
nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung – vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs – das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaates eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben;
nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis.“
Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses bestimmt:
„Die Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen,
haben vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs das Recht, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, wenn sie dort seit mindestens drei Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben;
haben freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis, wenn sie dort seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben.“
Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 sieht vor:
„Dieser Abschnitt gilt vorbehaltlich der Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind.“
Deutsches Recht
Aus dem Vorlagebeschluss in der Rechtssache C-509/15 ergibt sich, dass im Mai 1997 die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für das deutsche Hoheitsgebiet und im April 1999 die Verlängerung dieser Erlaubnis zum einen durch das Gesetz über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern im Bundesgebiet vom 9. Juli 1990 (BGBl. 1990 I S. 1354, im Folgenden: AuslG) in der Fassung vom 29. Oktober 1997 (BGBl. 2007 I S. 2584) und zum anderen durch die Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes geregelt waren.
§ 7 Abs. 2 AuslG in der Fassung vom 29. Oktober 1997 sah vor:
„Die Aufenthaltsgenehmigung wird in der Regel versagt, wenn
…
der Ausländer seinen Lebensunterhalt … nicht aus eigener Erwerbstätigkeit, eigenem Vermögen oder sonstigen eigenen Mitteln … bestreiten kann.“
§ 17 („Familiennachzug zu Ausländern“) AuslG in der Fassung vom 29. Oktober 1997 bestimmte:
„(1) Einem ausländischen Familienangehörigen eines Ausländers kann zum Zwecke des nach Artikel 6 des Grundgesetzes gebotenen Schutzes von Ehe und Familie eine Aufenthaltserlaubnis für die Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft mit dem Ausländer im Bundesgebiet erteilt und verlängert werden.
(2) Die Aufenthaltserlaubnis darf zu dem in Absatz 1 bezeichneten Zweck nur erteilt werden, wenn
der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung besitzt,
ausreichender Wohnraum zur Verfügung steht und
der Lebensunterhalt des Familienangehörigen aus eigener Erwerbstätigkeit des Ausländers, aus eigenem Vermögen oder sonstigen eigenen Mitteln gesichert ist; zur Vermeidung einer besonderen Härte kann die Aufenthaltsgenehmigung erteilt werden, wenn der Lebensunterhalt der Familie auch aus eigener Erwerbstätigkeit des sich rechtmäßig oder geduldet im Bundesgebiet aufhaltenden Familienangehörigen oder durch einen unterhaltspflichtigen Familienangehörigen gesichert wird.“
Gemäß § 96 Abs. 4 AuslG in der Fassung vom 29. Oktober 1997 wird Staatsangehörigen der Türkei unter 16 Jahren, die vor dem 15. Januar 1997 vom Erfordernis der Aufenthaltsgenehmigung befreit waren und sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten, nach Maßgabe des § 17 Abs. 1 eine Aufenthaltsgenehmigung abweichend von § 17 Abs. 2 Nrn. 2 und 3 und § 8 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 erteilt.
Gemäß § 28 Abs. 4 der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes wird Staatsangehörigen der Türkei unter 16 Jahren, die einen Nationalpass oder einen als Passersatz zugelassenen Kinderausweis besitzen, bis zum 30. Juni 1998 von Amts wegen entsprechend den gesetzlichen Vorschriften eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt, wenn sie erlaubt eingereist sind, sich seither rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten, mindestens ein Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und die Anzeige- oder Meldeplicht erfüllt worden ist.
Aus dem Vorlagebeschluss in der Rechtssache C-508/15 ergibt sich, dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im November 2001 und die in den Jahren 2002 und 2004 gestellten Anträge auf Verlängerung dieser Erlaubnis durch die Vorschriften des Ausländergesetzes in der durch die Gesetze vom 16. Februar 2001 (BGBl. 2001 I S. 266) und vom 9. Januar 2002 (BGBl. 2002 I S. 361) geänderten Fassung geregelt waren. § 18 („Ehegattennachzug“) AuslG in der geänderten Fassung sah vor:
„(1) Dem Ehegatten eines Ausländers ist nach Maßgabe des § 17 eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn der Ausländer
…
eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, die Ehe schon im Zeitpunkt der Einreise des Ausländers bestanden hat und von diesem bei der erstmaligen Beantragung der Aufenthaltserlaubnis angegeben worden ist …
…
(2) Die Aufenthaltserlaubnis kann abweichend von Absatz 1 Nr. 3 erteilt werden.“
Schließlich ergibt sich aus den Vorlagebeschlüssen, dass, was die Ausgangsverfahren angeht, die nationalen Vorschriften, die die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis im Jahr 2006, die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dem Assoziierungsabkommen und die Ausweisung regelten, das Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet vom 30. Juli 2004 (BGBl. 2004 I S. 1950) sowie die am 25. Februar 2008 veröffentlichte Fassung (BGBl. 2008 I S. 162) dieses Gesetzes (im Folgenden: AufenthG) waren.
