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EuGH 22.10.2015 - C-378/14
EuGH 22.10.2015 - C-378/14 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer) - 22. Oktober 2015 ( *) - „Vorlage zur Vorabentscheidung — Soziale Sicherheit — Verordnung (EG) Nr. 883/2004 — Art. 67 — Verordnung (EG) Nr. 987/2009 — Art. 60 Abs. 1 — Gewährung von Familienleistungen im Scheidungsfall — Begriff ‚beteiligte Person‘ — Regelung eines Mitgliedstaats, wonach das Kindergeld dem Elternteil zusteht, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat — Wohnort dieses Elternteils in einem anderen Mitgliedstaat — Nichtbeantragung von Kindergeld durch diesen Elternteil — Etwaiges Recht des anderen Elternteils, dieses Kindergeld zu beantragen“
Leitsatz
In der Rechtssache C-378/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzhof (Deutschland) mit Entscheidung vom 8. Mai 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 7. August 2014, in dem Verfahren
Bundesagentur für Arbeit – Familienkasse Sachsen
gegen
Tomislaw Trapkowski
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Vizepräsidenten des Gerichtshofs A. Tizzano in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Ersten Kammer, der Richter F. Biltgen und A. Borg Barthet, der Richterin M. Berger sowie des Richters S. Rodin (Berichterstatter),
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 17. Juni 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
von Herrn Trapkowski, vertreten durch Rechtsanwalt C. Rebber,
der niederländischen Regierung, vertreten durch B. Koopman und M. Bulterman als Bevollmächtigte,
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
des Vereinigten Königreichs, vertreten durch V. Kaye als Bevollmächtigte im Beistand von J. Holmes, Barrister,
der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und D. Martin als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 60 Abs. 1 Sätze 2 und 3 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 284, S. 1).
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Bundesagentur für Arbeit – Familienkasse Sachsen (im Folgenden: BfA) und Herrn Trapkowski über die Weigerung der BfA, Herrn Trapkowski für sein Kind, das mit der Kindesmutter in Polen wohnt, Kindergeld zu zahlen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung (EG) Nr. 883/2004
Art. 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 166, S. 1, berichtigt u. a. in ABl. L 200, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 (ABl. L 149, S. 4) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 883/2004) bestimmt:
„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck:
…
‚Familienangehöriger‘:
-
jede Person, die in den Rechtsvorschriften, nach denen die Leistungen gewährt werden, als Familienangehöriger bestimmt oder anerkannt oder als Haushaltsangehöriger bezeichnet wird;
...“
-
Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 sieht vor:
„Diese Verordnung gilt für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen.“
Art. 11 Abs. 1, 2 und 3 der Verordnung Nr. 883/2004 lautet:
„(1) Personen, für die diese Verordnung gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach diesem Titel.
(2) Für die Zwecke dieses Titels wird bei Personen, die aufgrund oder infolge ihrer Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit eine Geldleistung beziehen, davon ausgegangen, dass sie diese Beschäftigung oder Tätigkeit ausüben. Dies gilt nicht für Invaliditäts-, Alters- oder Hinterbliebenenrenten oder für Renten bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten oder für Geldleistungen bei Krankheit, die eine Behandlung von unbegrenzter Dauer abdecken.
(3) Vorbehaltlich der Artikel 12 bis 16 gilt Folgendes:
eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats;
...“
Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 lautet:
„Eine Person hat auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden. Ein Rentner hat jedoch Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des für die Rentengewährung zuständigen Mitgliedstaats.“
Art. 68 („Prioritätsregeln bei Zusammentreffen von Ansprüchen“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 enthält die „Prioritätsregeln“ für den Fall, dass für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren sind.
Verordnung Nr. 987/2009
Art. 60 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 bestimmt:
„Die Familienleistungen werden bei dem zuständigen Träger beantragt. Bei der Anwendung von Artikel 67 und 68 der Grundverordnung ist, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen. Nimmt eine Person, die berechtigt ist, Anspruch auf die Leistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahr, berücksichtigt der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften anzuwenden sind, einen Antrag auf Familienleistungen, der von dem anderen Elternteil, einer als Elternteil behandelten Person oder von der Person oder Institution, die als Vormund des Kindes oder der Kinder handelt, gestellt wird.“
Deutsches Recht
§ 64 Abs. 1 und 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) lautet:
„(1) Für jedes Kind wird nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt.
