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EuGH 10.12.2015 - C-594/14
EuGH 10.12.2015 - C-594/14 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer) - 10. Dezember 2015 ( *) - „Vorlage zur Vorabentscheidung — Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts — Insolvenzverfahren — Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 — Art. 4 Abs. 1 — Bestimmung des anwendbaren Rechts — Regelung eines Mitgliedstaats, die die Verpflichtung des Geschäftsführers einer Gesellschaft vorsieht, dieser die nach Eintritt ihrer Zahlungsunfähigkeit geleisteten Zahlungen zu ersetzen — Anwendung dieser Regelung auf eine in einem anderen Mitgliedstaat gegründete Gesellschaft — Art. 49 AEUV und 54 AEUV — Beschränkung der Niederlassungsfreiheit — Fehlen“
Leitsatz
In der Rechtssache C-594/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 2. Dezember 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Dezember 2014, in dem Verfahren
Simona Kornhaas
gegen
Thomas Dithmar als Insolvenzverwalter über das Vermögen der Kornhaas Montage und Dienstleistung Ltd
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Zehnten Kammer F. Biltgen in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Sechsten Kammer, der Richterin M. Berger (Berichterstatterin) und des Richters S. Rodin,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
von Frau Kornhaas, vertreten durch Rechtsanwalt W. Steinfeld,
von Herrn Dithmar, vertreten durch Rechtsanwalt C. Esser,
der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin als Bevollmächtigten,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (ABl. L 160, S. 1) sowie der Art. 49 AEUV und 54 AEUV.
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Rechtsanwalt Dithmar als Insolvenzverwalter über das Vermögen der Kornhaas Montage und Dienstleistung Ltd (im Folgenden: Schuldnergesellschaft) und Frau Kornhaas wegen einer Klage auf Ersatz von Zahlungen, die Letztere als Direktorin der Schuldnergesellschaft nach Eintritt ihrer Zahlungsunfähigkeit geleistet haben soll.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
In Art. 3 („Internationale Zuständigkeit“) der Verordnung Nr. 1346/2000 heißt es:
„(1) Für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Bei Gesellschaften und juristischen Personen wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort des satzungsmäßigen Sitzes ist.
(2) Hat der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen im Gebiet eines Mitgliedstaats, so sind die Gerichte eines anderen Mitgliedstaats nur dann zur Eröffnung eines Insolvenzverfahrens befugt, wenn der Schuldner eine Niederlassung im Gebiet dieses anderen Mitgliedstaats hat. Die Wirkungen dieses Verfahrens sind auf das im Gebiet dieses letzteren Mitgliedstaats belegene Vermögen des Schuldners beschränkt.
…“
Art. 4 („Anwendbares Recht“) der Verordnung sieht vor:
„(1) Soweit diese Verordnung nichts anderes bestimmt, gilt für das Insolvenzverfahren und seine Wirkungen das Insolvenzrecht des Mitgliedstaats, in dem das Verfahren eröffnet wird, nachstehend ‚Staat der Verfahrenseröffnung‘ genannt.
(2) Das Recht des Staates der Verfahrenseröffnung regelt, unter welchen Voraussetzungen das Insolvenzverfahren eröffnet wird und wie es durchzuführen und zu beenden ist. Es regelt insbesondere:
…
welche Rechtshandlungen nichtig, anfechtbar oder relativ unwirksam sind, weil sie die Gesamtheit der Gläubiger benachteiligen.“
Deutsches Recht
§ 64 Abs. 1 und 2 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung (RGBl. 1898, S. 846, im Folgenden: GmbHG) bestimmte in der für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung:
„(1) Wird die Gesellschaft zahlungsunfähig, so haben die Geschäftsführer ohne schuldhaftes Zögern, spätestens aber drei Wochen nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit, die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu beantragen. Dies gilt sinngemäß, wenn sich eine Überschuldung der Gesellschaft ergibt.