§ 4 Abs. 5 AufenthG bestimmte:
„Ein Ausländer, dem nach dem [Assoziierungsabkommen] ein Aufenthaltsrecht zusteht, ist verpflichtet, das Bestehen des Aufenthaltsrechts durch den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nachzuweisen, sofern er weder eine Niederlassungserlaubnis noch eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG besitzt. Die Aufenthaltserlaubnis wird auf Antrag ausgestellt.“
§ 5 („Allgemeine Erteilungsvoraussetzungen“) AufenthG lautete:
„Die Erteilung eines Aufenthaltstitels setzt in der Regel voraus, dass
der Lebensunterhalt gesichert ist,
…“
§ 8 („Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis“) AufenthG sah vor:
„(1) Auf die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis finden dieselben Vorschriften Anwendung wie auf die Erteilung.
…“
§ 11 Abs. 1 AufenthG lautete:
„Ein Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, darf nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten. Ihm wird auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs nach diesem Gesetz kein Aufenthaltstitel erteilt …“
§ 27 („Grundsatz des Familiennachzugs“) AufenthG bestimmte:
„(1) Die Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet für ausländische Familienangehörige (Familiennachzug) wird zum Schutz von Ehe und Familie gemäß Artikel 6 des Grundgesetzes erteilt und verlängert.
…“
§ 30 („Ehegattennachzug“) AufenthG sah vor:
„(1) Dem Ehegatten eines Ausländers ist eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn der Ausländer
eine Niederlassungserlaubnis besitzt,
…“
§ 53 AufenthG lautete:
„Ein Ausländer wird ausgewiesen, wenn er
wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist oder wegen vorsätzlicher Straftaten innerhalb von fünf Jahren zu mehreren Freiheits- oder Jugendstrafen von zusammen mindestens drei Jahren rechtskräftig verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist,
wegen einer vorsätzlichen Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz … rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren oder zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist …“
§ 55 AufenthG bestimmte:
„(1) Ein Ausländer kann ausgewiesen werden, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt.
(2) Ein Ausländer kann nach Abs. 1 insbesondere ausgewiesen werden, wenn er
…
einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder gerichtliche oder behördliche Entscheidungen oder Verfügungen begangen … hat …“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Rechtssache C-508/15
Frau Ucar ist eine türkische Staatsangehörige, die 1977 Herrn Ucar, ebenfalls türkischer Staatsangehöriger, heiratete. Die Eheleute lebten in der Türkei. Aus dieser Verbindung gingen im Zeitraum von 1978 bis 1986 vier Kinder hervor. Die Ehe wurde 1991 geschieden.
Im selben Jahr heiratete Herr Ucar eine deutsche Staatsangehörige, mit der er fortan in Deutschland lebte. 1996 erhielt Herr Ucar von den Behörden dieses Mitgliedstaats eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Die Ehe wurde 1999 geschieden.
Im September 2000 heiratete Frau Ucar erneut ihren früheren Ehegatten Herrn Ucar. Im November 2001 reiste Frau Ucar zusammen mit dem jüngsten gemeinsamen Kind des Paares mit einem zum Zweck der Familienzusammenführung mit ihrem Ehegatten erteilten Visum in das deutsche Hoheitsgebiet ein. Am 27. November 2001 erteilte ihr die Ausländerbehörde eine bis zum 26. November 2002 gültige ehebezogene Aufenthaltserlaubnis. Herr Ucar war damals seit Mai 2000 als angestellter Bäcker tätig. Ende 2001 schied er aus diesem Beschäftigungsverhältnis aus und nahm Anfang 2002 eine selbständige Tätigkeit auf.