(2) Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat. Ist ein Kind in den gemeinsamen Haushalt von Eltern, einem Elternteil und dessen Ehegatten, Pflegeeltern oder Großeltern aufgenommen worden, so bestimmen diese untereinander den Berechtigten. …“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Herr Trapkowski wohnt in Deutschland und ist von seiner Ehefrau, die zusammen mit ihrem gemeinsamen im April 2000 geborenen Sohn in Polen lebt, geschieden.
Von Januar 2011 bis Oktober 2012 bezog Herr Trapkowski zeitweise Arbeitslosengeld. Von November 2011 bis Januar 2012 sowie vom 1. bis zum 22. Februar 2012 war er jedoch in Deutschland nichtselbständig beschäftigt, danach bezog er Leistungen nach dem deutschen Sozialversicherungsrecht.
Im August 2012 beantragte Herr Trapkowski bei der BfA Kindergeld für seinen Sohn für den Zeitraum Januar 2011 bis Oktober 2012. In dem betreffenden Zeitraum bezog die Kindesmutter, die in Polen einer Erwerbstätigkeit nachging, keine Familienleistungen nach deutschem oder polnischem Recht und hatte sie auch nicht beantragt.
Mit Bescheid vom 3. September 2012 lehnte die BfA den Antrag von Herrn Trapkowski mit der Begründung ab, dass die Kindesmutter vorrangig zum Bezug von Kindergeld nach deutschem Recht berechtigt sei. Der dagegen gerichtete Einspruch hatte keinen Erfolg.
Dagegen gab das Finanzgericht Düsseldorf der von Herrn Trapkowski gegen den Bescheid der BfA vom 3. September 2012 und die Einspruchsentscheidung erhobenen Klage statt. Es war nämlich der Ansicht, dass Herr Trapkowski einen Kindergeldanspruch nach deutschem Recht habe, das gemäß Art. 11 Abs. 1 und Abs. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 auf seine Situation anwendbar sei.
Zudem sei die Familie von Herrn Trapkowski nach der in Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 987/2009 enthaltenen Fiktion so zu behandeln, als habe sie ihren Wohnsitz in Deutschland. Eine Anspruchskonkurrenz nach Art. 68 der Verordnung Nr. 883/2004 habe im Ausgangsverfahren nicht bestanden, da die Kindesmutter in Polen keinen Anspruch auf Familienleistungen gehabt habe.
Art. 60 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 solle nur den Rechtsverlust einer Person, die einen Mitgliedstaat verlasse, um sich in einen anderen zu begeben, verhindern und nicht den Anspruch einer im Inland lebenden Person begrenzen oder ausschließen.
Die BfA legte gegen die Entscheidung des Finanzgerichts Düsseldorf Revision beim Bundesfinanzhof ein und machte geltend, Personen, für die die Verordnung Nr. 883/2004 gelte, unterlägen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Nach den deutschen Rechtsvorschriften sei Kindergeld an denjenigen zu zahlen, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen habe.
Aus Art. 67 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 in Verbindung mit Art. 60 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 sowie der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebe sich, dass im Ausgangsverfahren die Kindesmutter – und nicht Herr Trapkowski – nach deutschem Recht vorrangig kindergeldberechtigt sei.
Das vorlegende Gericht hebt hervor, dass nach deutschem Recht das Kindergeld nur an einen bestimmbaren Berechtigten gezahlt werde. Es werde an den Elternteil gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen habe, da nach allgemeiner Lebenserfahrung derjenige, der das Kind in seiner Obhut habe, die höchste Unterhaltslast trage. Insoweit stelle sich die Frage, ob die Anwendung des Unionsrechts im Ausgangsverfahren dazu führen könne, dass der Kindergeldanspruch von Herrn Trapkowski entfalle.
Der Umstand, dass die geschiedene Ehefrau von Herrn Trapkowski keinen Anspruch auf polnische Familienleistungen habe, sei für die Frage der Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 883/2004 im Ausgangsverfahren unerheblich. Zudem verlören nach deutschem Recht die Eltern des Kindes im Scheidungsfall nicht die Eigenschaft als Familienangehörige, denen Kindergeld gezahlt werden könne.