(2) Die Geschäftsführer sind der Gesellschaft zum Ersatz von Zahlungen verpflichtet, die nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft oder nach Feststellung ihrer Überschuldung geleistet werden. …“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Rechtsanwalt Dithmar ist der Verwalter der Schuldnergesellschaft im Rahmen eines vom Amtsgericht Erfurt eröffneten Insolvenzverfahrens. Die Schuldnergesellschaft, deren Direktorin Frau Kornhaas war, war im Handelsregister Cardiff (Vereinigtes Königreich) als Handelsgesellschaft in Form einer „private company limited by shares“ (im Folgenden: Limited) eingetragen. In Deutschland wurde eine Zweigniederlassung der Schuldnergesellschaft gegründet und in dem vom Amtsgericht Jena geführten Handelsregister eingetragen. Der Unternehmensgegenstand der Schuldnergesellschaft, die im Wesentlichen im letztgenannten Mitgliedstaat tätig war, bestand in der Montage von Lüftungsanlagen und der Erbringung damit verbundener Dienstleistungen.
Rechtsanwalt Dithmar machte geltend, die Schuldnergesellschaft sei jedenfalls seit dem 1. November 2006 zahlungsunfähig, und Frau Kornhaas habe zwischen dem 11. Dezember 2006 und dem 26. Februar 2007 Zahlungen von insgesamt 110151,66 Euro zulasten dieser Gesellschaft veranlasst. Deshalb nahm er Frau Kornhaas auf der Grundlage von § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG auf Ersatz dieses Betrags in Anspruch. Seiner Klage wurde vom Landgericht Erfurt stattgegeben. Das mit der dagegen von Frau Kornhaas eingelegten Berufung befasste Oberlandesgericht Jena bestätigte das Urteil des Landgerichts Erfurt, ließ jedoch die Revision zum Bundesgerichtshof zu.
Das vorlegende Gericht hält die von Rechtsanwalt Dithmar erhobene Klage nach deutschem Recht für begründet, da der Zweck von § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG im Wesentlichen darin bestehe, Masseverkürzungen vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu verhindern und sicherzustellen, dass das Gesellschaftsvermögen im Rahmen dieses Verfahrens zur gleichmäßigen Befriedigung der Gläubiger zur Verfügung steht. Diese Bestimmung sei daher, obwohl sie formell Bestandteil einer gesellschaftsrechtlichen Vorschrift sei, eine insolvenzrechtliche Norm und könne auf die Direktorin einer Limited angewandt werden.
Fraglich sei jedoch, ob diese Bestimmung mit dem Unionsrecht vereinbar sei. Insoweit ergebe sich aus Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1346/2000, dass für das Insolvenzverfahren und seine Wirkungen das deutsche Insolvenzrecht als das Recht des Mitgliedstaats, in dem das Verfahren eröffnet werde, gelte. Im deutschen Schrifttum sei aber umstritten, ob § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG auf Geschäftsführer von Gesellschaften angewandt werden könne, die zwar nach dem Recht anderer Staaten der Europäischen Union gegründet worden seien, doch den Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen in Deutschland hätten.
§ 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG regele nicht, unter welchen Voraussetzungen eine im Einklang mit dem Recht eines anderen Staats der Union gegründete Gesellschaft ihren Verwaltungssitz in Deutschland begründen könne, sondern nur die Rechtsfolgen einer solchen Entscheidung und eines Fehlverhaltens ihrer Geschäftsführer. Die Niederlassungsfreiheit werde somit nicht beeinträchtigt.
Jedenfalls sei die eventuelle mit der Anwendung von § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG verbundene Beschränkung der Niederlassungsfreiheit gerechtfertigt, denn sie werde in nichtdiskriminierender Weise vorgenommen, diene einem zwingenden Allgemeininteresse, nämlich dem Gläubigerschutz, sei geeignet, die Insolvenzmasse zu sichern oder wieder aufzufüllen, und gehe nicht über das hinaus, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich sei.
Die Rechtsprechung des Gerichtshofs, die sich insbesondere aus den Urteilen Überseering (C-208/00, EU:C:2002:632) und Inspire Art (C-167/01, EU:C:2003:512) ergebe, könnte jedoch auch dahin ausgelegt werden, dass auf die inneren Verhältnisse von Gesellschaften, die in einem Mitgliedstaat gegründet worden seien, ihre hauptsächliche Tätigkeit aber in einem anderen Mitgliedstaat ausübten, im Rahmen der Niederlassungsfreiheit das Gesellschaftsrecht des Gründungsstaats Anwendung finde. Die Anwendung von § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG auf Geschäftsführer von EU-Auslandsgesellschaften könnte somit gegen die Niederlassungsfreiheit im Sinne der Art. 49 AEUV und 54 AEUV verstoßen.