Im Rahmen des Verfahrens zur Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis verwies Frau Ucar zum Nachweis ihres gesicherten Lebensunterhalts auf die Einkünfte ihres Ehegatten aus diesem Gewerbebetrieb. Ihre Aufenthaltserlaubnis wurde daraufhin am 28. November 2002 zunächst für zwei Jahre, dann am 29. November 2004, weiterhin auf der Grundlage nachgewiesener Einkünfte ihres Ehegatten aus dem Gewerbebetrieb, nochmals bis zum 28. November 2006 verlängert. Im Oktober 2005 beendete Herr Ucar seine selbständige Tätigkeit und war anschließend vom 1. November 2005 bis Dezember 2011 ohne Unterbrechungen wieder als angestellter Bäcker tätig.
Am 21. November 2006 erteilte die Ausländerbehörde Frau Ucar eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug mit dem Vermerk, dass ihr Ehegatte seit November 2005 wieder als Arbeitnehmer beschäftigt sei. Diese Aufenthaltserlaubnis wurde anschließend mehrfach verlängert, zuletzt bis zum 12. Dezember 2013.
Am 16. August 2013 beantragte Frau Ucar die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auf der Grundlage eines Aufenthaltsrechts nach dem Assoziierungsabkommen gemäß § 4 Abs. 5 AufenthG. Zur Stützung ihres Antrags machte sie geltend, dass sie aufgrund der seit November 2005 durchgehenden abhängigen Beschäftigung ihres Ehemanns die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 erfülle.
Mit Bescheid vom 6. Mai 2014 lehnte die Ausländerbehörde eine erneute Verlängerung der ehebezogenen Aufenthaltserlaubnis von Frau Ucar mit der Begründung ab, dass ihr Lebensunterhalt nicht gesichert sei. Da die Ausländerbehörde ferner der Ansicht war, dass Frau Ucar kein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziierungsabkommen erworben habe, erteilte sie Frau Ucar auch keine Aufenthaltserlaubnis auf der Grundlage von § 4 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80.
Nach Ansicht der Ausländerbehörde ist für den Erwerb eines Aufenthaltsrechts auf der Grundlage dieser Vorschriften nämlich zum einen erforderlich, dass der den Nachzug vermittelnde Familienangehörige bereits zum Zeitpunkt der Erteilung der ersten Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug dem örtlichen regulären Arbeitsmarkt angehörte, und zum anderen, dass die Arbeitnehmereigenschaft des Zusammenführenden während der ersten drei Jahre nach der Erteilung dieser Erlaubnis beibehalten wird. Es reiche für diese Zwecke demnach nicht aus, dass der Zusammenführende die Arbeitnehmereigenschaft zu einem späteren Zeitpunkt erwerbe und während drei Jahren beibehalte. In einer Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis könne auch keine Nachzugsgenehmigung im Sinne von Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 gesehen werden, da Frau Ucar bei ihrer Einreise in das deutsche Hoheitsgebiet im Jahr 2001 bereits über eine Genehmigung, zu ihrem Ehemann als türkischem Arbeitnehmer zu ziehen, verfügt habe.
Frau Ucar erhob gegen den Bescheid der Ausländerbehörde vom 6. Mai 2014 Klage beim vorlegenden Gericht, dem Verwaltungsgericht Berlin (Deutschland).
Im Rahmen dieses Verfahrens stellt sich das vorlegende Gericht Fragen hinsichtlich der Tragweite von Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80.
Unter diesen Voraussetzungen hat das Verwaltungsgericht Berlin beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen auch erfüllt sind, wenn dem dreijährigen ordnungsgemäßen Wohnsitz des Familienangehörigen bei dem dem regulären Arbeitsmarkt angehörenden türkischen Arbeitnehmer ein Zeitraum vorausgegangen ist, in dem der Stammberechtigte nach dem im Sinne dieser Bestimmung genehmigten Nachzug des Familienangehörigen den regulären Arbeitsmarkt des Mitgliedstaats verlassen hatte?