Aufgrund der Geltung der Fiktion des Art. 60 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 sei eine Auslegung, nach der die Kindesmutter als kindergeldberechtigt in Betracht komme, weil kraft dieser Fiktion unterstellt werde, dass sie in Deutschland wohne und das Kind in ihrem Haushalt lebe, insbesondere im Hinblick auf Art. 68a der Verordnung Nr. 883/2004 nicht ohne Weiteres auszuschließen.
Falls diese Auslegung zugrunde zu legen sei, stelle sich die Frage, ob Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung Nr. 987/2009 die Anwendbarkeit von § 64 Abs. 2 EStG im Ausgangsverfahren ausschließe, wonach nur der Elternteil, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen habe, kindergeldberechtigt sei, oder ob vielmehr zu unterscheiden sei zwischen der Berechtigung, Kindergeld zu beantragen – diese könne Herrn Trapkowski zustehen –, und dem Anspruch auf den tatsächlichen Bezug des Kindergelds – dieser wäre ausschließlich seiner früheren Ehefrau vorbehalten, da das Kind bei ihr wohne.
Für den Fall schließlich, dass Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung Nr. 987/2009 dahin auszulegen sei, dass die Kindergeldberechtigung auf den im Inland wohnenden Elternteil übergehe, wenn der in einem anderen Mitgliedstaat wohnende erste Leistungsberechtigte keinen Antrag gestellt habe, wirft das vorlegende Gericht die Frage auf, nach welchem Zeitraum von einer unterbliebenen Antragstellung des ersten Berechtigten auszugehen sei.
Unter diesen Umständen hat der Bundesfinanzhof das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist in einem Fall, in dem eine in einem Mitgliedstaat (Inland) lebende Person Anspruch auf Kindergeld für Kinder hat, die in einem anderen Mitgliedstaat (Ausland) beim anderen, von ihm getrennt lebenden Ehegatten wohnen, Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 987/2009 anzuwenden mit der Folge, dass die Fiktion, wonach bei der Anwendung von Art. 67 und 68 der Verordnung Nr. 883/2004 die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen ist, als würden alle Beteiligten – insbesondere was das Recht zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt – unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen, dazu führt, dass der Anspruch auf Kindergeld ausschließlich dem im anderen Mitgliedstaat (Ausland) lebenden Elternteil zusteht, weil das nationale Recht des ersten Mitgliedstaats (Inland) vorsieht, dass bei mehreren Kindergeldberechtigten der Elternteil anspruchsberechtigt ist, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat?
Für den Fall, dass die erste Frage zu bejahen sein sollte:
Ist bei dem unter 1 dargelegten Sachverhalt Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung Nr. 987/2009 dahin auszulegen, dass dem in einem Mitgliedstaat (Inland) lebenden Elternteil der Anspruch auf Kindergeld nach inländischem Recht zusteht, weil der im anderen Mitgliedstaat (Ausland) lebende andere Elternteil keinen Antrag auf Kindergeld gestellt hat?
Für den Fall, dass die zweite Frage bei dem unter 1 dargelegten Sachverhalt dahin zu beantworten sein sollte, dass die unterbliebene Antragstellung des im EU-Ausland lebenden Elternteils zum Übergang des Anspruchs auf Kindergeld auf den im Inland lebenden Elternteil führt:
Nach welchem Zeitraum ist davon auszugehen, dass ein im EU-Ausland lebender Elternteil das Recht auf Kindergeld nicht im Sinne von Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung Nr. 987/2009 „wahrnimmt“ mit der Folge, dass es dem im Inland lebenden Elternteil zusteht?
Zu den Vorlagefragen
Vorbemerkungen
Zur Beantwortung der Vorlagefragen ist zunächst festzustellen, dass eine Person wie Herr Trapkowski, die periodisch in einem Mitgliedstaat, hier der Bundesrepublik Deutschland, erwerbstätig ist und dort auch wohnt, gemäß Art. 2 Abs. 1 und Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 in deren Geltungsbereich fällt.
Im Übrigen ist unstreitig, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Leistung, die die Kosten für den Unterhalt von Kindern verringern soll, unter den Begriff „Familienleistung“ im Sinne der Verordnung Nr. 883/2004 fällt (vgl. Urteile Offermanns, C-85/99, EU:C:2001:166, Rn. 41, und Lachheb, C-177/12, EU:C:2013:689, Rn. 35).