Unter diesen Umständen hat der Bundesgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Betrifft eine Klage vor einem deutschen Gericht, mit der ein Direktor einer „private company limited by shares“ englischen oder walisischen Rechts, über deren Vermögen in Deutschland nach Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1346/2000 das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, vom Insolvenzverwalter auf Ersatz von Zahlungen in Anspruch genommen wird, die er vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens, aber nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit geleistet hat, das deutsche Insolvenzrecht im Sinne des Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1346/2000?
Verstößt eine Klage der vorstehenden Art gegen die Niederlassungsfreiheit nach den Art. 49 AEUV und 54 AEUV?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 der Verordnung Nr. 1346/2000 dahin auszulegen ist, dass in seinen Anwendungsbereich eine Klage vor einem deutschen Gericht fällt, mit der der Direktor einer Gesellschaft englischen oder walisischen Rechts, über deren Vermögen in Deutschland das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, vom Insolvenzverwalter dieser Gesellschaft auf der Grundlage einer nationalen Bestimmung wie § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG auf Ersatz von Zahlungen in Anspruch genommen wird, die der Direktor vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens, aber nach dem Zeitpunkt, auf den der Eintritt der Zahlungsunfähigkeit festgesetzt wurde, geleistet hat.
In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1346/2000 dahin auszulegen ist, dass die Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet ein Insolvenzverfahren über das Vermögen einer Gesellschaft eröffnet wurde, nach dieser Bestimmung für die Entscheidung über eine Klage zuständig sind, die der Insolvenzverwalter der Gesellschaft gegen deren Geschäftsführer auf Rückzahlung von Beträgen erhebt, die nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft oder nach Feststellung ihrer Überschuldung geleistet wurden (Urteil H, C-295/13, EU:C:2014:2410, Rn. 26).
Der Gerichtshof stützte diese Entscheidung insbesondere auf die Erwägung, dass eine nationale Bestimmung wie § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG, wonach der Geschäftsführer einer zahlungsunfähigen Gesellschaft zum Ersatz der Zahlungen verpflichtet ist, die er nach Eintritt ihrer Zahlungsunfähigkeit für ihre Rechnung geleistet hat, von den allgemeinen Regeln des Zivil- und Handelsrechts abweicht, und zwar wegen der Zahlungsunfähigkeit dieser Gesellschaft. Hieraus leitete der Gerichtshof ab, dass eine auf diese Bestimmung gestützte Klage, die im Rahmen eines Insolvenzverfahrens erhoben wird, zu den unmittelbar aus einem Insolvenzverfahren hervorgehenden und in einem engen Zusammenhang damit stehenden Klagen gehört (vgl. in diesem Sinne Urteil H, C-295/13, EU:C:2014:2410, Rn. 23 und 24).
Folglich hat der Gerichtshof, auch wenn seine Antwort auf das Vorabentscheidungsersuchen im Urteil H (C-295/13, EU:C:2014:2410) Art. 3 der Verordnung Nr. 1346/2000 und die internationale Zuständigkeit eines nationalen Gerichts zur Entscheidung über eine Klage, die auf eine nationale Bestimmung wie § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG gestützt ist, betraf, diese Bestimmung des nationalen Rechts gleichwohl eindeutig als insolvenzrechtliche Norm eingestuft. Hieraus ergibt sich, dass die letztgenannte Bestimmung dem für das Insolvenzverfahren und seine Wirkungen geltenden Recht im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1346/2000 zuzurechnen ist. Als solche kann diese Bestimmung des nationalen Rechts, die u. a. bewirkt, dass der Geschäftsführer einer Gesellschaft gegebenenfalls zum Ersatz von Zahlungen verpflichtet ist, die er nach Eintritt ihrer Zahlungsunfähigkeit für ihre Rechnung geleistet hat, nach Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1346/2000 von dem nationalen Gericht, das mit dem Insolvenzverfahren befasst ist, als Recht des Mitgliedstaats, in dem das Verfahren eröffnet wird (im Folgenden: lex fori concursus), angewendet werden.