Ist Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen, dass in der Verlängerung eines Aufenthaltstitels die in dieser Bestimmung vorgesehene Genehmigung zum Nachzug zu einem dem regulären Arbeitsmarkt angehörenden türkischen Arbeitnehmer zu sehen ist, wenn der betreffende Familienangehörige seit seinem im Sinne dieser Bestimmung genehmigten Nachzug ununterbrochen mit dem türkischen Arbeitnehmer zusammenlebt, dieser aber dem regulären Arbeitsmarkt des Mitgliedstaats nach zwischenzeitlichem Ausscheiden erst im Zeitpunkt der Verlängerung des Titels wieder angehört?
Rechtssache C-509/15
Herr Kilic ist ein am 11. November 1993 während eines Urlaubs seiner Eltern, die türkische Staatsangehörige sind und zu diesem Zeitpunkt bereits in Deutschland wohnten, in der Türkei geborener türkischer Staatsangehöriger. Er reiste am 16. April 1994 in das deutsche Hoheitsgebiet ein. Zu diesem Zeitpunkt war sein Vater bereits über ein Jahr arbeitslos. Seine Mutter, die ihn nach der Trennung der Eheleute, d. h. von Mai 1996 bis zu seinem 14. Lebensjahr, allein erzog, gehörte nicht dem Arbeitsmarkt an. Nach der Einführung der Aufenthaltserlaubnispflicht für alle türkischen Staatsangehörigen unter 16 Jahren im Januar 1997 wurde Herrn Kilic am 5. Mai 1997 eine bis zum 5. Mai 1999 gültige Aufenthaltserlaubnis erteilt. Am 30. Juni 1998 nahm seine Mutter eine Tätigkeit als Arbeitnehmerin auf, die sie nahezu ununterbrochen bis zum Monat April 2003, in dem eine mehrjährige Pause wegen Schwangerschafts- und Erziehungszeiten begann, ausübte.
Am 23. April 1999 verlängerte die Ausländerbehörde die Aufenthaltserlaubnis von Herrn Kilic für ein Jahr. Bei dieser Gelegenheit wurde eine Bescheinigung des Arbeitgebers seiner Mutter vorgelegt. Die deutschen Behörden vermerkten jedoch, dass diese Sozialhilfe beziehe, was der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis von Herrn Kilic nach damaliger Rechtslage nicht entgegenstand. Diese Aufenthaltserlaubnis wurde in der Folgezeit mehrfach, zuletzt bis zum 10. November 2011, befristet verlängert. Seitdem war der Kläger im Besitz von Fiktionsbescheinigungen.
Herr Kilic ist mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten. Zuletzt wurde er mit Urteil vom 11. Juni 2013 des Amtsgerichts Tiergarten (Deutschland) wegen gemeinschaftlichen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Einbezogen in dieses Urteil wurden auch zahlreiche frühere Verurteilungen u. a. wegen Körperverletzung, Bedrohung, gemeinschaftlicher räuberischer Erpressung, unbefugten Nachstellens und Sachbeschädigung.
Die Schullaufbahn von Herrn Kilic vor seinen Haftzeiten verlief chaotisch; am 17. Juni 2011 erlangte er jedoch während seiner Haft den erweiterten Hauptschulabschluss.
Mit Bescheid vom 24. Juli 2014 lehnte die Ausländerbehörde zum einen den Antrag von Herrn Kilic auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ab und ordnete zum anderen auf der Grundlage von § 53 Nrn. 1 und 2 in Verbindung mit § 55 AufenthG seine Abschiebung aus dem deutschen Hoheitsgebiet an.
Die Ausländerbehörde war der Ansicht, dass Herrn Kilic kein Aufenthaltsschutz nach dem Assoziierungsabkommen zustehe. Er habe nämlich keine Rechte nach Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 erworben, weil seine Eltern während der drei Jahre nach seiner Einreise in das deutsche Hoheitsgebiet nicht dem regulären Arbeitsmarkt angehört hätten.
Da die Ausländerbehörde im Übrigen angesichts der Vielzahl und Schwere der von dem Betroffenen begangenen Straftaten der Auffassung war, dass zum einen zu befürchten sei, dass dieser in Zukunft weitere Verfehlungen begehe, und zum anderen von diesem eine bedeutsame Gefahr für wichtige Grundinteressen der Gesellschaft ausgehe, gelangte sie zu dem Schluss, dass es schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung für die Entscheidung gebe, die Ausweisung von Herrn Kilic anzuordnen. Nach Abwägung der Sach- und Rechtslage sei diese Maßnahme nämlich gerechtfertigt, da das öffentliche Interesse an dieser Maßnahme das persönliche Interesse von Herrn Kilic an der Erhaltung seiner geringen persönlichen Bindungen an die Bundesrepublik Deutschland und der Fortsetzung seines Aufenthalts im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats deutlich überwiege.