Zudem geht hinsichtlich des Begriffs „Familienangehöriger“ aus Art. 1 Buchst. i Nr. 1 Ziff. i der Verordnung Nr. 883/2004 hervor, dass darunter „jede Person, die in den Rechtsvorschriften, nach denen die Leistungen gewährt werden, als Familienangehöriger bestimmt oder anerkannt oder als Haushaltsangehöriger bezeichnet wird“, zu verstehen ist.
Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass in den deutschen Rechtsvorschriften die Personen, die Anspruch auf Kindergeld haben, bestimmt werden, ohne dass dabei der Begriff „Familienangehöriger“ ausdrücklich definiert wird.
Wie jedoch das vorlegende Gericht darlegt, steht der Anspruch auf Familienleistungen für ein Kind nach deutschem Recht den mit dem Kind im ersten Grad verwandten Eltern zu, gleich ob sie verheiratet sind oder nicht.
Auf dieser Grundlage meint das vorlegende Gericht, das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Kind und seine Mutter seien, was den Anspruch auf Familienleistungen betreffe, als Familienangehörige von Herrn Trapkowski im Sinne des deutschen Rechts anzusehen.
Es ist indessen nicht Sache des Gerichtshofs, eine solche Feststellung, die auf das nationale Recht in der Auslegung durch das nationale Gericht gestützt ist, in Frage zu stellen (vgl. in diesem Sinne Urteil Slanina, C-363/08, EU:C:2009:732, Rn. 27).
Zur Anwendbarkeit der Prioritätsregeln, die in Art. 68 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 für den Fall des Zusammentreffens von Ansprüchen vorgesehen sind, ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs für die Annahme, dass in einem bestimmten Fall eine solche Kumulierung vorliegt, nicht genügt, dass Leistungen in dem Mitgliedstaat, in dem das betreffende Kind wohnt, geschuldet werden und zugleich in einem anderen Mitgliedstaat, in dem ein Elternteil dieses Kindes arbeitet, lediglich potenziell gezahlt werden können (Urteil Schwemmer, C-16/09, EU:C:2010:605, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Folglich finden diese Prioritätsregeln angesichts dessen, dass die Mutter des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kindes in Polen keinen Anspruch auf Familienleistungen hatte, im Ausgangsverfahren keine Anwendung.
Zur ersten Frage
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 987/2009 dahin auszulegen ist, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Fiktion dazu führen könnte, dass der Anspruch auf Familienleistungen einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist.
Zur Beantwortung dieser Frage ist erstens darauf hinzuweisen, dass die in Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 vorgesehene Fiktion zur Folge hat, dass eine Person Anspruch auf Familienleistungen für Familienangehörige, die in einem anderen als dem für die Gewährung dieser Leistungen zuständigen Mitgliedstaat wohnen, so erheben kann, als würden sie in dem zuständigen Mitgliedstaat wohnen.
Zweitens sieht Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 987/2009 vor, dass bei der Anwendung u. a. der Verordnung Nr. 883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Anspruchs auf Familienleistungen anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen ist, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen.
Drittens geht aus Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung Nr. 987/2009 hervor, dass dann, wenn eine Person, die berechtigt ist, Anspruch auf Familienleistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahrnimmt, der „andere Elternteil“ zu den Personen und Institutionen gehört, die einen Antrag auf Gewährung dieser Leistungen stellen können.
Aus Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 in Verbindung mit Art. 60 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 ergibt sich zum einen, dass eine Person Anspruch auf Familienleistungen auch für Familienangehörige erheben kann, die in einem anderen als dem für ihre Gewährung zuständigen Mitgliedstaat wohnen, und zum anderen, dass die Möglichkeit, Familienleistungen zu beantragen, nicht nur den Personen zuerkannt ist, die in dem zu ihrer Gewährung verpflichteten Mitgliedstaat wohnen, sondern auch allen „beteiligten Personen“, die berechtigt sind, Anspruch auf diese Leistungen zu erheben, zu denen die Eltern des Kindes gehören, für das die Leistungen beantragt werden.
Folglich lässt sich, da die Eltern des Kindes, für das die Familienleistungen beantragt werden, unter den Begriff der zur Beantragung dieser Leistung berechtigten „beteiligten Personen“ im Sinne von Art. 60 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 fallen, nicht ausschließen, dass ein Elternteil, der in einem anderen als dem zur Gewährung dieser Leistungen verpflichteten Mitgliedstaat wohnt, diejenige Person ist, die, sofern im Übrigen alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen erfüllt sind, zum Bezug dieser Leistungen berechtigt ist.