Hinzuzufügen ist insoweit, dass § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG in Verbindung mit Abs. 1 dieser Vorschrift zu sehen ist, der sinngemäß vorsieht, dass im Fall der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung einer Gesellschaft die Mitglieder des Vertretungsorgans ohne schuldhaftes Zögern, spätestens aber drei Wochen nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung, einen Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens zu stellen haben. Somit kann § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG insbesondere die persönliche Haftung der Geschäftsführer einer zahlungsunfähigen oder überschuldeten Gesellschaft auslösen, die unter Verstoß gegen § 64 Abs. 1 GmbHG keinen Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gestellt haben. Nach der Eröffnung dieses Verfahrens ist es nämlich im Allgemeinen nicht mehr Sache des Geschäftsführers der zahlungsunfähigen Gesellschaft, sondern ihres Insolvenzverwalters, Zahlungen für Rechnung dieser Gesellschaft zu leisten oder zu genehmigen. Daraus folgt, dass die der Sache nach in § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG enthaltene Sanktion nicht zur Anwendung kommt, wenn der Geschäftsführer einer zahlungsunfähigen Gesellschaft der in § 64 Abs. 1 GmbHG enthaltenen Verpflichtung nachgekommen ist.
Nach Art. 4 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1346/2000 regelt die lex fori concursus u. a., „unter welchen Voraussetzungen das Insolvenzverfahren eröffnet wird“. Um die praktische Wirksamkeit dieser Bestimmung sicherzustellen, ist sie dahin auszulegen, dass in ihren Anwendungsbereich erstens die Voraussetzungen für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens, zweitens die Regeln für die Bestimmung der zur Stellung des Antrags auf Eröffnung dieses Verfahrens verpflichteten Personen und drittens die Folgen eines Verstoßes gegen diese Verpflichtung fallen. Daher sind nationale Bestimmungen wie § 64 Abs. 1 und 2 Satz 1 GmbHG, mit denen der Sache nach ein Verstoß gegen die Pflicht zur Beantragung der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens geahndet wird, auch aus diesem Blickwinkel als in den Anwendungsbereich von Art. 4 der Verordnung Nr. 1346/2000 fallend anzusehen.
Außerdem trägt eine Bestimmung wie § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG zur Verwirklichung eines Ziels bei, das, mutatis mutandis, untrennbar mit jedem Insolvenzverfahren verbunden ist, nämlich die Verhinderung etwaiger Masseverkürzungen vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens, damit eine gleichmäßige Befriedigung der Gläubiger erfolgt. Daher erscheint diese Bestimmung einer Vorschrift zumindest vergleichbar, die regelt, „welche Rechtshandlungen … relativ unwirksam sind, weil sie die Gesamtheit der Gläubiger benachteiligen“, und die deshalb nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. m der Verordnung Nr. 1346/2000 unter die lex fori concursus fällt.
Unter diesen Umständen ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 4 der Verordnung Nr. 1346/2000 dahin auszulegen ist, dass in seinen Anwendungsbereich eine Klage vor einem deutschen Gericht fällt, mit der der Direktor einer Gesellschaft englischen oder walisischen Rechts, über deren Vermögen in Deutschland das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, vom Insolvenzverwalter dieser Gesellschaft auf der Grundlage einer nationalen Bestimmung wie § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG auf Ersatz von Zahlungen in Anspruch genommen wird, die der Direktor vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens, aber nach dem Zeitpunkt, auf den der Eintritt der Zahlungsunfähigkeit festgesetzt wurde, geleistet hat.
Zur zweiten Frage
Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 49 AEUV und 54 AEUV der Anwendung einer nationalen Bestimmung wie § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG auf den Direktor einer Gesellschaft englischen oder walisischen Rechts, über deren Vermögen in Deutschland das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, entgegenstehen.
Insoweit geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass es unter bestimmten Umständen eine mit den Art. 49 AEUV und 54 AEUV grundsätzlich nicht vereinbare Beschränkung der Niederlassungsfreiheit darstellen kann, wenn ein Mitgliedstaat sich u. a. deshalb weigert, die Rechtsfähigkeit einer Gesellschaft, die nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats gegründet wurde und dort ihren satzungsmäßigen Sitz hat, anzuerkennen, weil sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in sein Hoheitsgebiet verlegt haben soll (vgl. in diesem Sinne Urteil Überseering, C-208/00, EU:C:2002:632, Rn. 82).