Am 1. September 2014 erhob Herr Kilic, der am 27. Mai 2015 aus der Haft entlassen wurde, gegen die Entscheidung der Ausländerbehörde vom 24. Juli 2014 Klage beim vorlegenden Gericht und machte geltend, er habe ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 erworben, da seine Mutter während über drei Jahren seit dem 30. Juni 1998 dem regulären Arbeitsmarkt angehört habe. Der ihm zukommende Ausweisungsschutz nach Art. 14 dieses Beschlusses sei bei der Abwägung der in Rede stehenden Interessen nicht ausreichend berücksichtigt worden.
Unter diesen Umständen hat das Verwaltungsgericht Berlin beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Kann eine Genehmigung des Nachzugs im Sinne des Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 darin gesehen werden, dass dem Familienangehörigen nach der Gestattung eines Familiennachzugs zu Stammberechtigten, die nicht dem Arbeitsmarkt zugehörten, die Aufenthaltserlaubnis zu einem Zeitpunkt verlängert wird, in dem der Stammberechtigte, bei dem der Familienangehörige seinen ordnungsgemäßen Wohnsitz hat, Arbeitnehmer geworden ist?
Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 27. Oktober 2015 sind die Rechtssachen C-508/15 und C-509/15 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.
Zu den Vorlagefragen
Vorbemerkungen
Die vorliegenden verbundenen Rechtssachen betreffen zwei türkische Staatsangehörige, Frau Ucar und Herrn Kilic, die in ihrer Eigenschaft als Familienangehörige, nämlich als Ehegattin und als Sohn, eines ebenfalls türkischen Staatsangehörigen, der sich rechtmäßig in Deutschland aufhielt, in diesen Mitgliedstaat gezogen sind, wo sie während über zehn Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz hatten, und denen von den deutschen Behörden die Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis verweigert wurde.
Vorab ist darauf hinzuweisen, dass es dem Gerichtshof nach seiner ständigen Rechtsprechung obliegt, im Rahmen des in Art. 267 AEUV vorgesehenen Verfahrens der Zusammenarbeit mit den nationalen Gerichten dem vorlegenden Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegte Frage gegebenenfalls umzuformulieren (Urteil vom 8. Dezember 2011, Banco Bilbao Vizcaya Argentaria, C-157/10, EU:C:2011:813 Rn. 18).
Im vorliegenden Fall erscheint angesichts der tatsächlichen Umstände der beiden Ausgangsverfahren die erste in der Rechtssache C-508/15 gestellte Frage auch in der Rechtssache C-509/15 relevant, so dass, um dem vorlegenden Gericht eine für die Entscheidung dieses letzteren bei ihm anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben, die erste in der Rechtssache C-508/15 gestellte Frage anhand der tatsächlichen Umstände beider Ausgangsverfahren zu prüfen ist.
Zur ersten Frage in der Rechtssache C-508/15
Mit seiner ersten Frage in der Rechtssache C-508/15 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass diese Vorschrift dem Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers, dem zum Zweck der Familienzusammenführung die Einreise in den Aufnahmemitgliedstaat gestattet wurde und der seit seiner Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats mit dem türkischen Arbeitnehmer zusammengelebt hat, ein Aufenthaltsrecht in diesem Mitgliedstaat verleiht, wenn der Zeitraum von drei Jahren, während dessen dieser Arbeitnehmer dem regulären Arbeitsmarkt angehörte, nicht unmittelbar auf die Ankunft des betreffenden Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat folgte, sondern in einen späteren Zeitraum fällt.
Vorab ist darauf hinzuweisen, dass Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 seinem Wortlaut nach klar, eindeutig und ohne dass dies an Bedingungen geknüpft wäre, den Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers, denen der Nachzug gestattet wurde, vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten einzuräumenden Vorrangs das Recht, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, nachdem sie dort seit mindestens drei Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz gehabt haben (erster Gedankenstrich), sowie das Recht auf freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis in dem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet sie seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben (zweiter Gedankenstrich), verleiht (Urteil vom 17. April 1997, Kadiman, C-351/95, EU:C:1997:205, Rn. 27).