Es obliegt jedoch der zuständigen nationalen Behörde, zu bestimmen, welche Personen nach nationalem Recht Anspruch auf Familienleistungen haben.
Nach alledem ist Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 987/2009 dahin auszulegen, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Fiktion dazu führen kann, dass der Anspruch auf Familienleistungen einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist, sofern alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind, was von dem vorlegenden Gericht zu prüfen ist.
Zur zweiten Frage
Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung Nr. 987/2009 dahin auszulegen ist, dass der Anspruch auf Familienleistungen, die für ein Kind gewährt werden, dem Elternteil des Kindes, der in dem für die Gewährung dieser Leistungen zuständigen Mitgliedstaat wohnt, deshalb zuerkannt werden muss, weil der andere Elternteil, der in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, keinen Antrag auf Familienleistungen gestellt hat.
Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Verordnungen Nr. 987/2009 und Nr. 883/2004 nicht bestimmen, welche Personen Anspruch auf Familienleistungen haben, auch wenn sie die Regeln festlegen, nach denen diese Personen bestimmt werden können.
Welche Personen Anspruch auf Familienleistungen haben, bestimmt sich nämlich, wie aus Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 klar hervorgeht, nach dem nationalen Recht.
Zudem sieht Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung Nr. 987/2009 vor, dass dann, wenn eine Person, die berechtigt ist, Anspruch auf Familienleistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahrnimmt, die zuständigen Träger der Mitgliedstaaten die Anträge auf Familienleistungen zu berücksichtigen haben, die von den in dieser Bestimmung genannten Personen oder Institutionen, zu denen der „andere Elternteil“ gehört, gestellt werden.
Erstens geht sowohl aus dem Wortlaut als auch aus der Systematik von Art. 60 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 hervor, dass zwischen der Einreichung eines Antrags auf Familienleistungen und dem Anspruch auf diese Leistungen zu unterscheiden ist.
Zweitens geht aus dem Wortlaut dieses Artikels auch hervor, dass es ausreicht, wenn eine der Personen, die Anspruch auf Familienleistungen erheben kann, einen Antrag auf deren Gewährung stellt, damit der zuständige Träger des Mitgliedstaats verpflichtet ist, diesen Antrag zu berücksichtigen.
Das Unionsrecht hindert diesen Träger jedoch nicht daran, in Anwendung seines nationalen Rechts zu dem Ergebnis zu gelangen, dass der Anspruch auf Familienleistungen für ein Kind einer anderen Person zusteht als der, die den Antrag auf diese Leistungen gestellt hat.
Folglich ist es, sofern alle Voraussetzungen für die Gewährung von Familienleistungen für ein Kind erfüllt sind und diese Leistungen tatsächlich gewährt werden, ohne Bedeutung, welcher Elternteil nach nationalem Recht als diejenige Person gilt, die den Anspruch auf diese Leistungen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil Hoever und Zachow, C-245/94 und C-312/94, EU:C:1996:379, Rn. 37).
Nach alledem ist Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung Nr. 987/2009 dahin auszulegen, dass danach nicht verlangt wird, dass der Anspruch auf Familienleistungen, die für ein Kind gewährt werden, dem Elternteil des Kindes, der in dem für die Gewährung dieser Leistungen zuständigen Mitgliedstaat wohnt, deshalb zuerkannt werden muss, weil der andere Elternteil, der in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, keinen Antrag auf Familienleistungen gestellt hat.
Angesichts der Antwort auf die zweite Frage ist die dritte Frage nicht zu beantworten.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Fiktion dazu führen kann, dass der Anspruch auf Familienleistungen einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist, sofern alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind, was von dem vorlegenden Gericht zu prüfen ist.
Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung Nr. 987/2009 ist dahin auszulegen, dass danach nicht verlangt wird, dass der Anspruch auf Familienleistungen, die für ein Kind gewährt werden, dem Elternteil des Kindes, der in dem für die Gewährung dieser Leistungen zuständigen Mitgliedstaat wohnt, deshalb zuerkannt werden muss, weil der andere Elternteil, der in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, keinen Antrag auf Familienleistungen gestellt hat.
Unterschriften
( *) Verfahrenssprache: Deutsch.
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