Der Gerichtshof hat ferner bereits entschieden, dass im Fall der Unvereinbarkeit nationaler Bestimmungen über das Mindestkapital mit der durch den Vertrag garantierten Niederlassungsfreiheit zwangsläufig dasselbe für Sanktionen gilt, die – wie die persönliche gesamtschuldnerische Haftung der Geschäftsführer, wenn das Kapital nicht den im nationalen Recht vorgeschriebenen Mindestbetrag erreicht oder während des Betriebs unter diesen sinkt – an die Nichterfüllung der fraglichen Verpflichtungen geknüpft sind (vgl. in diesem Sinne Urteil Inspire Art, C-167/01, EU:C:2003:512, Rn. 141).
Eine nationale Bestimmung wie § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG betrifft jedoch weder die Weigerung eines Mitgliedstaats, die Rechtsfähigkeit einer Gesellschaft anzuerkennen, die nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats gegründet wurde und ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in das Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats verlegt hat, noch eine persönliche Haftung der Geschäftsführer, wenn das Kapital dieser Gesellschaft nicht den im nationalen Recht vorgeschriebenen Mindestbetrag erreicht.
Erstens ergibt sich nämlich aus der Vorlageentscheidung, dass die Rechtsfähigkeit der Schuldnergesellschaft im Kontext des Ausgangsrechtsstreits nicht in Frage gestellt wird. Der Wortlaut von § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG scheint dies sogar auszuschließen, da die Anwendung dieser Bestimmung das Bestehen einer „Gesellschaft“ voraussetzt.
Zweitens knüpft die persönliche Haftung der Geschäftsführer einer Gesellschaft auf der Grundlage von § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG nicht daran an, dass das Kapital dieser Gesellschaft nicht den im deutschen Recht oder dem Recht, nach dessen Bestimmungen sie gegründet wurde, vorgeschriebenen Mindestbetrag erreicht, sondern nur daran, dass die Geschäftsführer der Gesellschaft Zahlungen in einem Stadium geleistet haben, in dem sie nach § 64 Abs. 1 GmbHG verpflichtet gewesen wären, einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu stellen.
Nach alledem betrifft die Anwendung einer nationalen Bestimmung wie § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG weder die Gründung einer Gesellschaft in einem bestimmten Mitgliedstaat noch ihre spätere Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat, da diese Bestimmung des nationalen Rechts nur nach der Gründung der Gesellschaft im Rahmen ihrer Tätigkeit Anwendung findet, genauer gesagt, entweder ab dem Zeitpunkt, zu dem sie nach dem nationalen Recht, das gemäß Art. 4 der Verordnung Nr. 1346/2000 anwendbar ist, als zahlungsunfähig anzusehen ist, oder ab dem Zeitpunkt, zu dem ihre Überschuldung im Einklang mit diesem nationalen Recht festgestellt wird. Daher kann eine nationale Vorschrift wie § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG die Niederlassungsfreiheit nicht beeinträchtigen.
Unter diesen Umständen ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Art. 49 AEUV und 54 AEUV der Anwendung einer nationalen Bestimmung wie § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG auf den Direktor einer Gesellschaft englischen oder walisischen Rechts, über deren Vermögen in Deutschland das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, nicht entgegenstehen.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:
Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren ist dahin auszulegen, dass in seinen Anwendungsbereich eine Klage vor einem deutschen Gericht fällt, mit der der Direktor einer Gesellschaft englischen oder walisischen Rechts, über deren Vermögen in Deutschland das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, vom Insolvenzverwalter dieser Gesellschaft auf der Grundlage einer nationalen Bestimmung wie § 64 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung auf Ersatz von Zahlungen in Anspruch genommen wird, die der Direktor vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens, aber nach dem Zeitpunkt, auf den der Eintritt der Zahlungsunfähigkeit festgesetzt wurde, geleistet hat.
Die Art. 49 AEUV und 54 AEUV stehen der Anwendung einer nationalen Vorschrift wie § 64 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung auf den Direktor einer Gesellschaft englischen oder walisischen Rechts, über deren Vermögen in Deutschland das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, nicht entgegen.
Unterschriften
( *) Verfahrenssprache: Deutsch.
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