Nach dieser Bestimmung haben die Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers somit vorbehaltlich der Erfüllung der in dieser Bestimmung aufgestellten Voraussetzungen ein eigenes Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt im Aufnahmemitgliedstaat. Hierzu hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass die Rechte, die Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 den Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers hinsichtlich der Beschäftigung in dem betreffenden Mitgliedstaat verleiht, notwendig das Bestehen eines entsprechenden Aufenthaltsrechts des Betroffenen voraussetzen, da dem Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt und auf tatsächliche Ausübung einer Beschäftigung sonst jede Wirkung genommen würde (Urteil vom 19. Juli 2012, Dülger, C-451/11, EU:C:2012:504, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergibt sich, dass der Erwerb der in dieser Bestimmung vorgesehenen Rechte den drei kumulativen Voraussetzungen unterliegt, dass die betreffende Person Familienangehöriger eines dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers ist, dass sie von den zuständigen Behörden dieses Staates die Genehmigung erhalten hat, zu diesem zu ziehen, und dass sie seit mindestens drei oder fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juli 2012, Dülger, C-451/11, EU:C:2012:504, Rn. 29).
Was zunächst die Voraussetzung der Zugehörigkeit des türkischen Arbeitnehmers zum regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmestaats angeht, hat der Gerichtshof entschieden, dass diese Voraussetzung an den Begriff „Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt“ anknüpft, dessen Tragweite der Tragweite dieses Begriffs im Rahmen von Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 entspricht, nämlich als Bezeichnung der Gesamtheit der Arbeitnehmer, die den Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats nachkommen und somit das Recht haben, eine Berufstätigkeit in dessen Hoheitsgebiet auszuüben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2008, Altun, C-337/07, EU:C:2008:744, Rn. 22, 23 und 28).
Was anschließend die Voraussetzung angeht, dass der betreffende Familienangehörige die Genehmigung erhalten hat, zu dem türkischen Arbeitnehmer zu ziehen, hat der Gerichtshof ausgeführt, dass diese Voraussetzung bezweckt, diejenigen Familienangehörigen des türkischen Arbeitnehmers vom Anwendungsbereich des Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 auszunehmen, die unter Verstoß gegen die Vorschriften des Aufnahmemitgliedstaats in dessen Hoheitsgebiet eingereist sind und dort wohnen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. November 2004, Cetinkaya, C-467/02, EU:C:2004:708, Rn. 23).
Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang entschieden, dass diese Bestimmung den Fall eines türkischen Staatsangehörigen erfasst, der als Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats angehört oder angehört hat, entweder die Genehmigung erhalten hat, zum Zweck der Familienzusammenführung dorthin zu diesem Arbeitnehmer zu ziehen, oder der im Aufnahmemitgliedstaat geboren ist und stets dort gelebt hat (Urteil vom 18. Juli 2007, Derin, C-325/05, EU:C:2007:442, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Zur Voraussetzung des Wohnsitzes hat der Gerichtshof schließlich entschieden, dass Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 verlangt, dass der Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers bei diesem mindestens drei Jahre lang ununterbrochen seinen Wohnsitz hat (Urteil vom 18. Dezember 2008, Altun, C-337/07, EU:C:2008:744, Rn. 30).
Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt diese Bestimmung nämlich, dass sich die Familienzusammenführung, die der Grund für die Einreise des Familienangehörigen in den Aufnahmemitgliedstaat war, während einer bestimmten Zeit im tatsächlichen Zusammenleben des Betroffenen mit dem Arbeitnehmer in häuslicher Gemeinschaft manifestiert und dass dieses Zusammenleben so lange andauert, wie der Betroffene nicht selbst die Voraussetzungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt dieses Staates erfüllt (vgl. u. a. Urteil vom 16. März 2000, Ergat, C-329/97, EU:C:2000:133, Rn. 36).
Der Gerichtshof hat insoweit ausgeführt, dass, damit der Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers gemäß Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt im Aufnahmemitgliedstaat erwirbt, der betreffende Arbeitnehmer zumindest während der dreijährigen Dauer des Zusammenlebens die Voraussetzung der Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt erfüllt haben muss (Urteil vom 18. Dezember 2008, Altun, C-337/07, EU:C:2008:744, Rn. 37).
Im vorliegenden Fall steht fest, dass sowohl Frau Ucar als auch Herr Kilic die Genehmigung erhalten haben, zu ihren jeweiligen Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat zu ziehen, die alle türkische Staatsangehörige sind, und dass Frau Ucar stets mit ihrem Ehegatten und Herr Kilic stets mit seiner Mutter zusammengelebt hat.
Es steht ebenfalls fest, dass der Ehegatte von Frau Ucar und die Mutter von Herrn Kilic die ununterbrochene dreijährige Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis, die ihren Familienangehörigen die in Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 vorgesehenen Rechte verleiht, nicht unmittelbar nach der Ankunft der Kläger der Ausgangsverfahren im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats, sondern zu einem späteren Zeitpunkt ausgeübt haben.
Es ist somit festzustellen, ob für den Erwerb eines Aufenthaltsrechts nach Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 die Voraussetzung der Zugehörigkeit des türkischen Referenzarbeitnehmers zum regulären Arbeitsmarkt, wie von der Ausländerbehörde vertreten und von der deutschen Regierung geltend gemacht wird, zwingend sowohl zum Zeitpunkt der Ankunft des betreffenden Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat als auch während der unmittelbar auf diesen Zeitpunkt folgenden drei oder fünf Jahre erfüllt sein muss.
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass eine solche Voraussetzung in Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 nicht ausdrücklich vorgesehen ist.
Sodann ist Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 im Hinblick auf das mit dieser Bestimmung verfolgte Ziel und das mit ihr geschaffene System auszulegen.
Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass das System des schrittweisen Erwerbs von Rechten nach Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 einem doppelten Zweck dient. Erstens sollen nach der genannten Vorschrift bis zum Ablauf des ersten Zeitraums von drei Jahren Familienangehörige des Wanderarbeitnehmers die Möglichkeit erhalten, bei diesem zu leben, um so durch Familienzusammenführung die Beschäftigung und den Aufenthalt des türkischen Arbeitnehmers, der sich bereits ordnungsgemäß in den Aufnahmemitgliedstaat integriert hat, zu begünstigen. Zweitens soll diese Vorschrift eine dauerhafte Eingliederung der Familie des türkischen Wanderarbeitnehmers im Aufnahmemitgliedstaat fördern, indem dem betroffenen Familienangehörigen nach drei Jahren ordnungsgemäßen Wohnsitzes selbst der Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht wird. Der damit verfolgte Hauptzweck ist also, die Stellung des Familienangehörigen, der sich in dieser Phase bereits ordnungsgemäß in den Aufnahmemitgliedstaat integriert hat, dadurch zu festigen, dass er die Mittel erhält, um dort selbst seinen Lebensunterhalt zu verdienen und sich folglich eine gegenüber der Stellung des Wanderarbeitnehmers selbständige Stellung aufzubauen (Urteil vom 19. Juli 2012, Dülger, C-451/11, EU:C:2012:504, Rn. 38 bis 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Außerdem soll im Hinblick auf den mit dem Beschluss Nr. 1/80 verfolgten allgemeinen Zweck, der darin besteht, die im sozialen Bereich bestehende Regelung für die türkischen Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen zu verbessern, um schrittweise die Freizügigkeit herzustellen, das insbesondere durch Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 eingeführte System also für Voraussetzungen sorgen, die die Familienzusammenführung im Aufnahmemitgliedstaat erleichtern (Urteil vom 29. März 2012, Kahveci, C-7/10 und C-9/10, EU:C:2012:180, Rn. 34).
Eine Auslegung von Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 wie die von der deutschen Regierung vorgeschlagene, wonach sich ein türkischer Staatsangehöriger wie Frau Ucar oder Herr Kilic unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens allein aufgrund der Tatsache, dass der Zeitraum von drei Jahren, während dessen der türkische Referenzarbeitnehmer eine ununterbrochene Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausgeübt hat, nicht unmittelbar auf den Zeitpunkt der Familienzusammenführung gefolgt ist, nicht auf die durch diese Bestimmung verliehenen Rechte berufen kann, ist im Hinblick auf das mit dieser Bestimmung verfolgte Ziel zu restriktiv.
Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die betreffenden Familienangehörigen, die nicht die in Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 genannten Voraussetzungen erfüllen, in keinem Fall das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt im Aufnahmemitgliedstaat hätten, so dass sie ihre Stellung in diesem Mitgliedstaat nicht festigen könnten, selbst wenn sie dort seit vielen Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben, dort grundsätzlich gut integriert sind und seit dem Tag ihrer Ankunft im Aufnahmemitgliedstaat mit dem türkischen Staatsangehörigen zusammengelebt haben, und zwar während eines Zeitraums, während dessen dieser Staatsangehörige über mindestens drei oder fünf Jahre eine ununterbrochene Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausgeübt hat. Dies wäre mit dem Ziel des Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 nicht vereinbar.
Indessen lässt sich weder dem Wortlaut dieser Bestimmung noch dem Beschluss Nr. 1/80 allgemein entnehmen, dass die Verfasser dieses Beschlusses beabsichtigten, die Familienangehörigen einer so großen Gruppe von türkischen Arbeitnehmern von den in Art. 7 Abs. 1 dieses Beschlusses vorgesehenen Rechten auszuschließen.
Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs hängt außerdem die Ausübung der Rechte, die den türkischen Staatsangehörigen nach dem Beschluss Nr. 1/80 zustehen, nicht davon ab, aus welchem Grund ihnen die Einreise- und Aufenthaltsgenehmigung im Aufnahmemitgliedstaat ursprünglich erteilt wurde (Urteil vom 18. Dezember 2008, Altun, C-337/07, EU:C:2008:744, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 die türkischen Staatsangehörigen erfasst, die im Aufnahmemitgliedstaat die Eigenschaft als Arbeitnehmer haben, ohne jedoch zu verlangen, dass sie als Arbeitnehmer in die Union eingereist sind, so dass sie diese Eigenschaft nach ihrer Einreise in die Union erlangt haben können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Januar 2008, Payir u. a., C-294/06, EU:C:2008:36, Rn. 38).
Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass für den Erwerb eines Aufenthaltsrechts nach Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 durch einen Familienangehörigen des türkischen Referenzarbeitnehmers die Voraussetzung der Zugehörigkeit dieses Arbeitnehmers zum regulären Arbeitsmarkt nicht zwingend zum Zeitpunkt der Ankunft des betreffenden Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat und während der unmittelbar auf diesen Zeitpunkt folgenden drei oder fünf Jahre erfüllt sein muss.
Angesichts der vorstehenden Erwägungen ist auf die erster Frage in der Rechtssache C-508/15 zu antworten, dass Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass diese Vorschrift dem Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers, dem zum Zweck der Familienzusammenführung die Einreise in den Aufnahmemitgliedstaat gestattet wurde und der seit seiner Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats mit dem türkischen Arbeitnehmer zusammengelebt hat, ein Aufenthaltsrecht in diesem Mitgliedstaat verleiht, selbst wenn der Zeitraum von mindestens drei Jahren, während dessen dieser Arbeitnehmer dem regulären Arbeitsmarkt angehörte, nicht unmittelbar auf die Ankunft des betreffenden Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat folgte, sondern in einen späteren Zeitraum fällt.
Zur zweiten Frage in der Rechtssache C-508/15 und zur Frage in der Rechtssache C-509/15
Angesichts der Antwort auf die erste Frage in der Rechtssache C-508/15 ist weder die zweite Frage in dieser Rechtssache noch die Frage in der Rechtssache C-509/15 zu beantworten.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation ist dahin auszulegen, dass diese Vorschrift dem Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers, dem zum Zweck der Familienzusammenführung die Einreise in den Aufnahmemitgliedstaat gestattet wurde und der seit seiner Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats mit dem türkischen Arbeitnehmer zusammengelebt hat, ein Aufenthaltsrecht in diesem Mitgliedstaat verleiht, selbst wenn der Zeitraum von mindestens drei Jahren, während dessen dieser Arbeitnehmer dem regulären Arbeitsmarkt angehörte, nicht unmittelbar auf die Ankunft des betreffenden Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat folgte, sondern in einen späteren Zeitraum fällt.
Silva de Lapuerta
Bonichot
Arabadjiev
Fernlund
Rodin
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 21. Dezember 2016.
Der Kanzler
A. Calot Escobar
Die Präsidentin der Ersten Kammer
R. Silva de Lapuerta
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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